Читать книгу Der Augenschneider / Das Liliengrab: Zwei Romane in einem Band - Valentina Berger - Страница 18
ОглавлениеKapitel 9
Christian Salzbrunner lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte zufrieden die Arme hinter dem Kopf. Er hatte einen perfekten Plan ausgeklügelt. Allzu einfach sollte es Heinz Martin nicht haben. Schließlich wollte er den ganzen Spaß auskosten, und wenn Martin diese Aufgabe vorschnell löste, wäre es vorbei. Wäre das Rätsel hingegen zu schwierig, würde sein Widersacher niemals auf ihn kommen. Emilia hatte ihm eine Menge Arbeit erspart, indem sie verraten hatte, dass Heinz Martin ihr Bruder war. Er hatte es verdient zu leiden, Schmerz und Schuldgefühle zu empfinden, das gleiche durchzumachen wie er selbst. Na ja, nicht ganz. Schließlich müsste sich Heinz Martin wenigstens nachher nicht um eine blinde Schwester kümmern, so wie er es tat. Dafür wäre Emilia tot. Christian kicherte. Wie passend: Auge um Auge, Schwester um Schwester.
Hoffentlich würde es mit Emilia keine Probleme geben. Er hatte noch nie eine Frau so lange festgehalten. Sie hatte schon eine zweite Dosis Scopolamin erhalten. Damit war sie vorerst ruhiggestellt, aber er konnte sie nicht ständig unter Drogen setzen.
Egal, wenn alles so lief, wie er es sich vorstellte, benötigte er bloß ein paar Tage länger als sonst, bis er sich Emilia gebührend widmen konnte.
Seine Mutter mischte sich ein: „Die Rache gehört dem Herrn!“ Aber Christian ignorierte sie. Schließlich hatte er sich auch mal ein wenig Spaß verdient. Er stand von seinem Sessel auf, streckte sich und seufzte. Freudig rieb er sich die Hände. Jetzt musste er über Theodors Aussehen nachdenken. Heinz Martin würde etwas zu Kauen bekommen. Ein bisschen kam er sich vor, wie das Rumpelstilzchen.
„Du weißt aber doch, was mit Rumpelstilzchen passiert ist?“, wandte seine Mutter ein. Sie hatte sich noch nie gern den Mund verbieten lassen und nun klang sie etwas beleidigt. Klar kannte er Rumpelstilzchen. Aber ganz ohne Risiko ging es nicht. Außerdem war diese Sache, diese einzige Sache, allein seine Angelegenheit. Solange sie nicht geklärt war, würde er nicht zur Ruhe kommen. Ein gutes Argument. Selbst seine Mutter wusste darauf nichts mehr zu sagen.
Emilia floh. Sie rannte. Sie hatte sich im Dunkeln noch nie gefürchtet. Die Dunkelheit war ihr Freund gewesen. Bis jetzt.
Grausame Kreaturen jagten sie. Wollten sie mit ihren Klauen greifen, packen. Schatten flogen an ihr vorüber.
Gehetzt sah sie sich um. Wohin? Es gab für sie keinen Ausweg. Kein Entkommen aus der Finsternis, wo die Monster sie verfolgten, wie ein Wolfsrudel die Beute.
Luft. Sie brauchte Luft. Doch die Schwärze war dick und zäh. Wie sollte sie da atmen? Ihre Brust drohte zu zerspringen. Ihr Herz pochte so heftig, dass es weh tat. Und dann, mitten in dem Schmerz, sah sie einen Lichtpunkt. Winzig und kaum wahrnehmbar. Ein Funken Hoffnung. Dort wäre sie in Sicherheit. Dort würde ihr nichts geschehen. All die finsteren Gestalten würden ihr nichts anhaben können.
Sie musste laufen. Schneller. Noch schneller. Schatten rasten neben ihr her. Der Brustkorb hob und senkte sich im Rhythmus ihrer Schritte. Jeder war eine Qual. Beim Einatmen musste sie gegen einen zentnerschweren Stein ankommen, der ihre Brust niederdrückte. Dennoch lief und lief sie. Die Gestalten waren hinter ihr, berührten sie fast. In ihrem Inneren formte sich ein Schrei. Wieso kam sie dem Licht nicht näher. Warum wurde es nicht heller, größer? Keine Zeit, darüber nachzudenken. Weiter!
Da hatte eines der Monster sie erreicht, streifte mit eisigen Klauen ihren Rücken entlang. Emilia erzitterte. Wo die Krallen an ihrem Körper angekommen waren, brannte es wie Feuer. Ihre Haut juckte. Schlimmer als Nesseln, schlimmer als giftige Quallen. Das Beißen breitete sich aus, erfasste ihren ganzen Körper. Sie wollte sich kratzen, doch die Hände gehorchten ihr nicht. Emilia schaute unwillig an sich hinunter. Dafür musste sie für einen kurzen Moment den Lichtpunkt aus ihrem Blick lassen. Ihren einzigen Halt aufgeben. Ihr Schrei verließ als dumpfes Grummeln ihre Kehle, nicht aber ihren Mund. Sie hatte keinen. Sie hatte auch keine Hände, mit denen sie sich kratzen und keine Beine, mit denen sie laufen konnte. Die dunklen Gestalten blieben hinter ihr stehen, als warteten sie. Da wurde ihr klar, dass die Monster auf ihre Bewegung reagierten. Sie harrten und lauerten auf ihre nächste Regung. Sehnsuchtsvoll schaute sie zu dem hellen Licht. Wie sollte sie es jemals erreichen? Jeder noch so kleine Schritt würde ihre Verfolger auf sie aufmerksam machen. Wenn sie genau da blieb, wo sie jetzt war, dann würden sie sich ebenfalls nicht von der Stelle rühren.
Wenigstens würden sie ihr solange nichts tun. Vielleicht verschwanden sie ja auch, wenn sie lange genug warten würde, wenn sie ganz leise wäre, wenn sie aufhörte zu atmen, wenn sie sich einfach auflöste in dem Schwarz.
Sie war gefangen. Nicht vor und nicht zurück, nicht leben und nicht sterben. Sehnsüchtig blickte sie auf den Lichtpunkt, der kleiner und kleiner wurde und schließlich ganz verschwand. Der Tod war hell. Von dort kam das Licht. Der Weg in eine andere Welt war ihr genommen worden. Jetzt musste sie sich mit dem Leben abfinden – und mit den Monstern, die ihr auf den Fersen waren.
Heinz wurde immer wunderlicher. Wagner musste sich zusammenreißen, um ihn nicht zu schütteln. Sie arbeiteten schon lange zusammen und hatten unzählige Mordfälle miteinander gelöst. Verdammt, Heinz wusste doch, wie der Hase lief. Warum war er dann so zögerlich, so mimosenhaft?
Und wenn es Sonja wäre? Was, wenn ein Killer Sonja in seiner Gewalt hätte? Wärest du dann fähig, klar zu denken? Würdest du nicht ebenso hoffen und bangen zugleich, würdest drohen verrückt werden? Irrational?
Von dieser Warte aus betrachtet, war Heinz sogar äußerst gefasst.
In den Nachttischschubladen war nichts Nennenswertes. Ein paar Kondome, eine Packung Taschentücher, einige gebraucht, zusammengeknüllt und achtlos hineingeworfen. Emilia hatte wohl häufiger Magenbeschwerden gehabt. Eine angebrochene Medikamentenverpackung mit Tabletten gegen Sodbrennen lag ebenfalls in der Schublade. Mehr als die Hälfte war schon verbraucht.
„Sag mal, hat Emilia Magentabletten genommen?“
Heinz zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung.“ Er ließ sich auf das Bett plumpsen. Dort wo er saß, entstand eine Mulde in der Matratze.
Heinz fuhr sich mit beiden Händen durchs schüttere Haar. Er murmelte noch einmal: „Ich habe keine Ahnung. Ich weiß es nicht. Ich weiß einfach nichts von ihr.“
Was sollte Wagner darauf antworten? Dass es vielleicht sogar besser war, sonst wäre die ganze Situation noch unerträglicher? Doch diese Gedanken äußerte er nicht. Stattdessen meinte er: „Noch ist ja nicht aller Tage Abend.“ Was hätte er sonst sagen sollen?
Heinz war aufgestanden und nahm das Buch von Emilias Nachttisch. „Schuld und Sühne“, Fjodor Dostojewski.
Er schlug es dort auf, wo Emilia die Seite umgeknickt hatte. „Ich hielt sie immer für oberflächlich. Und dann liest sie das hier.“
Er schlug das Buch wieder zu und legte es an seinen Platz, nahm den Bilderrahmen in die Hand. Wortlos musterte er das Foto, das darin zu sehen war. Wagner stellte sich neben Heinz, um das Bild ebenfalls betrachten zu können.
„Das ist Emilia?“
Heinz schaute ihn irritiert an und nickte. „Warum?“
„Weil ich sie schon mal gesehen habe.“
„Das kann sein. Schließlich macht sie Werbung.“
Wagner schüttelte den Kopf. Nein, er kannte dieses Gesicht weder vom Fernsehen noch von Plakaten. Oder etwa doch? Woher bloß war es ihm bekannt? Es konnte noch nicht lange her sein. Er schloss die Augen, damit er das Bild aus seinem Gedächtnis mit dem Foto vergleichen konnte. Die Lösung lag ganz nah. Fast in Reichweite, doch jedes Mal, wenn er meinte, sie fassen zu können, entschwand sie ihm.
„Das nehmen wir mit“, beschied er.
Heinz starrte ihn an.
„Herr Gott, jetzt schau doch nicht so! Noch ist diese Wohnung kein Tatort.“ Widerwillig überließ Heinz ihm das Foto. Wagner steckte es samt Rahmen in seine Gesäßtasche. Hoffentlich vergaß er es nicht. Es gab bestimmt Lustigeres, als sich tausend Scherben aus dem Hintern klauben zu lassen, weil beim Hinsetzen das Glas kaputt gegangen war.
Zwei Stunden später, auf dem Weg zurück ins Revier, hatten sie neben dem Foto auch noch Emilias Terminplaner mitgenommen.
Mittlerweile war Helmut Wagner der festen Überzeugung, dass er Emilia nicht von Werbeplakaten kannte. Nur woher dann?
Moser hatte sich am Telefon den Mund fusselig geredet und den Staatsanwalt überzeugen können, einen entsprechenden Antrag zur Ortung von Luisa Peers Handy dem Richter vorzulegen. Na bitte, es ging doch. Und das zur Mittagszeit! Jetzt hieß es allerdings Warten und noch einmal Warten. Nicht gerade seine Lieblingsbeschäftigung. Er nahm die Fotos vom Tatort zur Hand, die er schon so oft betrachtet hatte, dass sie ihn nicht einmal mehr schockierten. Moser schaltete seinen Computer ein, ging ins Internet und suchte nach Peer. Es musste Verwandte geben. Komisch, dass niemand Luisa als vermisst gemeldet hatte. Entweder hatte sie keinen Kontakt zu ihrer Familie gepflegt oder die war es gewohnt, längere Zeit nichts von ihr zu hören. Beides fand er traurig. Wie wäre es wohl, wenn Kerstin, seine Tochter, erwachsen hätte werden dürfen? Wenn sie nicht viel zu früh gestorben wäre, gewaltsam herausgerissen aus ihrem jungen Leben. Sie war erst acht gewesen. Eltern sollten ihre Kinder nicht begraben müssen. Das widersprach dem Gesetz der Natur. Aber Mörder hielten sich nicht an Gesetze. Kerstins Mörder hatte ihr nach der Schule aufgelauert, war ihr auf dem Heimweg gefolgt und hatte sie, kurz bevor sie die schützende elterliche Wohnung erreicht hatte, entführt.
Manuela rief ihn aufgeregt an, als Kerstin nicht zu der üblichen Zeit nach Hause gekommen war. Natürlich machte sie sich Sorgen, aber noch stand die Empörung über Kerstins gedankenloses Verhalten im Vordergrund. Bestimmt war sie mit zu Freundinnen gegangen, ohne zu fragen, oder sie hatte einen Abstecher zum Spielplatz gemacht. Kinder taten solche Dinge. Sie bedachten nicht, was für Ängste sie damit bei ihren Eltern auslösten.
Er riet seiner Frau, Kerstins Freunde zu kontaktieren. Er selbst steckte mitten in einer schwierigen Mordermittlung, trotzdem fuhr er extra einen Umweg, um am Spielplatz vorbeizusehen. Dort war sie nicht. Außer zwei Jugendliche, die mit Zigaretten auf den Schaukeln saßen und keinerlei Anstalten machten, sie auszudrücken, hielt sich niemand auf dem Platz auf.
Sein erster Impuls war, die Teenies zurechtzuweisen. Aber dann entschied er sich dagegen. Schließlich brauchte er eine Auskunft.
Ob sie ein kleines Mädchen gesehen hätten, fragte er die Jugendlichen. Die beiden Kids sahen ihn an, als hätte er nach dem Weg zum Mond gefragt. Dann, als sie die Dringlichkeit in seiner Stimme erkannten, schüttelte einer von den beiden den Kopf.
Moser kehrte zu seinem Auto zurück und überlegte, ob sie Kerstin in Zukunft unbeaufsichtigt auf den Spielplatz lassen konnten. Die Gesellschaft hier schien ihm nicht besonders vertrauenserweckend. Was, wenn es mehr von diesen Jugendlichen gab, die den Kleineren allerhand Blödsinn zeigten? Oder noch schlimmere Typen?
Er hatte sich tatsächlich Sorgen gemacht, dass seine Tochter das Rauchen probieren könnte. Wie lächerlich ihm das jetzt vorkam.
Sie war bei keiner ihrer Freundinnen, keine wusste etwas. Sie sei nach der Schule nach Hause gegangen, wie immer. Manuela war nun nicht mehr empört, sie war hysterisch. Er ging an diesem Tag nicht zum Dienst, und auch am nächsten und übernächsten Tag nicht. Er mobilisierte alle Kollegen. Sie halfen bei der Suche. Freiwillig, außerhalb ihrer Dienstzeiten. Zwei Nächte schliefen er und seine Frau nicht. In dieser Zeit gingen sie durch die Hölle und meinten, es könne in ihrem Leben nichts Schlimmeres geschehen. Sie täuschten sich. Das Schlimmste stand ihnen noch bevor: der Anruf, dass sie Kerstin gefunden hätten. Zuerst ein Hoffnungsschimmer, dann die Wucht der Realität. Sie hatten nicht Kerstin, sondern ihre Leiche gefunden, in einem Waldstück bei Pressbaum. Verscharrt und der Verwesung preisgegeben. Sein Sonnenschein, vergewaltigt und ermordet. Das war das letzte Mal, dass seine Frau sprach. Moser fühlte, wie eine Träne auf seine Hand tropfte. Schnell wischte er sie sich an seiner Hose ab. Keine Zeit für die Vergangenheit, keine Zeit, um zu trauern. Keine Zeit und nicht der richtige Ort. Außerdem stahl sich ein langsamer Schmerz seinen Nacken hinauf. Das fehlt ihm gerade noch. Er riss seine Schreibtischlade auf und wühlte zwischen Büroklammern, Reißnägeln, Radiergummis und Bleistiften nach den Schmerztabletten. In der Apotheke hatten sie gesagt, er solle sparsam mit dem Medikament umgehen. Es sei das stärkste Mittel, das er ohne Rezept bekäme.
Er drückte eine der weißen Pillen durch die Folie, überlegte, zögerte. Dann griff er noch einmal zu der Packung und holte zwei weitere Tabletten heraus, warf sich alle drei in den Mund und schluckte sie ohne Wasser hinunter. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen. Ein bitterer Geschmack lag auf seiner Zunge, erfüllte seine gesamte Mundhöhle. Er versuchte sich einzureden, dass die Bitterkeit bloß auf die Pillen zurückzuführen war, wusste aber, dass das nicht stimmte.
Es war einfach alles: Die Mordfälle, dieser Job, seine Kollegen, Wagner, Martin – und diese verdammten Kopfschmerzen. Vielleicht sollte er sich einfach krankmelden, sich in seiner Wohnung verkriechen und warten. Irgendwann würde Wagner wieder nach Innsbruck zurückkehren, die Morde würden entweder gelöst werden oder zu den ungelösten Fällen wandern und er hätte wenigstens zwei Sorgen weniger.
Gleichzeitig wusste er, dass er sich nirgendwo verkriechen konnte. Denn vor den Dingen, vor denen er davonlief, war er an keinem Ort der Welt sicher. Nicht vor der Leere, nicht vor der Einsamkeit und auch nicht vor sich selbst.