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Meine Eltern

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Meine Mutter Irmgard war Jahrgang 1928. Sie kam aus einer Bauernfamilie in Polzen, einem Ort in der Lausitz. Polzen war damals ein kleines Dorf, in dem sich die Bauerhäuser entlang der Hauptstraße aneinanderreihten, eben typisch Lausitz. Mittelpunkt des Dorfes war die Gastwirtschaft „Lindenhof“ mit Tanzsaal.

Der Vater meiner Mutter war kein Großbauer, lebte aber immerhin auf eigener Scholle, welche seine Familie ernährte. Großvater, genannt Peppi, kam aus dem 1. Weltkrieg als Schwerverwundeter zurück. Ein Granatsplitter kostete ihn einen Teil der Nase, an ihrer Stelle befand sich nur noch ein kleiner Stumpf. Meine Großmutter Memmi hielt trotzdem zu ihm und verließ ihn nicht. Sie war eine herzensgute Frau, die leider schon früh verstarb. Ich habe immer besonders ihr selbstgebackenes Brot geliebt, das sie in der eigenen Backstube herstellte, die es früher auf jedem Bauernhof gab. Köstlich, wenn es frisch aus dem Backofen kam, groß und rund wie ein Wagenrad, und dann angeschnitten wurde. Dazu gab es selbstgemachte Leberwurst oder Blutwurst.

Wir Kinder liebten Peppi, wenn er zu Besuch kam, setzte er sich in seinen Sessel, entzündete eine Zigarre und erzählte Geschichten. Später brachte er meinem Bruder und mir das Skatspiel bei und wir klopften bei seinen Besuchen zusammen Skat. Dabei konnte er sich fürchterlich aufregen, wenn einer von uns mal nicht aufpasste, die Trümpfe nicht mitgezählt hatte oder vergessen, dass das Kreuz As noch nicht ausgespielt war. Trotzdem sind mir die Spielnachmittage in guter Erinnerung geblieben, denn es machte einen Heidenspaß mit Peppi.

Am liebsten aber lauschte ich Peppis Geschichten, die meine Cousins schon nicht mehr hören wollten. – Genau wie heute meine Kinder und Enkelkinder, die mit den Augen rollen, wenn Vadders beziehungsweise Opa anfängt, seine Geschichten und ollen Kamellen zu erzählen. – Der Einzige, der Peppi immer zuhörte, war ich. Ich fand es unheimlich spannend, wenn er von seinen Kriegserlebnissen berichtete, wie er als junger Gebirgsjäger dem damaligen sogenannten Erbfeind Frankreich während des 1. Weltkrieges zu Leibe rückte. Peppi erzählte die Geschehnisse engagiert und leidenschaftlich, ganz im Gegensatz zu meinem Vater und später meinem Schwiegervater, die nie erzählten, was sie im Krieg erlebt hatten.

Von ihm und meiner Mutter weiß ich auch, was passierte, als die Russen 1945 im Dorf einrückten und sich als Sieger die ersten ein, zwei Tage so richtig austobten. Sie plünderten, vergewaltigten und drangsalierten. Schließlich wurde es ihnen verboten, wer sich nicht daran hielt, wurde vor Gericht gestellt, im schlimmsten Fall sogar erschossen. – Übrigens verhielten sich nicht nur die Russen so, auch in den amerikanisch, britisch und französisch besetzten Gebieten kam es zu solchen Vorfällen.

Mein Großvater sorgte sich um seine Kinder und versteckte meine Mutter und ihre Schwester vor den Russen unter dem Misthaufen. Dazu hatte er extra einen Verschlag angefertigt, der mit einer Lüftung ausgestattet war. Die Russen sahen nur meine Großmutter und ließen sie in Ruhe. Trotzdem befürchteten Memmi und Peppi, dass die Soldaten ihre Mädels finden würden. Doch das geschah zum Glück nicht.

Großen Kummer hingegen bereitete Peppi, dass sie seine beiden Pferde beschlagnahmten. Sein einziger Trost: Sie ließen dafür eine schlecht genährte, heruntergekommene Fuchsstute zurück. Das erwies sich allerdings später als Glücksfall, nachdem er sie wieder aufgepäppelt hatte. Sie war reinrassig und er konnte ab und an ein Pferdefohlen verkaufen. Außerdem baute er mit ihr sein Gespann wieder auf. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich mit Peppi in den Ferien mit seinem Pferdegespann das Futter für die Tiere holte. Wer damals ein solches Gespann besaß, der galt schon was. Viele spannten noch Kühe und Ochsen als Zugtiere an. –

Die Zeiten waren in vielerlei Hinsicht nicht leicht. So durften etwa Bauern, die Schweine hatten, diese wegen „Gefährdung der allgemeinen Bedarfsdeckung“1 nicht selbst verwerten, sondern mussten sie abliefern. Trotzdem schlachteten die meisten zu Beginn des Winters heimlich ein Schwein, immer mit der Angst im Nacken, dass ein Nachbar sie verriet.

Peppi schärfte mir damals ausdrücklich ein, dass das Denunzieren das Schlimmste sei, was einer machen könne. „Wer denunziert“, sagte er immer wieder, „ist ein Schwein“, was sich tief in mein Gedächtnis einprägte. Später erinnerte ich mich im Literaturunterricht daran, als ich das Zitat von Hoffmann von Fallersleben hörte: „Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.“ – Wie wahr, wie schon Peppi sagte.

* * *

Nach der Gründung der DDR wurde das sogenannte Junkerland an Neubauern verteilt. Diese verfügten aber oft über keinerlei Kenntnisse oder Erfahrungen, um als Bauern zu wirtschaften. So wurden 1952 die ersten LPGs2 gegründet, mit dem Ziel, die Landwirtschaft zu vergesellschaften. Das enttäuschte die Neubauern, die aufgrund der Bodenreform ja gerade erst in den Besitz von Land gekommen waren, bitter. Jetzt sollten sie auf einmal ihr Land wieder abgeben und in die LPG einbringen, á la Kolchose der Sowjetunion? – Aber nicht nur sie sperrten sich gegen den Beitritt, als die Werbekolonnen der SED, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, durch die Dörfer zogen, auch die Altbauern und vor allem die ehemaligen Großbauern lehnten es ab, ihren Grund und Boden in die Genossenschaft einzubringen. Doch letztlich blieb ihnen keine Chance, früher oder später musste jeder zähneknirschend in die LPG Typ I eintreten. Viele der einstigen Großbauern, die ihr Land, was zum Teil über 100 Hektar groß war, abgeben mussten, verließen verbittert die DDR. Sie wurden im Westen für den Verlust entschädigt, was heute gern vergessen wird. Dies konnte aber natürlich in keiner Weise den Verlust der Heimat aufwiegen.

In die LPG Typ I brachten die Bauern zunächst nur ihr Ackerland ein. Beim Typ II kam ihr gesamter Maschinenpark hinzu, zum Schluss wurde mit dem Vieh und den Gebäuden der gesamte landwirtschaftliche Betrieb in die LPG Typ III eingebracht. Die Maschinen wurden anfangs gemeinschaftlich genutzt, erst gab es die MAS, Maschinen-Ausleihstationen, später die MTS, Maschinen-Traktoren-Stationen nach sowjetischem Vorbild.

Vorsitzender der LPG wurde in den meisten Fällen ein Altbauer oder auch ein ehemaliger Großbauer, da man auf ihren Sachverstand nicht verzichten konnte. So wurde auch mein Onkel Paul, der Bruder meiner Mutter, später zum LPG-Vorsitzenden. Er hatte von seinem Vater den Hof übernommen. Peppi zog sich auf den Altenteil des Bauernhauses zurück. Er konnte nicht verwinden, dass er seinen Hof in die LPG hatte einbringen müssen. Schließlich starb er hochbetagt.

* * *

Im Gegensatz zu meiner Mutter kam mein Vater Hermann, Jahrgang 1925, nicht aus der Landwirtschaft. Seine Familie wohnte in Schlieben. Sein Vater war Ofensetzer-Meister. Erinnerungen an ihn habe ich keine, da er schon starb, als ich noch sehr klein war.

Die Mutter meines Vaters diente in jungen Jahren, wie es damals üblich war, in Herrschaftshäusern. Durch Nähen verdiente sie sich sogar später als Rentnerin noch etwas dazu. Mein Vater war das jüngste Kind, er hatte einen Bruder, Helmut, und Schwester Hildegard. Zwei weitere Geschwister waren jung verstorben, Helmut fiel leider schon zu Beginn des II. Weltkrieges in Polen.

Meine Tante Hildegard sagte über meinen Vater, dass er, obwohl er doch eigentlich hochintelligent gewesen sei, nichts daraus gemacht habe. – Vielleicht war er als Jüngster, wie das oft geschieht, zu sehr verhätschelt und verzogen worden? Den größten Einfluss soll die Kriegszeit auf ihn gemacht haben, an deren Ende er in der Kriegsmarine diente. Da war die Devise vieler Soldaten: „Genieße das Leben heute in vollen Zügen, wer weiß, was morgen ist, ob wir den Tag überleben.“


Vater als Soldat bei der Kriegsmarine


Gedenkturm zu Ehren der gefallenen Soldaten des I. und II. Weltkriegs; Vaters Bruder Helmut steht auch drauf

Seeleuten wird oft nachgesagt, sie liebten Wein, Weib und Gesang. Diesbezüglich wäre mein Vater wohl ein großartiger Seemann geworden, denn einem Umtrunk war er nie abgeneigt. Auch das hat ihn sehr geprägt. Als junger Mann sah er gut aus und konnte sehr gut tanzen, was ihm einen riesigen Pluspunkt bei den jungen Mädels einbrachte. – Ich habe mir oft gewünscht, dass ich wenigstens ein bisschen von ihm geerbt hätte. Zum Beispiel das Tanzen, das kann ich bis heute nicht. Auf der anderen Seite, ihr Mädels und Frauen, besteht doch das ganze Leben nicht nur aus Tanzen.

Jedoch war mein Vater nicht nur ein ziemlicher Weiberheld, sondern auch leichtsinnig und nicht sehr willensstark. Selbst seine Schwiegermutter wickelte er geschickt um den Finger, wenn sie zu Besuch war, und schwänzelte um sie herum: Memmi hier, Memmi da …

Für Mutter war das Leben an seiner Seite nicht einfach. Sie erzählte mir einmal, dass er, wenn Memmi mit dem Fahrrad nach Hause fuhr, kaum dass sie seinen Blicken am Horizont entschwunden war, sich seinerseits aufs Rad schwang und ab in Richtung Kneipe fuhr. – Es tut mir wirklich leid, dies über dich, mein lieber Vater, zu erzählen, aber es war eben so. Mutter erkannte dies allerdings erst spät, am Anfang war sie einfach nur verliebt, und 1947, als sich mein Bruder Hermann anmeldete, heirateten die beiden.

* * *

Mein Vater arbeitete bei der Sparkasse in Schlieben. Direkt über der Sparkasse wohnte unsere Familie, die sich 1950 mit meiner Geburt noch vergrößerte. Wir Kinder waren alle Hausgeburten und kamen mithilfe einer Hebamme auf die Welt, auch meine Schwester Dagmar, die 1952 das Licht der Welt erblickte. – Damals wurde nur bei Komplikationen ein Arzt geholt. Meine Mutter war noch jung, als sie uns Kinder in kurzen Abständen entband, und hatte nun also gut zu tun als Hausfrau.

Da sich mein Vater nicht besonders gut mit dem Leiter der Sparkasse verstand, hielt er Ausschau nach einer anderen Arbeitsstelle. Zur damaligen Zeit hatte der Ehemann alle Rechte, während seine Frau ohne seine Genehmigung nicht einmal arbeiten gehen oder ein eigenes Konto eröffnen durfte. – Das wurde in den 60er-Jahren in der DDR im Zuge der Gleichberechtigung von Frau und Mann abgeschafft. In der BRD erst viele Jahre später.

Eines Tages befand mein Vater und sagte es auch zu meiner Mutter, dass wir nach Buchhain umziehen würden. Sie fühlte sich völlig überrumpelt und fragte: „Was wollen wir denn da?“

„In Buchhain ist die Stelle des Leiters der BHG3 zu besetzten, ich habe mich beworben und bin angenommen worden“, erklärte er meiner staunenden Mutter lapidar. – In der BHG konnten Bauern einkaufen und bargeldlos bezahlen: von Saatgut über Gerätschaften und Dünger bis hin zu Kohle für den Winter.

Natürlich hatte mein Vater nicht mit meiner Mutter vorher darüber gesprochen, schon gar nicht gefragt, ob ihr das recht wäre oder sie womöglich andere Vorstellungen habe. Der Mann war eben das Oberhaupt und plante und lenkte die Geschicke der Familie. Seine Entscheidung war gefallen. Also zogen wir um nach Buchhain.

Wir bekamen eine Wohnung, vermutlich eine Dienstwohnung, in einem Einfamilienhaus zugewiesen. Hier wohnte noch eine alleinstehende alte Dame, die wir Kinder und sogar Mutter nur Mama nannten. Sie war meiner Mutter eine große Hilfe und kümmerte sich auch um uns Kinder. Und doch, sagte meine Mutter später oft, dieser Wechsel nach Buchhain habe keinen Segen gebracht.

* * *

Mein Vater hatte nun vor allem wegen der Mangelwirtschaft eine Schlüsselposition inne, in einer BGH war schließlich alles zu haben. Er fand die falschen Freunde, die immer alle nur etwas von ihm wollten. Und der gute Hermann organisierte und arrangierte und besorgte alles, ob legal oder rechtswidrig. So kam es bald zu erheblichen finanziellen Unregelmäßigkeiten, die schließlich in ein Gerichtsverfahren mündeten. Vater wurde verurteilt und kam für ein bis zwei Jahre ins Gefängnis. Mutter hielt weiter zu ihm, doch bis zu seiner Entlassung stand sie ganz allein mit uns drei Kindern da und musste zusehen, wie sie über die Runden kam.

Wir durften die Wohnung nicht behalten und bekamen eine kleine Zwei-Raum-Wohnung in Buchhain zugewiesen. Das Haus gehörte einem Maurermeister, dessen Sohn Peter im gleichen Alter wie ich war. Wir gingen auch zusammen in der örtlichen Grundschule in eine Klasse, so hatte ich wenigstens einen Freund und Schulkameraden gleich in meiner Nähe.


Unsere Familie, der kleine Blondschopf bin ich

1 § 1 Abs. 1 KWVO (Kriegswirtschaftsverordnung) von 1942: „Wer Rohstoffe oder Erzeugnisse, die zum lebenswichtigen Bedarf der Bevölkerung gehören, vernichtet, beiseiteschafft oder zurückhält […] wird mit Zuchthaus oder Gefängnis bestraft. In besonders schweren Fällen kann auf Todesstrafe erkannt werden.“

2 LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft): Zusammenschluss von Bauern und Beschäftigten zur gemeinschaftlichen Agrarproduktion.

3 BHG (Bäuerliche Handelsgesellschaft) war für die Versorgung der Landbevölkerung zuständig.

Familie, Seefahrt und ich

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