Читать книгу Der Augenschneider / Das Liliengrab: Zwei Romane in einem Band - Valentina Berger - Страница 11

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Kapitel 2

Heinz trat von einem Fuß auf den anderen, während er wartete, dass die Eingangstür aufging. Richtig wohl fühlte er sich eigentlich nie, wenn er Emilia aufsuchte. Und immer ertappte er sich dabei, heimlich auf die Uhr zu sehen, als verschwendeten sie nur Zeit miteinander. Heute hatte er immerhin einen Grund, hier zu sein.

Auf der Innenseite der Tür spähte jemand durch den Spion, dann hörte er, wie Emilia am Schloss hantierte. Gleich darauf wurde die Tür aufgerissen. Sie stand einen Augenblick unschlüssig da, mit diesem Morgenmantel, der ihr nicht einmal bis zu den Knien reichte, mit nackten Beinen und Füßen. Aber er würde nicht sagen, dass es ihm unangenehm war, dass sie in seiner Gegenwart fast unbekleidet durch die Gegend lief. Oder dass sie zu dünn war, weil ihre Knie spitz herausstachen und ihre Beine Stelzen ähnelten. Und auch nicht, dass ihn der kalte Zigarettenrauch, der schon im Eingangsbereich zu riechen war, störte. Das alles hatte er schon kritisiert, nichts davon war zu ihr durchgedrungen. Er solle aufhören, sie zu bevormunden. Sie sei erwachsen und ihm keine Rechenschaft schuldig.

Wenn sie sich bloß auch wie eine Erwachsene benehmen würde.

Sie ging einen Schritt zur Seite, um ihm Platz zu machen. Er trat ein und sie warf die Wohnungstür mit Schwung zu.

„Danke“, sagte sie. Erst jetzt blickte sie auf.

Emilia war ebenso groß wie er, sodass sich ihre Augen auf gleicher Höhe trafen. Das irritierte ihn jedes Mal aufs Neue – und dass ihr Äußeres so wenig mit ihrem Inneren übereinstimmte. Emma, wie er sie nannte, war sechzehn Jahre jünger als er. Manchmal kam sie ihm vor wie ein großes Kind. Heinz folgte ihr ins Wohnzimmer und bemerkte missbilligend den unordentlichen Kleiderhaufen, die leere Rotweinflasche auf dem Tisch und die zerknüllten Taschentücher mit den schwarzen Flecken.

Emilia setzte sich auf einen Berg aus Polstern, schlug ihre Beine unter und nahm ein Kissen, das sie an ihren Oberkörper gepresst umschlungen hielt. Heinz überlegte, ob er den Kleiderhügel auf dem Sessel auf den Fußboden legen sollte. Dann schob er ihn aber nur ein Stück nach hinten und setzte sich. Beide Ellbogen auf seine Oberschenkel gestützt, begann er: „Also, was ist passiert?“

Emilia fischte eine Zigarette aus der Packung neben der Rotweinflasche, ließ das Feuerzeug aufschnappen, sog tief den Rauch ein, bevor sie zu reden begann: „Vor vier Wochen hatten wir einen Fototermin. Werbung für Make-up. Da hab ich Vivian das letzte Mal gesehen. Wir wurden nicht fertig und wollten am nächsten Tag weitermachen, doch Vivi glänzte durch Abwesenheit. Wir riefen sie alle zehn Minuten an. Sie meldete sich einfach nicht. Der Fotograf war stinksauer, der Produzent tobte. Sie mussten einen Ersatz für sie finden und noch einmal von vorne beginnen. Eine Woche darauf fand man ihre Leiche.“ Emilia schluckte und der Rauch aus ihrer Zigarette stieg in einer schmalen Säule empor, während sie den Rest Wein aus dem Glas trank.

Heinz presste die Lippen aufeinander, weil er nichts dazu sagen wollte. Immerhin war es erst Mittag.

„Ich hab in den Nachrichten davon gehört und ihre Bilder in den Zeitungen gesehen. Ich hätte sie fast nicht mehr erkannt“, flüsterte Emilia.

„Wart ihr befreundet?“

Emilia nickte. „Wir sind uns öfter über den Weg gelaufen, haben uns bei Events getroffen. Es war nicht so eine Freundschaft, wie man es während der Schulzeit hat, wenn man sich täglich trifft, alle Geheimnisse miteinander teilt – so etwas gibt es unter uns Mädels nicht, dafür ist der Konkurrenzkampf zu groß –, aber doch, unter anderen Umständen wären wir wohl Freunde gewesen.“

Heinz spürte das erste Mal, wie einsam Emma sich fühlen musste und betrachtete den überquellenden Aschenbecher und die leere Weinflasche mit milderem Blick. Auch sein Ton war etwas weicher, als er fragte: „Und was ist mit der anderen?“

Emilia drückte die Zigarette aus, griff erneut zur Packung und wiederholte ihr Ritual. „Luisa ist verschwunden. Letzte Woche waren wir auf einer Modenschau. Nach dem Laufsteg war Partytime. Sie war bloß eine halbe Stunde dort. Keiner hat sie danach gesehen. Wir hätten gestern ein gemeinsames Shooting für einen Unterwäschekatalog gehabt. Sie hätte so ein Angebot niemals ohne triftigen Grund ausgeschlagen. Ich spüre, dass ihr etwas passiert ist.“

Heinz schwieg und dachte nach. „Hast du ein Foto von ihr?“

„Von Luisa? Klar, irgendwo.”

„Dann such es.“

Emilia schaute ihn ängstlich an, erhob sich wortlos und ging in das angrenzende Schlafzimmer, um Heinz’ Aufforderung nachzukommen.

Heinz hatte nun Zeit, den Raum auf sich wirken zu lassen. Er war schon ein paar Mal hier gewesen. Trotzdem betrachtete er alles in einem anderen Licht, fast so, als sähe er das Zimmer zum ersten Mal. Widerwillig musste er feststellen, dass die Abwesenheit seiner Schwester es plötzlich leer wirken ließ. Seine Augen wanderten die Wände entlang, wo bunte, abstrakte Gemälde hingen. Fröhliche, kräftige Farben. Keine Drucke sondern Originale von noch unbekannten Künstlern. Emilia bewegte sich in diesen Kreisen, kannte Maler, Musiker, Schriftsteller. Nicht gerade ein solider Umgang, aber das tat nichts zur Sache. Sie hatte ohnehin noch nie auf ihn gehört, gab vor, ihn zu brauchen, auf seinen Rat angewiesen zu sein und doch war es nur sein Geld, das sie tatsächlich benötigte. Seine Schecks nahm sie ohne Widerspruch, ja ohne besondere Dankbarkeit entgegen, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, vom älteren Bruder unterstützt zu werden. In allen anderen Dingen tat sie das Gegenteil von dem, was er sagte, und das mit einer Konsequenz, die geradezu bewundernswert war.

Heinz musste sich eingestehen, dass ihm die Gemälde gefielen. Besser, als die Schwarz-Weiß-Fotografien, die seine Wohnzimmerwände zierten.

Er musterte die Bücher in dem Regal. Viele sahen aus, als wären sie tatsächlich gelesen worden. Dabei handelte sich um richtige Bücher und nicht um Hochglanzmagazine, in denen es um Mode, Schmuck und Lifestyle ging. Bis heute hatte er sich nie die Zeit genommen, alles bewusst einzuprägen. Er hatte sich geweigert, seine Schwester tatsächlich kennenzulernen, sich Gedanken über ihre Vorlieben und Abneigungen zu machen, mit ihr allzu vertraut zu werden. Das erste Mal seit ihrer Geburt spürte er einen Anflug des Bedauerns darüber aufsteigen.

Emma trat mit einigen Fotografien in der Hand ins Zimmer. In ihren Augen schimmerte es feucht, als sie ihm die Bilder reichte. Heinz betrachtete eines nach dem anderen. Er starrte lange auf jedes einzelne, versuchte Details zu erkennen, blätterte sie immer wieder durch.

Schließlich räusperte er sich, bevor er fragte: „Kann ich die mitnehmen?“ Emilias Augen wurden noch eine Spur feuchter. „Sie ist tot, nicht wahr?“ Heinz räusperte sich noch einmal. Trotzdem konnte er nur mit den Schultern zucken, weil seine Stimme versagte.

Er wollte sie beschwichtigen, sie mit einer banalen Antwort abspeisen, sie mit der Wahrheit nicht belasten. Was wusste sie schon vom realen Leben, vom Sterben und vom Tod?

Emilia presste sich eine Hand auf ihren Mund. Nach einer Weile flüsterte sie:

„Was geht hier vor, Heinz?“

Er vermied es, sie anzusehen. „Ich weiß nicht. Vielleicht ist sie es gar nicht.“

„Ihr habt sie also gefunden?“

Ihre Stimme klang weder hysterisch noch verrückt. Im Gegenteil. Heinz hatte sie noch nie so gefasst erlebt und seltsamerweise beunruhigte ihn das mehr als er zugeben wollte.

„Du packst ein paar Sachen und kommst mit zu mir“, bestimmte er. Der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf Emilias Gesicht, doch es war ein trauriges Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte.

„Das wird nicht gut gehen. Es nervt dich schon, dass es mich gibt. Wie willst du dann Tag für Tag meine Anwesenheit ertragen?“

Schlechtes Gewissen wallte in Heinz auf. Sie hatte mit ihrer Bemerkung ins Schwarze getroffen. Trotzdem sagte er: „Ich werde mein Angebot bestimmt nicht wiederholen. Keine Extrawürste mehr. Du sagst alle Termine ab, verkriechst dich in meiner Wohnung und wartest, bis wir den Täter haben.“

„Und was glaubst du, wie lange das dauert? Wochen? Monate? Ich kann nicht alles aufgeben. In den nächsten Wochen habe ich zwei Modenschauen. Das ist mein Job, damit verdiene ich mein Geld.“

Um es für Wein und Extravaganzen auszugeben, dachte Heinz bitter. Kein Wunder, dass sie mit ihrem Verdienst nicht über die Runden kam, bei dem, was sie für Kleidung, Make-up und Schuhe ausgab. Dennoch war es jetzt der falsche Zeitpunkt, mit ihr deswegen einen Streit anzufangen.

„Geld ist nicht das Problem.“

„Für mich schon. Ich will auf eigenen Füßen stehen und weder auf dich noch auf Vater angewiesen sein. Jetzt bin ich drauf und dran, bekannt zu werden. Ich hab es fast geschafft. Ich kann nicht einfach für ein paar Monate in der Versenkung verschwinden. Nie wieder hätte ich eine Chance, dorthin zu gelangen, wo ich jetzt bin.“

Verdammt, wo war die schluchzende Emma, die ihn vor zwei Stunden angerufen hatte, die er zu treffen erwartet hatte? Die vor lauter Angst auf ihn gehört hätte, wenigstens einmal in ihrem Leben.

Warum klang sie so vernünftig? So plausibel? Gar nicht kindlich. Konnte es sein, dass er sie in all den Jahren falsch eingeschätzt hatte? Er nickte. Ob zu ihren Ausführungen oder zu seinen Gedanken war ihm selbst nicht ganz klar. Dennoch wollte er nicht einfach klein beigeben.

„Warum hast du mich dann überhaupt herbestellt? Wenn du eh nicht tust, was ich dir sage?“, wollte er wissen.

„Damit jemand Bescheid weiß, falls mir auch etwas passiert. Und vielleicht, um meine Angst mit jemandem zu teilen.“

„Willst du nicht doch ...?“

„Nein, das hatten wir schon. Danke, dass du gekommen bist.“

Sie vereinbarten, dass Emilia täglich morgens und abends bei ihm anrufen würde.

„Versprich mir, dass du den Kerl kriegst“, forderte sie ihn beim Abschied auf.

„Dafür bin ich nicht zuständig.“ Doch als er die Enttäuschung in ihrem Gesicht sah, fügte er hinzu: „Ich werde alles daran setzen, dass sich der beste Ermittler mit diesen Fällen beschäftigt.“

Als er in sein Auto stieg, überlegte er, wie er Helmut Wagner dazu bewegen konnte, seinen Urlaub zu unterbrechen und nach Wien zurückzukehren. Er sah auf seine Uhr. Gerade Mittag vorbei. Wenn er Wagner jetzt anrief, würde er ihn beim Essen stören. Heinz musste unwillkürlich lächeln. Wie in alten Zeiten. Wie oft hatte Wagner schon sein halb fertiges Essen auf dem Herd stehen lassen müssen? Wie oft hatte er sein Mittagessen unterbrochen, weil er zu einem Tatort gerufen worden war? Aber Heinz hatte Emilia sein Wort gegeben und er wollte es halten. Auch wenn Wagner dafür auf sein Schnitzel verzichten musste.

„Schatz, gehst du ans Telefon?“

Wagner hörte, wie Sonja barfuß aus dem Badezimmer in die Diele lief und sich meldete: „Kellermann“. Dann einige Sekunden Stille. Wieder Sonja: „Heinz, wie schön! Sicher!“ Und eine Spur höher: „Für dich!“

Wagner drehte die Herdplatte ab und schob zur Sicherheit die noch brutzelnde Pfanne nach hinten.

„Ich mach hier weiter, geh nur“, sagte Sonja, die in die Küche gekommen war.

„Du solltest dir wenigstens eine Schürze umbinden“, beschied Wagner, bevor er sich nach einem langen, genüsslichen Blick auf Sonjas nackten Po umdrehte. In der Diele nahm er den Telefonhörer und stellte sich in die Ecke zwischen Wand und Sicherungskasten. Die Telefonschnur war zum Zerreißen gespannt, aber von dort aus hatte er einen guten Blick in die Küche.

„Servus! Du störst wieder einmal beim Essen. Na ja, fast.“

Heinz vertraute Stimme sagte: „Das tut mir ehrlich leid, aber du musst wieder nach Wien kommen. Ich habe hier ein gröberes Problem, um es milde auszudrücken ...“

Das Kotelett wollte Wagner nicht so recht schmecken.

„Was ist mit dir?“, fragte Sonja, die in der Zwischenzeit immerhin einen Slip und ein T-Shirt angezogen hatte.

„Ich muss nach Wien“, gab Helmut nachdenklich zurück. Sonja schnitt ein Stück Fleisch ab und spießte es auf ihre Gabel. „Warum? Mit Heinz ist doch alles in Ordnung, oder?“

„Ja, ja“, beeilte er sich zu versichern. Heinz war nicht nur sein, sondern inzwischen auch Sonjas Freund, „aber er braucht mich, hat er gesagt.“

Sonja legte die Gabel auf ihren Teller, schob ihren Sessel nach hinten, stand auf und ging um den Tisch herum, um sich auf Wagners Schoß zu setzen. Sie legte ihre Arme um seinen Nacken und schmiegte sich eng an ihn. „Nun, ich brauch dich auch“, sagte sie, während sie jedes einzelne ihrer Worte mit einem Kuss auf seine Lippen betonte.

Sanft löste er sich aus ihrer Umarmung. „Er sagt, es geht um einen Serienmord.“

„Na und? Du hast Urlaub. Und außerdem ist da noch – wie heißt er gleich?“

„Moser.“

„Ja, der. Soll er das machen.“

Wagner seufzte. „Du weißt doch, wie Heinz ist: Wenn er zugibt, dass er Hilfe braucht, dann brennt’s wirklich. Und Moser ist mit so einer Sache überfordert. Er ist neu.“

„Wann willst du fahren?“ Sonjas Stimme war merklich kühler geworden.

„Gleich morgen.“

Sonja stand auf und ging zu ihrem Platz zurück. Sie steckte sich das mittlerweile kalt gewordene Stück Fleisch in den Mund. Wagner hatte das Gefühl, sie kaute besonders lang, um nichts sagen zu müssen. Er hasste es, wenn sie schwieg. Schließlich hatte sie den Bissen hinuntergeschluckt, trank und musterte ihn länger als ihm lieb war.

„Was ist mit dem Chaos hier? Die Kisten, die ausgepackt werden müssen? Das bleibt alles an mir hängen?“

Gefährliche Frage, die im Grunde keine war, sondern eine Feststellung.

„Ich brauch nicht lang. Ein paar Tage bloß, bis sich Moser in den Fall eingearbeitet hat.“

Sonja kniff die Lippen zusammen. Dann beugte sie sich vor und fixierte ihn: „Du wirst doch wieder zurückkommen?“

„Natürlich, was für eine Frage.“

„Ich dachte bloß. Ich weiß, dass dir die Entscheidung, nach Innsbruck zu ziehen, nicht leicht fällt.“

„Niemand zwingt mich dazu. Wir wollen zusammen sein, eine Fernbeziehung würde auf Dauer nicht klappen.“

„Und wenn das mit der Nahbeziehung nicht klappt, hast du immer noch deine Wohnung.“

„Fang jetzt nicht wieder damit an, Sonja. Du weißt, warum ich sie nicht verkaufen will.“

Sie seufzte, lehnte sich zurück und Wagner wusste, dass er gewonnen hatte.

„Ich meine nur, es ist gut, dass du sie noch hast. Da brauchst du Heinz nicht mit deiner Schnarcherei zu belästigen.“

„Ich schnarche nicht.“

„Doch, und wie. Darum achte ich auch so darauf, dass du nicht zu viel schläfst.“

„Ich schnarche nur, wenn ich permanent übermüdet bin.“

Sonja stand wieder von ihrem Sessel auf und kam zu ihm. Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn hoch. „Vielleicht sollten wir dann ganz zeitig zu Bett gehen.“ Helmut ließ sich widerstandslos abführen. Wenigstens gab es beim Sex keine Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen.

Christian Salzbrunner war ein Jäger. Er lauerte seiner Beute auf, beobachtete sie, und wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war, schlug er zu. Alles kam auf den richtigen Zeitpunkt an – und auf eine umfassende Vorbereitung.

Nachdem er den halben Nachmittag damit verbracht hatte, den Keller zu säubern, durfte er sich etwas gönnen. Emilia Martin zählte zu den angenehmen Dingen seines Lebens. Er war ihr schon seit Tagen auf den Fersen, wollte wissen was sie tat, wohin sie ging, mit wem sie sich traf. Er bewunderte ihren Gang. Sie ging nicht, sie schritt wie eine Königin. Er liebte ihr Lachen, das sie leider viel zu selten erklingen ließ, er hasste ihre Zigaretten, die sie sich nacheinander anzündete, als wären sie der einzige Halt, den sie hatte. Bald würde sie mit dem Rauchen aufhören. Er würde dafür sorgen.

Nun hielt er sich hinter Bäumen versteckt. Schade, es war noch nicht finster genug, sie hatte noch kein Licht angemacht. Sie zog ihre Vorhänge nie zu, als wolle sie sich aller Welt präsentieren.

Auf seinem Posten konnte er sehen, wie sie umherging, mit etwas bekleidet, das mehr von ihrem Körper zeigte, als es verbarg. Er war zu weit weg, um ihr Gesicht genau zu erkennen. Vielleicht sollte er näher zum Fenster gehen. Nein, sie könnte ihn entdecken. Er würde warten müssen, nur noch ein paar Stunden. Dann konnte er sie ansehen, so lange er wollte. Sie wäre sein.

Emilia war ans Fenster getreten und blickte genau in seine Richtung. Ahnte sie, dass er hier draußen war? Christian rückte tiefer in den Schatten des Baumes.

Da griff sie nach den Gardinen und zog sie mit einem Ruck zu.

Er kam zu dem Schluss, dass sie einfach vorsichtig wurde. Seine Taten sprachen sich herum. Eigentlich ein Grund, um stolz auf sich zu sein, aber Stolz war eine Sünde, hatte ihm seine Mutter beigebracht.

Emilia tat gut daran, wachsamer zu sein, ohne Zweifel. Doch das würde ihr nichts nützen. Er hatte noch nie eine Beute aus seinen Fängen gelassen, nachdem er sie aufgespürt hatte. Und diese war perfekt. Sie war wie geschaffen für die Aufgabe, die er ihr zugedacht hatte. Er hätte sich viel Zeit, Ärger, und vor allem jede Menge Putzmittel erspart, das er benötigt hatte um die Sauerei, die jedes Mal entstanden war, zu beseitigen, wenn er sie gleich gefunden hätte. Aber auf Emilia war er erst durch Luisa aufmerksam geworden, nachdem er ein Foto in ihrer Tasche gefunden hatte. Die beiden Frauen auf einem Werbefoto für Lidschatten, wie passend. Auf der Rückseite standen in einer runden, fast kindlichen Handschrift die Namen der beiden Freundinnen. Und er hatte sofort gewusst, dass er sie haben musste. Emilia. Er sprach den Namen leise aus, schmeckte ihren Klang.

Sie war Jana so ähnlich. Ihre Augen hatten ihn in den Bann gezogen. Seine Gebete waren endlich erhört worden. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen verließ er sein Versteck. Ja, Emilia war genau die Richtige.

Der Augenschneider / Das Liliengrab: Zwei Romane in einem Band

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