Читать книгу Der Augenschneider / Das Liliengrab: Zwei Romane in einem Band - Valentina Berger - Страница 15
ОглавлениеKapitel 6
Heinz Martin hatte Wagner unterwegs abgesetzt, er selbst wollte schnell im Labor vorbeifahren und Laura die DNS-Probe bringen.
„Moser will dich morgen früh sprechen“, sagte sie.
„Ist gut! Wir werden da sein.“ Laura hob den Kopf, um ihm ins Gesicht zu sehen. „Ich glaub, auf Wagner legt er nicht unbedingt wert.“
„Und wenn schon.“
Laura grinste. „Gut, mein erster Ansprechpartner ist ebenfalls Wagner, solange er da ist.“
Heinz drückte dankbar Lauras Arm. Warum kam es ihm so vor, als hätte er eine Verbündete in einem Krieg gefunden? Sollten sie nicht alle auf einer Seite stehen? Das Verbrechen als Gegner?
Eine gute Frage, die ihn den ganzen Weg bis zur Pathologie beschäftigte, ohne dass er eine Antwort fand.
Wagner schleppte zwei volle Papiertaschen in seine Wohnung. Sonja würde wahrscheinlich missbilligend den Kopf schütteln, wenn sie sehen könnte, was er eingekauft hatte. Dabei war sie keine Gesundheitsfanatikerin. Sie trank gelegentlich ein Bier, manchmal auch zwei. Sie ernährte sich nicht besonders gesund, was angesichts ihres Berufes ziemlich widersprüchlich klang, aber oft blieb ihr nicht einmal die Zeit, ein warmes Mittagessen zu sich zu nehmen.
Wenn sie beide zu Hause waren, genossen sie ihre gemeinsamen Mahlzeiten. Meist kochte er, aus praktischen Gründen, denn Sonjas Nudeln zerkochten zu Brei, ihr Fleisch brannte an und das Gemüse schmeckte undefinierbar. Dafür war ihr Kaffee besser. Er musste lächeln, als er an ihre erste Begegnung dachte. Heinz und er versuchten damals die Identität eines männlichen Leichnams herauszufinden. Sonja war diejenige, die auf relevante Unterlagen gestoßen war und Heinz benachrichtigte.
Sie fuhren zu ihr und sie bot ihnen etwas zu trinken an. Heinz nahm Bier, er gab sich mit Kaffee zufrieden, weil er noch fahren musste. Es war der beste, den er je getrunken hatte.
Als sie Sonja verließen, kannten sie den Namen des Toten, und er wusste, dass er diese Frau unbedingt wiedersehen wollte.
Und jetzt? Sonja war nicht oft zu Hause. Gut, das störte ihn nicht. Schließlich war das bei ihm nicht anders. In Innsbruck würden die Uhren wahrscheinlich ein bisschen langsamer gehen – für sie beide.
Aber woran lag seine Unzufriedenheit? Nicht an Sonja. Sie hatte sich nicht verändert. Sie war witzig und charmant, verständnisvoll und großzügig. Eine Frau, mit der man durch dick und dünn gehen konnte, eine einfallsreiche Geliebte. Sie feierte in zwei Monaten ihren achtundzwanzigsten Geburtstag und war somit fast fünfzehn Jahre jünger als er, doch schien sie durch ihren verantwortungsvollen Job wesentlich reifer zu sein. Und es gab Augenblicke, da meinte er, ein junges Mädchen vor sich zu sehen, so naiv, so voller kindlicher Freude über Kleinigkeiten: Ein Schmetterling, der sich auf ihre Hose setzte, während sie gemeinsam im Gras lagen oder ein Vogel, der auf dem Fensterbrett zwitscherte. Das machte Sonja aus.
Jäh überfiel ihn das Gefühl der Liebe zu ihr, und er ließ den Einkauf stehen, um sie anzurufen.
Es läutete. Und läutete. Sonja hob nicht ab. Er sprach ihr auf die Mailbox. „Ich wollt mich nur melden. Es geht mir gut, Heinz auch. Ich probier’s später noch einmal.“
Er legte auf und knallte das Handy enttäuscht auf den Tisch. Ich hätte ihr wenigstens sagen können, dass ich sie liebe, dachte er, als er dazu überging, den Rest der Lebensmittel auszuräumen. Und warum hast du es dann nicht getan, Hornochse?, flüsterte ihm ein Stimmchen ins Ohr.
Der Raum begann sich um Emilia Martin zu drehen. Die Farben der Gemälde verschwammen. Ich hätte nicht so viel trinken sollen, schoss es ihr schuldbewusst durch den Kopf, während sie versuchte, auf ihren hohen
Absätzen die Balance zu halten. Es gelang ihr nicht. Mit einem Fuß knickte sie um. Ein Stechen durchfuhr ihren Knöchel. Scheiße!
Halt suchend klammerte sie sich an ihren Begleiter. Der legte fürsorglich einen Arm um ihre Taille und stützte sie.
„Komm, ich bring dich nach draußen. Du brauchst frische Luft!“ Seine Stimme klang weich, schmeichelte ihr. Sie lehnte sich an ihn. Wärme durchströmte sie, hüllte sie ein. Jakob bugsierte sie durch die Menschenmenge ins Foyer. „Deine Garderobenmarke“, murmelte er in ihr Haar. Widerwillig löste sie sich von ihm, stützte sich an einem der Tische ab und kramte in ihrer Handtasche nach der Marke.
„Die Dame hat wohl etwas zu viel erwischt“, hörte sie einen der Männer sagen, die für die Mäntel und Jacken der Gäste zuständig waren.
Sein Ton gefiel Emilia nicht. Sie suchte nach den passenden Worten, um ihn zurechtzuweisen, doch ihr Gehirn streikte. Jakob nahm ihr die Tasche aus der Hand und hatte innerhalb kürzester Zeit den gelben Zettel mit der Nummer 120 gefunden. Er reichte sie dem Mann, der gleich darauf mit ihrer Lederjacke zurückkam.
„Viel Spaß noch!“ Emilia hätte am liebsten das anzügliche Lächeln des Garderobiers mit einem Schlag ins Gesicht weggewischt. Sie holte aus, aber Jakob fing ihre Hand auf und führte sie weg.
„Lass ihn“, sagte Jakob und hängte ihr die Jacke um. Sie kuschelte sich wieder an ihn und ließ sich hinaus auf die Straße führen. Leichter Wind strich über ihr erhitztes Gesicht. Das tat gut. Sie hätte Stunden lang so stehen können. Aber ihr Begleiter drängte sie weiter. Emilia hatte nicht die Kraft, um aufzubegehren, um zu widersprechen. Sie hatte nicht einmal die Kraft, um alleine stehen zu können. Ihre Knie fühlten sich weich an, als hätte sie keine Knochen mehr. Ihr Knöchel pochte im Takt ihres Herzens, zu schnell, viel zu schnell. Kam das vom Alkohol oder von dem Mann an ihrer Seite? Konnte es sein, dass sie im Begriff war, sich in ihn zu verlieben? In einen Mann, den sie eben erst kennengelernt hatte. War das tatsächlich erst gerade vorhin gewesen? Es kam ihr vor, als kenne sie ihn schon seit immer. Diesen Mann, dessen Name ihr partout nicht einfallen wollte. Egal, der Name war nicht wichtig. Sie kannte schließlich nicht einmal mehr ihren eigenen.
Er führte sie zu seinem Auto. Während er mit einer Hand in seinem Sakko nach dem Schlüssel kramte, hielt sein anderer Arm sie immer noch umklammert, damit sie nicht fiel.
Ihr Kopf wurde immer schwerer, während ihr Körper sich mehr und mehr wie Gummi anfühlte. Sie wollte ihm sagen, wo sie wohnte, wohin er sie bringen sollte. Doch sie konnte sich nicht mehr an ihre Adresse erinnern. Er half ihr auf den Rücksitz und schnallte sie an. Sie griff nach ihm, wollte, dass er bei ihr blieb, sie festhielt. Seine Arme waren so angenehm gewesen, so angenehm. „Lass mich nicht allein“, bettelte sie schmollend.
„Mach dir keine Sorgen, du wirst mich für den Rest deines Lebens nicht mehr los.“
Sie glaubte ihm. Alles war gut. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Bunte Bildfetzen zogen an ihr vorüber. Eine Frau, ein Kind. Es war Winter und kalt. Sie hörte seine Stimme: „Entspann dich. Denk an etwas Schönes. Oder denk einfach an nichts. Schlaf ein bisschen.“ Das kam ihr vernünftig vor. Sie rutschte in ihrem Sitz ein wenig tiefer und zog die Beine an. Sie hätte sich gerne hingelegt, aber der Gurt war ihr im Weg. So lehnte sie ihren Kopf gegen die Autoscheibe und kühlte ihre heiße Stirn. Wie schaltete man das Denken ab? „Denk an nichts!“, hatte die Stimme – seine Stimme – gesagt. Gar nicht so einfach. Dazu musste sie ihr Bewusstsein abstellen, sich ausliefern, vertrauen. Aber das tust du doch. Jetzt fiel ihr auch ihr Name wieder ein. Emilia. Sie ließ sich fallen und schwebte. Ins Bodenlose, doch sie verspürte keine Angst. Sie flog, fühlte sich frei, schwerelos. Das Nichts ist schwarz, stellte sie erstaunt fest. Sie tauchte weiter ins Dunkel ein, es umhüllte sie, beschützte sie. Gab es schwärzer als schwarz, weniger als Nichts? Was kam davor, was danach?
Heinz Martin machte sich seufzend daran, seine Unterlagen zu ordnen. Er hatte alles schon viel zu lange schleifen lassen. Außerdem wäre es gut, irgendetwas zu tun. Diese Unordnung sah ihm nicht ähnlich. Daran waren nur diese Fälle Schuld – und Emilia. Ob er sie anrufen sollte? Er holte sein Handy aus seiner Hosentasche. Nein, wohl besser nicht. Es war noch gar nicht Zeit. Und das Argument, er wolle bloß ihre Stimme hören, würde bei einer neuen Flamme ziehen, nicht aber bei seiner Halbschwester. Schon gar nicht, wo nie er sie, sondern immer sie ihn anrief. Sie würde ihm nur wieder vorwerfen, er sei kontrollsüchtig, und er würde ihr auf den Kopf zusagen, besser Kontrolle als zu viel Alkohol und Nikotin. Sie würde eingeschnappt auflegen und wäre die nächsten zwei Wochen für ihn nicht erreichbar. Das würde weder ihr noch ihm etwas nützen. Heinz legte das Telefon auf den Ordner, in dem er gewöhnlich Untersuchungsergebnisse abheftete. Vielleicht hatte er sich von ihrer Angst anstecken lassen und die Tote war gar nicht Luisa. Die Fotos, die ihm Emma gegeben hatte, zeigten eine hübsche Frau. Eine, die in die Kamera lächelte, deren Augen vor Leben sprühten. Unmöglich zu sagen, ob es dieselbe war, die er obduziert hatte. Seinem Gefühl nach ja, aber wie meinte Moser immer? Gefühle sind hier fehl am Platz.
Heinz nahm eine Zeitschrift nach der anderen von dem Stapel auf seinem Schreibtisch und blätterte sie durch. Zweifelsohne hatte er gute Gründe gehabt, sie aufzuheben, doch er konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, welche.
Frustriert ließ er den Zeitschriftenstoß erneut auf den Schreibtisch fallen. Sie rutschten auseinander und einige lose Formulare wehten vom Tisch. Er bückte sich, um sie aufzuheben. Unwillig warf er die Papiere wieder dorthin, wo sie hergekommen waren. Grüne und rosa Vordrucke breiteten sich wie eine Decke über alles, was auf dem Tisch lag. Sehr gut! Er hatte mehr Chaos angerichtet als bereinigt. Es würde mindestens eine halbe Stunde dauern, um alle Formblätter zu sortieren und einzuordnen. Er sollte für heute Schluss machen. Morgen war schließlich auch noch ein Tag. Heinz stapfte zur Tür, nahm seine Jacke vom Garderobenständer und verließ sein Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen. Er hatte genug von der Unordnung in seinem Büro, in seinem Leben. Er würde jetzt ins „Traviata“ fahren und eine riesige Portion Muscheln in Knoblauchsoße essen. Dazu würde er ein, zwei Bier trinken. Oder noch besser, er würde sich volllaufen lassen. Mit dieser festen Absicht fuhr er nach Hause, stellte sein Auto ab und ging dann zu Fuß die wenigen Meter zur Pizzeria, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Nach etwas mehr als zwei Stunden war sein Vorhaben geglückt.
Rainer Moser sperrte seine Wohnungstür auf und trat ein. Die Stille traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Das war jeden Abend so. Nicht zum ersten Mal dachte er darüber nach, sich eine andere Bleibe zu suchen. Eine, die ihn nicht Tag für Tag daran erinnerte, was passiert war. Eine, die für ihn alleine nicht zu groß wäre. Gleichzeitig wusste er: Keine Wohnung der Welt würde klein genug sein, um ihn die Leere, die ihn umgab, nicht spüren zu lassen.
Er hängte seinen Mantel im Vorzimmer auf einen Haken und ging langsam ins Wohnzimmer. Die Fenster waren geschlossen – und würden es bis in alle Ewigkeit bleiben. Seit damals hatte er sie nicht mehr geöffnet, seit dem Tag, als er vom Dienst nach Hause gekommen war und das Fenster zum Hof weit offen stand. Die Vorhänge bauschten sich im Wind, die Vögel zwitscherten und die Sonne schien herein. Gut, hatte er damals gedacht, Manuela lässt frische Luft in die Wohnung, es geht doch bergauf mit ihr, langsam zwar, fast unmerklich, aber es ist ein gutes Zeichen, dass sie aufgestanden ist und das Fenster geöffnet hat, um zu lüften, um die Sonnenstrahlen hereinzubitten, zuerst in ihr Wohnzimmer, dann in ihr Herz. Er hatte sich über die Fortschritte seiner Frau gefreut, die nach dem Tod ihrer Tochter Kerstin kaum noch ansprechbar war. Die Temperaturen kühlten abends, Ende März, schnell ab. Deshalb beugte er sich über das Fensterbrett, um den Riegel zu erreichen. Und da hatte er sie gesehen. Sie lag unten im Hof. Und er? Er hatte das Fenster geschlossen, hatte die Fassungslosigkeit, die Wut, die Trauer und das eigene Verlangen hinterherzuspringen einfach ausgeschlossen. Dort würden sie bleiben, all diese Gefühle – draußen vor der Scheibe. Nichts auf der Welt konnte ihn dazu veranlassen, das Fenster auch nur einen Spaltbreit zu öffnen, denn er wusste, dann würden sie hereinkommen und über ihn herfallen, wie ein Schwarm Fliegen über verwesendes Fleisch.
Moser ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Viel war nicht drin. Für sich allein lohnte sich das Einkaufen kaum, Kochen schon gar nicht. Er hatte die Wahl zwischen zwei matschigen Tomaten, Mozzarella, der zwar abgelaufen, aber sicher noch genießbar war, einem Stück eingetrocknetem Käse, den man noch essen konnte, wenn man die Ränder wegschnitt oder Salami, die bereits eine verdächtig graue Farbe angenommen hatte. Lieber nicht. Die Kopfschmerzen hatten gereicht, er brauchte nicht noch eine Lebensmittelvergiftung. Moser warf erst die Wurst in den Mülleimer, dann die Tomaten und den Mozzarella hinterher. Frustriert nahm er sich eine Flasche Bier. Er sollte wirklich einmal einkaufen gehen, am besten gleich. Noch hatte der Supermarkt am Ende der Straße geöffnet.
Moser malte sich aus, wie er den Einkaufswagen durch die Gänge schob, wahllos irgendwelche Lebensmittel hineinwarf, lauter Dinge, die er weder brauchte noch jemals essen würde. Der Laden war voller Menschen, die alle schnell vor Geschäftsschluss einkaufen wollten, deren Wägen ebenso beladen waren mit Sachen, die sie nicht brauchten und die in den Kühlschränken vor sich hingammeln würden. Eine endlose Schlange vor der Kasse, Kunden, die sich über die Wartezeit aufregten, die müde Kassiererin, die ihr Bestes tat und es dabei kaum erwarten konnte, endlich zu Mann und Kind heimzukommen. Nein, Einkaufen war wahrlich kein Vergnügen für ihn. Vorerst würde das Bier reichen, davon hatte er noch reichlich. Und irgendwann, morgen vielleicht, oder an einem Tag, an dem es ihm besser ging, würde er sich überwinden.
Er setzte sich ins Wohnzimmer in seinen Ledersessel, schaltete mit der Fernbedienung den Fernseher ein. Es lief eine Familienserie, deren Namen er nicht kannte. Aber der tat auch nichts zur Sache. Mit geschlossenen Augen konnte er sich vorstellen, die Stimmen wären die seines Kindes und seiner Frau, die sich gerade um irgendeine Belanglosigkeit stritten. Er wagte es nicht, die Lider zu heben, selbst als er einen weiteren Schluck aus der Flasche trank, selbst, als die Sendung zu Ende war. Er wünschte sich, bis in alle Ewigkeit hier liegen zu können und die Augen nie mehr öffnen zu müssen.
Jakob Prandtauer stellte sein Auto ab, holte die bewusstlose Emilia aus seinem Fahrzeug und trug sie in den Keller. Wie gut, dass er alles sauber gemacht hatte. Er legte sie auf die Matratze, breitete eine Decke über ihre Füße, strich ihr über beide Wangen und fuhr dann zärtlich über ihre geschlossenen Lider. Sie war der Schlüssel zu seiner Freiheit. Jakob küsste seine Fingerspitzen und drückte sie ihr auf den Mund. Er war sich durchaus bewusst, was er ihr verdanken würde.
Vor der massiven Stahltür drehte er sich noch einmal zu Emilia um. Das Mittel würde noch ein paar Stunden wirken. Wenn er Glück hatte – oder sie, je nach Betrachtungsweise – würde er bei ihr sein, wenn sie die Augen aufschlug. Er wagte kaum daran zu denken, was danach käme, wenn alles erledigt war. Wenn er nicht mehr Jakob sein musste. Welch ein Zwang, die meiste Zeit seines Daseins ein anderer sein zu müssen. Nicht, dass er die Personen, in die er sich verwandelte, nicht leiden mochte. Er hatte sich immer solche ausgesucht, die er in einem anderen Leben gerne sein wollte. Aber in diesem Leben wollte er niemand anderer als Christian sein. Und mit Emilia war er diesem Ziel schon sehr nahe gekommen.
Er schloss die schwere Tür hinter sich, verriegelte sie und stapfte die Stufen hinauf. Als Erstes musste Jakob wieder zu Christian werden. Er sammelte sich vor dem Spiegel, atmete tief ein und aus. Mit jedem Ausatmen ließ er Jakob aus sich herausströmen und beim Luftholen sog er Christian in sich ein, bis er das Gefühl hatte, sein Körper gehöre wieder ihm. Schauspieler arbeiteten mit einer ähnlichen Technik, um sich in ihre Rollen einzufinden. Und nichts anderes tat er auch. Er wäre bestimmt ein guter Bühnenkünstler geworden, womöglich hätte er es sogar bis ins Burgtheater geschafft. Doch bevor er sich in seinen Träumen verlieren konnte, rügte ihn die Stimme seiner Mutter: „Schauspieler ist doch kein anständiger Beruf. Schlag dir solche Blödheiten schnell wieder aus dem Kopf.“ Er nickte.
Christian ging den Flur entlang und öffnete sachte die Tür zu Janas Zimmer. Sehr gut, sie rührte sich nicht! Das verschaffte ihm die Zeit, in Ruhe zu kochen. Leise zog er die Türe wieder zu und ging hinunter in die Küche. Heute würde es Hühnerfilets in Zwiebel-Rahmsoße geben. Eine seiner Spezialitäten. Kochen konnte er, lobte er sich selbst. Das, wie so vieles andere, hatte er nur seiner Mutter zu verdanken und tiefe Liebe durchströmte ihn. Er holte drei Zwiebeln aus dem Schrank, schälte und teilte sie. So, wie es ihm seine Mutter beigebracht hatte, schnitt er sie anschließend in hauchdünne Halbringe. Seine Augen fingen an zu brennen. „Du hättest einen Schluck kaltes Wasser in den Mund nehmen sollen“, sprach sie. Ja, klar! Wie hatte er darauf vergessen können. Jetzt, da sie nicht mehr da war, wünschte er sich, sie würde nicht nur in seinem Kopf mit ihm reden. Wie er sie vermisste! Ein dicker Kloß in seiner Brust erschwerte ihm das Atmen und er begann zu schluchzen. Das waren bestimmt bloß die Zwiebeln. Er ließ sich doch sonst nicht so leicht aus der Fassung bringen. Mit einem Tränenschleier vor Augen tastete er nach einem Küchenstuhl, setzte sich und barg sein Gesicht in seinen Armen. So lehnte er auf dem Tisch und ließ seinen Tränen freien Lauf. „Verzeih mir, Mutter“, murmelte er immer wieder.
Nach einer Weile wurde er ruhiger. Es schien ihm als würde eine Hand – ihre Hand – seinen Rücken liebkosen. Er fühlte sich seltsam getröstet und wusste, auch ohne ihre Stimme zu hören, dass sie ihm längst verziehen hatte.
So gestärkt stand er auf, ging zur Spüle hinüber und ließ kaltes Wasser über seine Augen laufen, bis das Brennen nachließ und er das Gefühl hatte, wieder klar zu sehen. Dann nahm er einen Schluck eisigen Wassers in den Mund und fuhr fort, die Zwiebeln fein zu schneiden. Er konnte das zustimmende Lächeln seiner Mutter fühlen.