Читать книгу Der Augenschneider / Das Liliengrab: Zwei Romane in einem Band - Valentina Berger - Страница 23
ОглавлениеKapitel 14
Wagner rief nun schon das dritte Mal an. Sonjas Handy läutete und läutete. Dann schaltete sich die Mobilbox ein. Schade. Er hätte gern mit ihr geredet, hätte gern ihre Stimme gehört. Er wollte schon auflegen. Gerade als er wieder die Aufforderung bekam eine Nachricht zu hinterlassen, hob Sonja ab.
Sie sagte nichts. Verdammte Verbindung. „Sonja? Ich kann dich nicht hören. Ich wollt nur sagen, dass es mir gut geht und dass ich dich liebe und ...“
„Ich bin da.“
Etwas in ihrer Stimme ließ Wagner aufhorchen. „Schatz, was ist los? Alles in Ordnung bei dir?“
„Es ist nichts.“
„Natürlich ist was. Bist du böse, dass ich noch nicht wieder bei dir bin? Ich brauch noch ein paar Tage.“
„Ein paar Tage? Nein, das ist in Ordnung. Das ist sogar gut.“
„Ich dachte, du vermisst mich.“
„Tu ich auch, aber ich hab noch was zu erledigen, und da trifft es sich, dass du nicht da bist.“ Sie versuchte nun fröhlich zu klingen. Gezwungen munter. Das gefiel ihm gar nicht. Belog sie ihn etwa? Nein, bestimmt nicht. Er kannte keinen aufrichtigeren, ehrlicheren Menschen als sie.
„Wenn du willst, komm ich zurück. Gleich morgen.“ Dieses Angebot fiel ihm nicht leicht. Er würde dafür Heinz im Stich lassen müssen. Und Emilia. Und das Gefühl, gebraucht zu werden, dieses Gefühl der Lebendigkeit, seit er wieder in Wien war. Sonja schwieg am anderen Ende des Telefons. Er konnte sie vor sich sehen, wie sie über seinen Vorschlag nachdachte und dabei die Stirn in Falten legte, wie immer, wenn sie über etwas intensiv grübelte.
„Nein.“ Sie klang wieder normal. „Es ist nur eine Kleinigkeit. Und es ist wirklich besser, wenn ich das allein mache.“
Erleichtert atmete Wagner auf. „Schön, ich melde mich dann morgen Abend bei dir.“
Er legte auf. Was zum Kuckuck wollte sie erledigen? Eine hübsche Überraschung für die Wohnung? Ein Geschenk für seinen Geburtstag? Der war zwar erst in ein paar Wochen, aber sie wollte vielleicht seine Abwesenheit nützen, um ungestört einkaufen zu gehen.
Er wusste, dass er bei Sonja etwas gutzumachen hatte, wenn er wieder bei ihr war. Sie sollte wissen, dass ihr Verständnis und ihre Großzügigkeit nicht selbstverständlich waren. Er würde sich etwas Besonderes einfallen lassen. Wenn er wieder zu Hause war. Zu Hause? Irgendwie passte das Wort nicht nach Innsbruck. Aber er würde sich Mühe geben. Sonja zuliebe.
Heinz hatte Bereitschaftsdienst. Ausgerechnet heute. Er fühlte sich müde und ausgelaugt. Kein Wunder nach der gestrigen Nacht und dem heutigen Tag. Normalerweise machten ihm Nachtschichten nichts aus. Im Gegenteil. Kein Geklapper aus den Autopsiesälen, kein Gemurmel der Mitarbeiter auf den Gängen, keine Telefonanrufe, außer bei Notfällen. Er hatte ein Zimmer, in dem er sich schlafen legen konnte. Diese Möglichkeit nutzte er nur selten, aber heute war er froh, dass er sich ausstrecken und die Augen schließen konnte. Er musste eingeschlafen sein, denn das Läuten des Telefons ließ ihn hochfahren. Der Blick auf die Digitalanzeige des Radioweckers zeigte, dass er tatsächlich über zwei Stunden tief geschlummert hatte. Das Telefon gab keine Ruhe. Fluchend rieb sich Heinz den Schlaf aus den Augen und ging hinaus auf den Gang, wo der Apparat stand.
„Martin.“
„Sie müssen herkommen. Wir haben hier eine weibliche Leiche. Sie ist übel zugerichtet.“
Heinz war schlagartig hellwach. Sein Herz schrie: „Nein!“, sein Mund sagte: „Ich komme.“
Was, wenn es Emilia war? Es konnte nur sie sein. Eine übel zugerichtete Frauenleiche. Eine verschwundene Emilia. Eins und eins. Eine einfache Rechnung.
Martin ließ sich den Weg erklären und musste zweimal nachfragen, weil er sich nicht darauf konzentrieren konnte, was der Beamte ihm erklärte. Schließlich nahm er einen Zettel vom Tisch und schrieb die Wegbeschreibung auf. Seine Handschrift war kaum zu entziffern.
Ich muss Wagner anrufen. Kein Anschluss. Scheiße, verwählt. Noch einmal.
Erst beim dritten Anlauf folgten seine zittrigen Fingerspitzen seinen Befehlen.
Es läutete. Klar, auch Wagner schlief. Schließlich war es 23 Uhr 30. Es dauerte eine Zeit lang, bis sein Freund den Hörer abhob.
„Sie haben Emilia gefunden.“
„Was? Wo?“
Heinz konnte nichts sagen. Sein Hals war wie zugeschnürt.
„Ich hab Bereitschaft“, brachte Heinz hervor.
Bei seinem Gesprächspartner auf der anderen Seite der Telefonleitung herrschte Stille.
„Du kannst nicht fahren. Du wartest, bis ich da bin. Verstanden?“
Heinz hasste es, wenn Wagner diesen Ton anschlug. Aber jetzt war er froh, dass jemand ihm die Entscheidungen abnahm. Dass jemand die Führung übernahm. Er fühlte sich verloren, wie damals als Kind, als er in einem Möbelhaus seinen Eltern davongelaufen war. Er hatte das Gefühl gehabt, allein auf dieser Welt zu sein, trotz der vielen Menschen rund um ihn.
Mechanisch griff er nach seinem Arztkoffer. Er klappte ihn auf und dann wieder zu. Alles war drin, was drinnen sein musste. Er hatte das überprüft, als er seinen Nachtdienst angetreten hatte. Alles war drin – bloß nichts davon diente dazu, Leben zu retten. Emilias Leben zu retten.
Es war zu spät. Er hatte versagt. Er hatte nicht genug getan. Hatte nie genug getan. Und jetzt konnte er nichts davon wiedergutmachen. Aber er würde diesen Hurensohn finden, koste es, was es wolle. Wenigstens das.
Emilia, ich werde ihn finden. Und dann lasse ich ihn leiden, wie du gelitten hast. Das schwöre ich.
Der Türsummer meldete sich. Er griff nach seinem Koffer, drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage und sagte: „Ich bin gleich da.“
Heinz’ Anruf hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Sie hatten Emilias Leiche gefunden! Mein Gott, wie musste Heinz sich fühlen?
Sein Freund konnte in diesem Zustand unmöglich selber fahren. Das musste er für ihn übernehmen. Das war das Mindeste, das er tun konnte.
Jetzt stand er vor der Hintertür des gerichtsmedizinischen Instituts und wartete. Die Tür schwang auf. Aber es war nicht sein Freund, der heraustrat, das war ein Roboter. Der Koffer schien zehn Mal schwerer zu wiegen als sonst. Sein Schritt war schleppend, das Gesicht aus Stein.
„Das Auto steht da hinten.“ Die Stimme hätte einen Diamanten schneiden können.
Alles, was Wagner seinem Freund sagen wollte, erschien ihm zu banal. Kein Satz der Welt hätte auszudrücken vermocht, wie er fühlte. So legte er Heinz einfach die Hand auf den Arm, der die Arzttasche schleppte. Heinz sah ihn an. Und diese Augen gefielen ihm nicht. Sie machten ihm Angst. Weil er solche Augen schon einige Male in seinem Leben gesehen hatte. Es waren die Augen eines Mannes, der fähig war, einen Mord zu begehen.
Stumm reichte Heinz ihm ein Stück Papier. Wagner nickte. „Ich weiß, wo das ist.“
Wagner startete den Wagen und fuhr los. Während der ganzen Fahrt schwiegen sie. Es gab keine Worte, die ihnen den Weg leichter gemacht hätten.
Schon von Weitem wurde die Nacht von Blaulicht erhellt, sodass Wagner keine Schwierigkeiten hatte, den Tatort zu finden. Reges Treiben erwartete sie, als sie aus dem Auto stiegen. Wagner hatte bereits den halben Weg zurückgelegt und sprach mit einem Kollegen. Heinz setzte einen Fuß vor den anderen. Jeder Schritt fiel ihm so schwer, als hätte er Eisengewichte an den Füßen. Er wäre am liebsten wieder umgekehrt, wäre gern in die Sicherheit seines Autos geflüchtet. Aber Wagner hatte sich nach ihm umgedreht und wartete auf ihn, beide Hände in den Hosentaschen versenkt. Heinz atmete tief ein. Die feuchte, würzige Waldluft schien im krassen Gegensatz zu dem Grund zu stehen, aus dem er hier war. Er wünschte, er könnte die Augen schließen und sich vorstellen, er würde einen Spaziergang machen. Doch das gelang ihm nicht. Emilias Bild drängte sich mit aller Macht auf. Tu, was du tun musst, sagte er sich. Er rüstete sich für den Anblick von Emilias geschundenem Körper, holte noch einmal Luft und schloss zu seinem Freund auf.
Die Spurensicherung hatte das Gebiet um den Fundort abgesperrt. Ein junger Forensiker trat auf sie zu und deutete nach hinten. „Sie liegt da drüben und neben Moser steht das Paar, das sie gefunden hat.“
Moser starrte zu ihm herüber. Los, geh hin! Das ist dein verdammter Job, befahl er sich selbst. Ein beschissener Job. Aber zumindest das war er seiner Schwester schuldig. Er konnte sich nicht einfach umdrehen und sagen, ruft einen anderen. Es wäre ihm wie Verrat vorgekommen. Er hatte sie enttäuscht, als sie noch lebte, war nicht für sie da gewesen, als sie ihn am meisten brauchte. Wenigstens diesen letzten Gefallen konnte er ihr tun. Er würde ihre Überreste mit Respekt behandeln. Es war nicht wichtig, was er empfand. Ein letztes Mal atmete er tief durch, dann trat er an die Leiche. Zum ersten Mal, seit er als Gerichtsmediziner arbeitete, bekam er weiche Knie. Er zwang sich, einen ersten Blick auf die Tote zu werfen. Und dann ... Erleichterung durchströmte ihn wie eine heiße Woge. Fast wäre er in schallendes Gelächter ausgebrochen, als die enorme Anspannung so schlagartig von ihm abfiel. Stattdessen rief er nach Wagner. Endlich kam der im Laufschritt auf ihn zugeeilt.
„Es ist nicht Emilia! Sie ist es nicht.“ Er konnte die Freude in seiner Stimme nicht unterdrücken und kam sich gleichzeitig vor wie ein Schuft. Auch diese Frau war jemandes Schwester, Mutter oder Geliebte gewesen. Aber er konnte nicht anders. Sie war nicht Emilia. Auch wenn er es nach außen nicht zeigte, in seinem Inneren tobte es.
Wagner murmelte: „Gut. Das ist gut.“
Heinz grinste. „Was hat Moser gesagt, dass du hier bist?“
„Na ja. Gefreut hat er sich nicht gerade.“
Heinz ließ sich auf die Knie nieder und machte sich an die Arbeit. Schon bald war ihm klar, dass diese Tat rein gar nichts mit Emilia oder den anderen Frauenmorden zu tun hatte. Vielleicht war es ein Eifersuchtsdrama. Oder ein Raubmord. Möglichkeiten gab es viele.
„Ihr wurde die Kehle durchgeschnitten“, kommentierte er laut. „Die Kleidung ist auf den ersten Blick intakt. Wenn man sich all das Blut ansieht, dann wurde sie hier umgebracht.“
Sie war noch nicht lange tot. Heinz schätzte etwa sechs bis acht Stunden, aber das war vorsichtig kalkuliert und musste erst mit einer genauen Untersuchung untermauert werden. Wagner stand stumm hinter ihm. Er fühlte dessen Blick in seinem Rücken. Auch die anderen Beamten schauten ihm zu. Es war, als würden sie der Frau auf diese Art ihre Achtung erweisen. Für ihn standen die Toten immer im Mittelpunkt des Verbrechens. Aber für die anderen, für die Forensiker, für die Polizisten, verschob sich die Perspektive. Für sie hatten Fingerabdrücke, Reifenspuren oder die Insekten, die sie an einem Tatort fanden, mehr Gewicht. Bei ihnen drehte sich alles um Motiv und Gelegenheit. Um den Täter, der das Verbrechen begangen hatte.
Nur für einen Moment, für diese kleine Zeitspanne, bis er mit seiner ersten Untersuchung fertig war und die Leiche zum Abtransport freigab, rückte auch bei allen anderen das Opfer ins Zentrum ihrer Wahrnehmung. Und das war gut so. Die Bilder, die sie jetzt aufnahmen, waren die, die sich in ihre Gedächtnisse einbrannten. Das waren die, die dafür sorgten, dass sie nicht vergaßen, warum sie eigentlich diesen Beruf ausübten, während sie über ihren Tests und Analysen, über ihren Grafiken und Statistiken grübelten und versuchten Fingerabdrücke und Blutspuren zuzuordnen.
Die Scheinwerfer, die aufgestellt worden waren, um den Tatort auszuleuchten, trieben ihm den Schweiß aus den Poren. Heinz stand auf. „Ich bin hier fertig“, sagte er und erblickte Moser, der bei den anderen stand und ihm zusah. Aus Neugier oder weil ihm der Tod dieser unbekannten Frau naheging?
Während die Leiche auf eine Plastikplane gelegt und eingeschlagen wurde, damit keine Beweismittel verloren gingen, dachte Heinz daran, wie wenig er geschlafen hatte und dass ihm nun nichts mehr davonlief. Er könnte sich jetzt ins Bett legen, wenigstens für drei, vier Stunden. Dann wäre sein Dienst vorbei. Die Leiche könnte jemand anderer obduzieren, seine Kollegin zum Beispiel. Oder sogar einer der fortgeschrittenen Studenten. Doch er wusste, er würde weder einschlafen können noch würde er heimfahren.
Er winkte Wagner zu sich, dessen Gesicht einen grünlichen Ton angenommen hatte. „Ich fahre jetzt in die Gerichtsmedizin. Willst du mit?“
„Mich kann einer der Streifenwagen nach Hause bringen.“
„Ich fahre nicht, damit ich mir noch ein paar Stunden Schlaf gönnen kann. Ich möchte sie gleich obduzieren.“
Wagner schluckte. „Warum du? Du hast doch schon zwei unaufgeklärte Fälle.“ Heinz blickte ihn an. „Weil ich, solange ich damit beschäftigt bin, nicht an Emilia denken muss.“
„Ich weiß nicht. Mir ist schlecht.“
Heinz schüttelte den Kopf. „Wie kann jemand wie du bloß bei der
Mordkommission landen? Ein Tropfen Blut und du fällst um.“
Diese Diskussion führten sie jedes Mal. Aber vielleicht war Wagner gerade deshalb ein guter Ermittler, weil er trotz all der Jahre nicht abgebrüht war. Weil er, trotz der vielen Leichen, in jeder die Person sah, die sie vor ihrem Tod gewesen war. Weil er sich weigerte, zu akzeptieren, dass Mord und Totschlag Normalität in seinem Leben wurden.
„Du kannst ja wegschauen, wenn es dir zuviel wird.“ Wahrscheinlich war Wagner zu müde, um zu protestieren. Sein Freund schob die Hände in die Hosentaschen und ging mit ihm zum Auto.
Laura saß in der Küche ihres Elternhauses. Immer wieder strich sie ihrer Mutter über den Rücken. Zum wohl zehnten Mal fragte Esther Campelli: „Was soll nur werden?“ Und Laura antwortete ihr, wie jedes Mal: „Das braucht Zeit, Mama.“ Bisher war immer sie diejenige gewesen, die Hilfe und Trost suchend heimgekehrt war, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Jetzt schienen die Rollen vertauscht. Diesmal war sie es, die Tipps und Ratschläge erteilte. Ungewohnt und beängstigend zugleich.
Sie war gerade rechtzeitig gekommen, um ihren Vater noch zu sehen und sich zu verabschieden, bevor sein Leichnam abgeholt wurde. Er war zu Hause gestorben, wie er es sich gewünscht hatte. Alle hatten gewusst, dass er nicht mehr lange leben würde. Die Ärzte hatten ihm nicht einmal die Zeit zugestanden, die ihm geblieben war. Und dennoch hatten sie die Augen vor dem Unvermeidlichen verschlossen. Umso schmerzlicher empfand es Laura nun, dass tatsächlich das eingetreten war, was sie so erfolgreich verdrängt hatte.
Ihre Mutter war dazu übergegangen zu reden. Ohne Punkt und Komma sprudelten die Worte aus ihr heraus. Hin und wieder schaute sie Laura mit ihren rotgeweinten Augen an und war zufrieden, wenn Laura mit „Mhm“ oder „Mmh“ antwortete. Sie erzählte Anekdoten von ihrem Vater, die Laura schon kannte. Zwischendurch fuhr sie mit dem feuchten Taschentuch in ihrer Hand über die Wange und wischte die Tränen ab, die sich immer wieder aus ihren Augenwinkeln stahlen. Laura hatte noch nie bemerkt, wie welk und eingefallen die Wangen ihrer Mutter waren. Für sie war Mutter einfach Mutter. Seit sie denken konnte, sah sie für Laura gleich aus. Erst jetzt fiel ihr auf, wie alt, wie zerbrechlich die Frau geworden war, die ihr das Leben geschenkt hatte. Wieder strich sie ihr über den Rücken. Durch die Berührung fühlte sie sich seltsam getröstet. „Mama, ich schlaf heute hier“, unterbrach sie den Redefluss ihrer Mutter. Die blickte auf, nahm beide Hände Lauras in ihre und drückte sie liebevoll. „Das ist gut. Ich richte dir das Gästezimmer.“ Dann stand sie auf.
„Es muss nicht jetzt sein, Mama.“
„Doch. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt.“
Laura verstand. Ihre Mutter war dankbar dafür, etwas zu tun zu haben, das sie für einen Moment ablenkte.
„Ich helfe dir“, sagte Laura. Auch ihr würde es guttun. Und wenn sie dann endlich allein war, konnte sie es sich erlauben, schwach zu sein, zu weinen und zu trauern.
Im gerichtsmedizinischen Institut begann Heinz damit, die Frau zu entkleiden. Die Leichenstarre hatte noch nicht den ganzen Körper erfasst, was seine Vermutungen zum Todeszeitpunkt bestärkte. Alles, was sie auf ihrem Leib trug, packte er in Papiertüten, nummerierte sie und legte sie beiseite. Darum würden sich später die Forensiker kümmern. Jeden Handgriff, jede Erkenntnis und auch seine Mutmaßungen sprach er auf ein Tonband. Wagner stand in sicherem Abstand in der Nähe der Tür, seinem angestammten Platz, von dem er, wenn nötig, den Raum schnell verlassen konnte.
„Weibliche Leiche, etwa 30 Jahre alt, circa 1 Meter 70 groß, 61 Kilo. Gepflegtes Äußeres, guter Ernährungszustand. Äußere Verletzungen keine, bis auf den Halsschnitt.“
Sein Blick wanderte ihren Körper hinunter. Mit seinen behandschuhten Händen zeigte er auf ihr rechtes Knie. „Hier ist ein Hämatom. Muss ziemlich frisch sein. Sie hat auch ein paar kleinere Abschürfungen. Wahrscheinlich ist sie gestürzt.“ Wäre jetzt Kramer, sein Assistent, da gewesen, hätten sie die Leiche zu zweit umgedreht, so musste er es alleine schaffen. Er wollte es seinem Freund nicht zumuten, ihm zu helfen. Es war schon schwierig genug für ihn, hier dabei sein zu müssen.
Es war kein leichtes Unterfangen, aber schließlich war es ihm gelungen.
„Heilige Scheiße!“, entfuhr es ihm. Selbst Wagner trat näher, um zu sehen, was ihm diesen Fluch entlockt hatte.
„Grundgütiger Himmel“, platzte Wagner hervor, ehe er sich umdrehte und aus dem Raum flüchtete, um wahrscheinlich die letzten unverdauten Reste der Leberkäsesemmeln hervorzuwürgen. Geschah ihm recht. Tja, kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort. Er hätte sich mit zweien begnügen sollen. Kopfschüttelnd betrachtete Heinz den Rücken der Toten.
„Und ich dachte, es wäre ein ganz normaler Mord.“