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Ein verwegenes Leben und sein jähes Ende

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Nach Verbüßen seiner Gefängnisstrafe arbeitete mein Vater zunächst in der Brikettfabrik in Tröbitz. Unsere Familie wohnte weiterhin in der nun doch sehr beengten Wohnung beim Maurermeister in Buchhain. Zwischen Buchhain und Nexdorf befand sich am Waldrand eine Molkerei, zu der die Milch der umliegenden Dörfer gebracht wurde. Der Leiter dieser Molkerei, ein Bekannter meines Vaters aus Schlieben, stellte ihn nun ausgerechnet als Buchhalter ein, obwohl er niemals wieder in einer solchen Funktion hätte arbeiten dürfen, labil, wie er war. Doch für uns war es ein Glücksfall, denn da er weiter in Schlieben wohnen blieb, konnten wir seine eigentlich für ihn vorgesehene Dienstwohnung in der Molkerei beziehen.

Die Wohnung befand sich über den Betriebsräumen und war sehr geräumig. Sie bestand aus Küche, Bad mit Innentoilette, Stube, zwei Schlafzimmer und einer kleinen Kammer. Dazu gehörte auf jeder Seite ein Garten. Hier hatten wir alle zusammen ordentlich Platz. Zudem erhielt Vater monatlich ein Deputat an Butter, weshalb wir viel Butter aßen, während andere sich mit Margarine begnügen mussten. Dies erweckte bei einigen Dorfbewohnern Neid, und wenn sie morgens mit den gefüllten Alu-Milchkannen aus den Dörfern kamen, klapperten sie nur recht laut, um uns aus den Betten zu scheuchen.

Milch wurde gleich nach dem Melken in Aluminiumkannen abgefüllt und vor den Gehöften abgestellt. Fuhrwerke holten sie ab und brachten sie in die Molkerei. Hier wurden die Kannen geleert und anschließend aus einem Tank mit Molke gefüllt, die ins Schweinefutter kam.

Für uns Kinder, Hermann, Dagmar und ich, bot der nahe Wald einen vorzüglichen Spielplatz und wir verlebten hier glückliche Zeiten.

Mein Vater nahm indes seine alten Gewohnheiten auf und pendelte zwischen den Kneipen in Buchain oder Nexdorf, je nachdem, wo er noch anschreiben lassen konnte. Dass wir mal als Familie mit dem Vater zusammen etwas unternommen haben, daran kann ich mich nicht erinnern.

Unsere Mutter arbeitete seit einigen Jahren im örtlichen Kindergarten, dessen Leiterin sie später sogar wurde. Da Vater für seine Kneipengänge sogar ihr verdientes Geld mit ausgab, entschloss sie sich, ein eigenes Konto anzulegen, damit wenigsten bis zum Monatsende genug Geld für die Familie da war. Das ärgerte nun wieder Vater maßlos, er sorgte sich um seinen „guten Ruf“, darüber, was man über ihn sagte und wie er nach außen dastünde. Es gab großen Streit deswegen, aber Mutter setzte sich durch.

Dann kam, was kommen musste, 1962 kam es erneut zu Unstimmigkeiten bei den Finanzen, die Verrechnung der abgelieferten Milch stimmte nicht. Wieder drohte ein Gerichtsverfahren. – Was auch immer in seinem Kopf vor sich ging, anstatt sich dem zu stellen, nahm sich Vater, wohl weil er keinen anderen Ausweg sah, das Leben.

„Morgens hat er noch Tschüss gesagt“, erzählte meine Mutter, „das hat er sonst nie getan.“ Später fand man ihn im nahegelegenen Wald.

Für uns Kinder war es unfassbar, wir verstanden es nicht, es war ein Schock für uns und ein schwerer Schlag für meine Mutter. Sie musste nun allein mit uns dreien zurechtkommen.

Auch seine eigene Mutter war bitterlich enttäuscht von ihrem Sohn Herrmann. Sie verzieh ihm nicht, dass er „feige seine Frau mit drei Kinder hinterlassen hat“. Meine Mutter erzählte mir, dass sie deshalb nie das Grab meines Vaters auf dem Friedhof in Buchhain besucht habe. Eine sehr unversöhnliche Entscheidung, wie ich finde. Schließlich war es doch ihr Sohn, ihr Nesthäkchen. Aber sie konnte und wollte sein Verhalten nicht entschuldigen und vergessen. Sicher wird sie auch für den Rest ihres Lebens die Frage beschäftigt haben, was sie bei seiner Erziehung bloß falsch gemacht hatte. – Er muss ja doch sehr verzweifelt gewesen sein, dass er sich zu solch einem Schritt gezwungen sah. Auch meine Mutter war völlig ahnungslos, da er nie über seine Probleme mit ihr gesprochen hatte.

Nach Vaters Tod verbrachte ich viel Zeit in Schlieben. Regelmäßig fuhr ich mit dem Fahrrad an den Wochenenden zu seiner Mutter, meine Oma Minna, Tante Hilde und Onkel Kurt. Auch meine Schulferien verbrachte ich oft dort.

Nach Beendigung der Oberschule, als ich meine Lehre bei der Deutschen Seereederei Rostock begann, wurden die Besuche in meiner Heimat seltener. In dieser Zeit, als mein Bruder und ich unser eigenes Leben begannen und in die Lehre gingen, wurde die Wohnung zu groß für meine Mutter und Dagmar. Sie mussten ausziehen. Sie bekamen eine Wohnung im Haus der Grundschule in Nexdorf zugewiesen. Meine Mutter hatte die Arbeit im Kindergarten Buchhain aufgegeben, sie war eben keine gelernte Kindergärtnerin und fühlte sich der zunehmenden Verantwortung bald nicht mehr gewachsen. Sie bewarb sich in der Brikettfabrik in Tröbitz Wildgrube und wurde eingestellt. Hier lernte sie 1975 ihren späteren Mann kennen. Konrad war ein feiner Kerl und wurde für uns Kinder zum Vaterersatz.

Die Molkerei wurde später geschlossen und steht heute auf der Liste der Baudenkmale in Doberlug-Kirchhain.


Die ehemalige Molkerei ist heute ein Wohnhaus

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