Читать книгу Der Augenschneider / Das Liliengrab: Zwei Romane in einem Band - Valentina Berger - Страница 16
ОглавлениеKapitel 7
Heinz erinnerte sich nicht mehr, wie er in seine Wohnung gekommen war. Ein Blick auf seine Armbanduhr ließ ihn aus dem Bett schnellen. Der stechende Schmerz in seinen Schläfen war so schlimm, dass er den Kopf allerdings sofort wieder in das Kissen vergrub. Verdammt! Fünf Minuten würde er sich noch gönnen. Doch sein Pflichtbewusstsein siegte und er setzte sich auf. Um den heutigen Tag zu überstehen, würde er eine Schmerztablette brauchen. Ich bin ein Idiot, dachte er, während er ins Badezimmer wankte und im Medikamentenschrank nach einem Aspirin suchte. Er warf sich zwei der weißen Tabletten in den Mund und trank aus der Wasserleitung nach. Dann stellte er sich unter die Dusche und regelte die Temperatur langsam kälter, bis er das Gefühl hatte, kleine Eissplitter würden in seine Haut dringen. Als er glaubte, es nicht mehr länger auszuhalten, zählte er bis zehn. Erst dann drehte er den Wasserhahn ab und schlüpfte, ohne sich abzutrocknen, in seinen Bademantel. Ein anderer hätte das alte, zerschlissene Ding schon lange in die Altkleidersammlung gesteckt, aber er hing an ihm. Er hatte ihn sich zu Studienzeiten gekauft. Zu seinem letzten Geburtstag hatte Emilia ihm einen kuscheligen Frotteemantel geschenkt. Der lag immer noch originalverpackt in einer Schublade.
Eine Spur aus nassen Fußabdrücken markierte seinen Weg, als er zurück ins Schlafzimmer ging. Er widerstand der Versuchung, sich noch einmal ins Bett zu legen und kleidete sich an. Das schüttere schwarze Haar war schon fast trocken, also konnte er sich das Fönen sparen. Frühstück würde es heute keines geben. Er kam ohnehin schon zu spät zu Mosers Besprechung.
Seine Kopfschmerzen hatten sich in einen dumpfen Druck verwandelt. Der war unangenehm, aber auszuhalten. Trotzdem kehrte er noch einmal an der Wohnungstür um und holte das Aspirin. Sicher war sicher! Eine Sitzung mit Moser konnte einem mehr Kopfschmerzen bereiten als jede durchzechte Nacht. Laura Campelli war früh auf den Beinen. Irgendjemand hatte das Gerücht in die Welt gesetzt, sie würde erst gar nicht heimfahren, sondern schliefe im Labor, was natürlich Unsinn war, aber nur, weil es gar kein Bett gab, in dem sie hätte schlafen können. Sie hatte tatsächlich schon die eine oder andere Nacht durchgearbeitet. Nun ja, in letzter Zeit nicht. Genau genommen nicht mehr, seit Wagner das erste Mal erwähnt hatte, er würde nach Innsbruck ziehen.
Ärgerlich, dass sie schon wieder an ihn denken musste. Sie hatte sogar von ihm geträumt. Zu gut erinnerte sich ihr Unterbewusstsein an das, was sie zu verdrängen versuchte. Daran, wie seine Küsse schmeckten, an seine weichen Lippen, an das Gefühl seiner Hände auf ihrem Körper.
Es war bloß Sex, rief sie sich zur Ordnung. Doch das kleine Teufelchen in ihrem Kopf gab keine Ruhe: „Es war weit mehr, und du weißt das. Nur zu schätzen gewusst hast du es damals nicht.“
Sie schüttelte alle Gedanken an Wagner ab und setzte sich an ihr Mikroskop, das mit dem Computer verbunden war. Nach fünfundzwanzig Minuten griff sie zum Telefon und tippte Heinz Martins Handynummer ein. Sie ließ es läuten, bis sich die Mailbox einschaltete. Dann legte sie auf und probierte es erneut. Als zum zweiten Mal die Aufforderung kam, eine Nachricht zu hinterlassen, wollte sie schon auflegen, besann sich aber anders. „Heinz, hier Laura! Ich hab ein Ergebnis, und das wird dir nicht gefallen. Ruf mich an!“
Kopfschüttelnd wandte sie sich anderen Aufgaben zu. Wie konnte es sein, dass Heinz nicht ans Telefon ging? Es war noch zeitig am Morgen. Zu früh für eine Obduktion, bei der er aus Prinzip keine Anrufe entgegennahm. Spätestens um acht würde sie Heinz bei der Besprechung mit Moser treffen. Sie hätte ihm das Testergebnis gerne schon vorher mitgeteilt. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Erst sieben. Gut möglich, dass er gerade unterwegs war und nicht telefonieren konnte. Oder er hatte es nicht läuten gehört. Sie hatte ja noch ein wenig Zeit und würde es später noch einmal versuchen. Stattdessen tippte sie Wagners Nummer ein. Ihre Finger flogen über die Zahlentasten, ohne einen Funken zu zögern. Wie oft hatte sie diese Nummer schon gewählt? Die Ziffernfolge hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt, unauslöschlich, wie eine Tätowierung.
Wagner erwachte gut gelaunt. Sonja hatte am Vorabend zurückgerufen und sie hatten stundenlang miteinander telefoniert, soviel hatten sie sich schon lange nicht zu erzählen gehabt, und er dachte an die Zeit zurück, als sie sich kennengelernt hatten. Die Sehnsucht nach dem anderen, die endlosen Gespräche, Interesse, das ehrlich und ungeheuchelt war. Warum war Reden über diese Distanz so viel leichter?
„Wann kommst du wieder zurück?“
„Das weiß ich noch nicht“, und eigenartigerweise hatte es ihm aufrichtig leidgetan, ihr keine andere Antwort geben zu können.
Er hatte ihr von Heinz und dessen Schwester erzählt.
„Aber lass dir nicht allzu viel Zeit, hörst du?“
Er hatte es versprochen. Diesmal war ihm das „Ich liebe Dich“ ganz leicht über die Lippen gekommen.
Er war froh, eingekauft zu haben. Nun saß er bei Speck und Rührei am Frühstückstisch. Der Kaffee war wieder einmal kaum zu trinken. Wie immer viel zu stark und viel zu bitter.
Mit nacktem Oberkörper und in Shorts lugte er auf den Gang hinaus, und als er niemanden entdeckte, klaute er die Tageszeitung von der Türmatte seiner Nachbarin. Na ja, er borgte sie sich aus. Später würde er sie Frau Huber wieder vor die Tür legen. Sie stand ohnehin kaum je vor neun auf. Beneidenswert, so ein Rentnerdasein!
Nun blätterte er die Zeitung durch und las den einen oder anderen Bericht. Allein schon die Meldungen unterschieden sich von denen in Innsbruck. Dort wurde aus jeder kleinen Streitigkeit zwischen Eheleuten ein Beziehungsdrama. Jeder Polizeieinsatz wurde hochgespielt, damit es etwas gab, um die Spalten zu füllen. Hier hingegen bekam sogar eine Messerstecherei nicht mehr als eine kurze Notiz.
Im Kulturteil fand er einen Artikel mit Fotos einer Vernissage eines ihm unbekannten russischen Malers. Ihm kamen die Gemälde etwas schwermütig vor, fast depressiv. Genauso stellte er sich die russische Mentalität vor, wusste aber, dass seine Vorstellungen auf Klischees beruhten.
Vor einem der Bilder, „Russischer Winter“ wie er dem Untertitel entnehmen konnte, stand ein Paar. Eine groß gewachsene, sehr hübsche junge Frau und ein etwas kleinerer Mann, der ihr etwas ins Ohr zu flüstern schien.
Wagner blätterte weiter zum Sportteil, den er nur kurz überflog, und zum Fernsehprogramm. Dann schlug er die Zeitung zu und brachte sie wieder dorthin, wo er sie herhatte.
Gesättigt, mit leichtem Sodbrennen von dem starken Kaffee, aber hoch motiviert, machte sich Wagner daran, das Frühstücksgeschirr abzuwaschen. Er pfiff eine beschwingte Melodie bei der Arbeit. Fast hätte er sein Handyläuten überhört. Die Hände nass und voller Schaum, hinterließ er Wassertropfen auf dem Küchenboden, bevor er ein Geschirrtuch fand und sich daran abwischen konnte.
„Wagner!“, bellte er knapp in den Hörer, ungehalten über die Unterbrechung.
„Ich bin's, Laura.“ Ihre Stimme ließ in ihm etwas vibrieren. So klang sie nur, wenn es dringend war. „Du musst auf der Stelle herkommen.“
„Hast du schon auf die Uhr gesehen? Es ist erst sieben!“
Laura schnaufte. „Viertel nach. Moser hat um acht eine Besprechung angesetzt.
Ich dachte, du wärst gerne dabei.“
„Komisch, Heinz hat das mit keinem Wort erwähnt.“
„Helmut, ich hab die DNA-Analyse.“
„Und?“ Wagner hasste es, wenn er Leuten alles aus der Nase ziehen musste.
Laura sagte sekundenlang nichts. Dann: „Die Ergebnisse sind positiv. Helmut?“
„Ja?“
„Heinz sollte es erfahren. Am besten von dir.“
„Ich bin unterwegs.“
Positiv war nicht zwangsläufig positiv. Es kam alles bloß auf die
Betrachtungsweise an.
Seine gute Laune von vorhin war verflogen.
Heinz Martin saß, seinen Kopf in den Händen geborgen, im Büro. Es klopfte am Türstock und Heinz drehte sich nach dem Ankömmling um.
„Gut, dass du hier bist. Moser hat uns eingeladen.“
„Ich weiß.“
„Wir sollten bereits drüben sein.“ Heinz stand auf. Er hatte sich schon beweglicher gefühlt als heute. Wagner legte ihm die Hand auf den Arm. „Dann kommen wir eben zu spät. Da gibt es noch etwas, das du vorher wissen solltest.“
Heinz lauschte wie versteinert Wagners Ausführungen. Dann sprang er ohne ein Wort auf und fegte in einem Anfall von Verzweiflung alle Zeitschriften und Papiere von seinem Schreibtisch. Das Zimmer sah aus wie nach einem Orkan, aber das war ihm egal. Mit zitternder Hand griff er nach seinem Handy.
Er starrte es an, hörte seine Mailbox ab, hackte auf die Tastatur, wie ein Klaviervirtuose. Mindestens zwanzig Mal versuchte er, Emilia zu erreichen, obwohl er wusste, dass sie so früh niemals ans Telefon ging. Aber sie hatte sich gestern Abend nicht gemeldet. Ihre Nummer erschien nicht in der Rufliste und sie hatte auch keine Nachricht hinterlassen. Schließlich musste er einsehen, dass seine Bemühungen sinnlos waren. Er versuchte, sich einzureden, dass Emilia nun einmal so war. Dass sie einfach vergessen hatte, ihn anzurufen. War ja nichts Neues.
Wagner hatte begonnen, die verstreuten Zeitschriften und Papiere einzusammeln, während Heinz Emilia eine Nachricht auf ihrer Mailbox hinterließ. „Die zweite Tote ist Luisa. Wenn du dich nicht spätestens bis Mittag bei mir gemeldet hast, versohl ich dir den Hintern. Das mein ich ernst!“
Dann sagte er zu Wagner: „Lass den Mist liegen. Das meiste gehört sowieso in den Papierkorb. Ich kümmere mich nach unserem Treffen mit Moser darum.“
Das war ja wohl der Gipfel der Frechheit. Meinten hier alle, sie könnten ihm auf der Nase herumtanzen? Konnte hier jeder machen, was er wollte? Moser saß, die Unterlagen vor ihm auf dem Tisch, mit klopfenden Fingern im Konferenzzimmer und sah auf seine Uhr. Bloß eine Minute vergangen, seitdem er das letzte Mal die Uhrzeit überprüft hatte.
Laura Campelli hatte Platz genommen und schwieg ihn an.
Sie spielte mit einem Knopf an ihrem zerknitterten Laborkittel und sah ebenfalls hin und wieder auf ihre Uhr. Möglicherweise konnte man den Stimmen Glauben schenken, die meinten, sie würde im Labor übernachten. Der Arbeitsmantel sah jedenfalls danach aus.
„Sie sind zu spät!“, war das Erste, was ihm einfiel, als Wagner mit Heinz Martin erschien.
„Wir waren beschäftigt“, antwortete Wagner.
Moser wunderte sich, wie Wagner mit dieser fragwürdigen Arbeitshaltung eine so hohe Aufklärungsrate erzielen konnte. Den Gedanken behielt er allerdings für sich. „Gut, dann können wir ja jetzt endlich anfangen.“
Wagner nickte. „Wir waren gestern Nachmittag in der Wohnung der Toten und haben ihre Zahnbürste mitgenommen. Laura hat sie mit der DNA des zweiten Opfers verglichen, und nun wissen wir, dass es sich um Luisa Peer handelt.“
Moser erstarrte. Sie waren in der Wohnung gewesen? Ohne ihn? Er schluckte, um die bittere Galle, die sich seine Kehle hinaufschlich, loszuwerden. Es wäre seine Angelegenheit gewesen, in diese Wohnung zu gehen.
Wagner musste seine Gedanken erraten haben, denn er sagte: „Natürlich wäre das in Ihre Zuständigkeit gefallen, aber wir hatten die Adresse von einer anonymen Quelle und wollten zuerst sicher sein, dass es sich tatsächlich um die Wohnung der Toten handelt, bevor wir die ganze Truppe hinschicken.“
Ein schwacher Trost.
Genauso hatte er es sich vorgestellt. Wagner agierte und er blieb auf der Strecke.
Umso mehr überraschte es ihn, dass Wagner sagte: „Jetzt liegt es an Ihnen, Moser. Schnappen Sie sich Laura und stellen Sie eine Mannschaft zusammen. Zerlegen Sie die Wohnung, sichten Sie alles, was Ihnen relevant erscheint, nehmen Sie mit, was Ihnen bedeutend vorkommt, und auch das, was unbedeutend wirkt. Ich will alles. Fingerabdrücke, Computerdaten, Fotos. Die ganze Palette.“
Moser starrte seinen Widersacher an. Er wusste nicht, ob er ärgerlich sein sollte, weil er herumkommandiert wurde, oder dankbar, weil er endlich etwas tun konnte.
Heinz starrte Wagner an. War er von allen guten Geistern verlassen worden? Wie konnte er Moser mit diesen wichtigen Dingen betrauen? Hatte er ihn nicht hergeholt, damit er sich um den Fall kümmern sollte?
Laura würde brillante Arbeit leisten, daran zweifelte er keinen Augenblick. Aber Moser?
„Und was tu ich in der Zwischenzeit?“, fragte er Wagner.
„Ich brauch dich in einer anderen Angelegenheit“, war Wagners kryptische Antwort.
Moser und Laura verließen hintereinander das Besprechungszimmer, um Wagners Anweisungen zu folgen.
Als sie außer Hörweite waren, legte Heinz los: „Spinnst du? Ich dachte, du würdest das übernehmen. Was sollte das denn gerade?“
Wagner seufzte. „Du solltest mir vertrauen. Du kennst mich schon lange genug.“
Da hatte Wagner recht. Aber im Moment fiel es Heinz schwer, Wagners Entscheidung hinzunehmen, auch wenn er sich dabei bestimmt etwas gedacht hatte.
„Erstens braucht Moser etwas zu tun. Mit Laura im Schlepptau wird er nichts übersehen. Und wenn sie in Hochform ist, dann wird es bestimmt kein Vergnügen für ihn.“
Heinz musste wider Willen grinsen. Ja, das konnte er sich lebhaft vorstellen: Nichts anfassen, gehen Sie aus dem Weg, treten Sie nicht dahin und nicht dorthin ... Er konnte Lauras Anweisungen förmlich hören.
„Und zweitens?“, fragte er schon ein wenig beruhigter.
„Solange er beschäftigt ist, statten wir der Wohnung deiner Schwester einen Besuch ab.“
Für einen kurzen Moment hatte Heinz das Gefühl gehabt, von seinem Freund im Stich gelassen zu werden. Jetzt schämte er sich wegen seiner Gedanken.
„Sag, warum hast du Moser nicht von ihr erzählt? Eine anonyme Quelle, hm?“ Wagner starrte ihn an, als käme er vom Mond.
„Die Sorge um Emilia hat dir anscheinend den Kopf vernebelt. Oder vielleicht war’s auch der Alkohol, den du in dich hineinschütten musstest, nachdem du mich nach Hause gebracht hast. Ja, ich brauch dich nur ansehen, um Bescheid zu wissen. Wenn sich herumspricht, dass deine Schwester, auf welche Weise auch immer, in diese Fälle involviert ist, bist du weg vom Fenster. Du kannst dann nur noch von Weitem zusehen.“
Heinz starrte Wagner mit müden, blutunterlaufenen Augen an. Das hatte er nicht bedacht. Wagner war ein besserer Freund, als er geahnt hatte.
„Danke!“, war das Einzige, das er mit gesenktem Kopf rausbrachte.
„Schon gut! Sauf soviel du willst, wenn das hier überstanden ist. Ich bin dann gern mit von der Partie. Aber bis dahin reißt du dich gefälligst zusammen. In deinem jetzigen Zustand nützt du dir nicht, mir nicht und schon gar nicht Emilia.“
War sein Freund eigentlich immer schon so ein Arsch gewesen? Heinz konnte sich nicht erinnern, dass Wagner jemals zuvor so mit ihm geredet hätte. Seine Worte wirkten wie ein kalter Regenguss und schwemmten den Restalkohol und die Müdigkeit fort. Schlagartig fühlte er sich nüchtern und auch seine
Kopfschmerzen waren kaum noch der Rede wert. Vielleicht wirkte auch nur das Aspirin endlich.
Christian räumte das Essen von Janas Nachttisch. Er hatte sich selbst übertroffen und ein vorzügliches Mahl gezaubert. Besser hätte es Mutter auch nicht hinbekommen.
Der gestrige Ausbruch in der Küche hatte ihm gutgetan. Jeder konnte einmal Schwäche zeigen, auch er.
Christian trug das Tablett die Treppe hinunter in die Küche, beförderte die eingetrocknete Mahlzeit in den Mülleimer und stellte den Teller zum Einweichen in die Spüle. Dann blickte er auf die Uhr. Er sollte dringend nach Emilia sehen. Die Tropfen würden nicht mehr lange wirken.
Gerade als er die Tür zum Keller erreichte und seine Hand nach der Klinke ausstreckte, ließ ihn eine Melodie zusammenfahren. Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, dass es sich um ein Mobiltelefon handeln musste. Und da es nicht seins war, konnte es nur aus Emilias Tasche kommen, die er unachtsamerweise auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte.
Das durfte nicht wieder passieren! Die Melodie war verstummt, doch sofort ertönte sie erneut. Christian versuchte, den Klingelton zu ignorieren. Er hatte einen Fehler gemacht, einen kleinen, der nicht ins Gewicht fiel. Es war nichts passiert, dennoch durfte er nicht zulassen, dass ihm noch einmal einer unterlief. Schon wieder läutete Emilias Handy. Christian kramte in der Tasche danach und klappte es auf, während es in seiner Hand vibrierte und Mozarts „Kleine Nachtmusik“ spielte, aufhörte, um gleich darauf wieder zu beginnen. Wer war hier so hartnäckig? Oder verzweifelt? Er blickte auf den Namen des Anrufers. Heinz. In seinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Heinz. Emilia. Martin. Emilia Martin. Heinz Martin. Heinz Martin. Heinz Martin.
Schon als er Emilias Nachnamen erfuhr, hätte er ihn erkennen müssen. So häufig war der Name nicht. Wieder ein Fehler. Aber kein unbedeutender, sondern ein gravierender.
Wie stand Emilia mit Heinz in Verbindung? Waren sie verheiratet? Wohl kaum. Er hatte sie beobachtet. Ein Mann wäre ihm aufgefallen. Besonders dieser Mann. Den würde er unter hundert wieder erkennen, auch wenn es schon viele Jahre her war. Vielleicht geschieden? Egal, das würde er herausfinden. Auf jeden Fall veränderte seine Entdeckung einiges. Jetzt galt es besonnen vorzugehen und nichts zu überstürzen. Jana würde noch ein wenig länger auf ihr Augenlicht warten müssen.
Er hatte zu tun, aber vorher musste er nach Emilia sehen, ihr noch mehr von den Tropfen einflößen, um sie ruhigzustellen. Er wusste noch nicht, wohin ihn diese neue Entwicklung führte, aber sie bot einen interessanten Aspekt. Rache üben, Vergeltung suchen, er hatte lange Zeit an nichts anderes denken können. Dann waren diese Gefühle von seinen Sorgen um Jana und ihrer zeitintensiven Pflege überlagert worden. Und nun bot sich ihm die Gelegenheit, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Er musste es nur geschickt anstellen. Keine Fehler mehr!
Zufriedenheit durchströmte ihn, wie er es sonst nicht kannte. Emilia würde großen Durst haben. Er füllte Wasser in einen Schnabelbecher, gab zwanzig Tropfen aus dem braunen Fläschchen dazu und machte sich auf den Weg in den Keller.
Moser war voller Enthusiasmus gewesen. Nun stand er in der Wohnung der verstorbenen Luisa Peer und alles lief anders, als er gehofft hatte.
Laura war mit ihrem Team ausgeschwärmt. Sie sicherten überall Spuren. Egal, wo er sich hinwandte, hieß es: „Platz da!“ und „Finger weg! Da müssen wir zuerst ran.“
Er verfluchte Wagner, der ihn in diese Situation hineinmanövriert hatte. Und das mit voller Absicht, davon war Moser überzeugt. Laura Campelli sah in ihrem weißen Schutzanzug wie eine Außerirdische aus. Da waren ihm noch ihre überweiten Labormäntel lieber. Sie verstand etwas von ihrer Arbeit, das musste er ihr lassen. Unter anderen Umständen hätte er es genossen, ihr zuzusehen. Sie hatte ihre Mitarbeiter im Griff, schien überall gleichzeitig zu sein und gab knappe Anordnungen, ohne unfreundlich zu sein. Außer ihm gegenüber.
„Müssen Sie uns im Weg stehen?“, fragte sie ihn, als sie sich an ihm vorbeidrängte, um in die Küche zu gelangen.
„Na, entschuldigen Sie! Ich sollte doch mitkommen.“
„Dann machen Sie sich nützlich und fragen die Nachbarn, ob die was gesehen oder bemerkt haben.“
Moser war das gar nicht recht. Er wollte dabei sein, wenn sie etwas Relevantes fanden. Außerdem gab es für diese undankbare Arbeit uniformierte Beamte. Seine Aufgabe bestand darin, die gesammelten Informationen auszuwerten und seine Schlüsse daraus zu ziehen. Möglichst die richtigen.
Laura stand mit verschränken Armen vor ihm und wartete. Zum Teufel auch mit dieser Frau. Die war schlimmer als Wagner und Martin zusammen. Vor ihr würde er sich noch in Acht nehmen müssen. Er tat besser daran, es sich mit ihr nicht zu verscherzen. Bei diesem Fall war er auf sie angewiesen und er würde es auch in Zukunft noch öfter sein. Seufzend drehte er sich zur Wohnungstür um. Dann ging er eben Klinkenputzen. Und wer wusste schon, was er dabei herausfand. Vielleicht würden ausgerechnet seine Befragungen den Durchbruch bedeuten. Ja, ja! Träum weiter, schalt er sich. Er läutete an der Nachbartür. Wenigstens kam er sich jetzt nicht mehr ganz so überflüssig vor.
Emilia stöhnte. Ein Geräusch drang in ihre Träume. Jemand rief ihren Namen. Sie musste genau hinhören, um ihn zu verstehen.
„Emilia, Kleine, bist du wach?“
Sie hätte gerne geantwortet, aber ihr Hals war ausgedörrt. Sie hatte schrecklichen Durst. Sie brauchte etwas zu trinken. Vielleicht hatte sie es laut ausgesprochen, denn in diesem Moment schob sich eine Hand unter ihren Nacken und hob ihren Kopf an. Etwas Hartes wurde ihr zwischen die Lippen geschoben und gleich darauf benetzte kühles Wasser ihre Zunge. Das Schlucken fiel ihr schwer. Ihr Mund fühlte sich an, als hätte sie einen Wattebausch darin. Sie wollte reden, fragen, was passiert war, wo sie sich befand. Ihr Gehirn gab ihr die Worte vor, doch ihre Lippen weigerten sich, die Befehle umzusetzen. Ihre Zunge war ihr im Weg, ein riesiger Fremdkörper in ihrem Mund.
„Trink! Dann geht es dir besser“, hörte sie eine Stimme sagen. Sie klang dumpf, als wäre sie von Wasser umgeben. Eine angenehme Stimme, die ihr vertraut vorkam. Sie tat, was ihr gesagt wurde. Sie trank. Die Flüssigkeit schmeckte nach Metall und rann ihr die Kehle hinunter. Sie kam kaum mit dem Schlucken nach. Sie wollte nach dem Plastikding greifen, es wegschieben, aber ihre Arme und Hände gehorchten nicht. Also blieb ihr nichts übrig, als das Wasser hinunterzuwürgen. Sie musste husten und spürte, wie es nass über ihr Kinn den Hals hinunterrann. Die Hand hob ihren Kopf ein wenig höher, der Husten hörte auf und wieder zwängte sich das Kunststoffteil zwischen ihre Lippen.
Das Trinken strengte sie an. Vielleicht war sie krank. Ja, das musste es sein. Sie fühlte sich schwach und fiebrig.
„So ist’s brav!“
Sie bemühte sich, die Augen zu öffnen, um zu sehen, wem die Stimme gehörte, doch die Anstrengung war zu groß, also ließ sie es bleiben. Es war auch nicht so wichtig. Nichts war wichtig. Ihr Herz begann zu rasen, ihr wurde warm und dann heiß. Plötzlich war das Gefühl, unter Wasser zu sein, real. Sie bekam nicht genug Luft, konnte nicht reden, konnte nicht einmal schreien.
„Emilia, wer ist Heinz?“
Heinz? Wer war Heinz? Tief in einer Gehirnwindung versteckt tauchte ein Bild auf. Ein Gesicht, von einem Mann, den sie kannte, der zwiespältige Gefühle in ihr weckte. Zuneigung, Bewunderung, Geborgenheit, aber auch Schuld und Unzulänglichkeit. Ach ja, Heinz war ihr Bruder. Alles würde gut, wenn Heinz kam. Und er würde kommen, bestimmt. Er kam immer, wenn sie ihn brauchte. Die Stimme fragte wieder nach Heinz. Sie klang eindringlich, hypnotisch. Sie zwang sie zu antworten.
„Bruder“, war alles was sie herausbrachte und dafür brauchte sie all ihre Kraft. Die Hand, die zuvor ihren Kopf gestützt hatte, zog sich zurück. Emilia fühlte sich allein gelassen, verloren. „Bleib hier! Ich habe Angst!“, schrie ihr Herz. Doch kein Laut kam über ihre Lippen. Sie merkte, wie sie langsam wieder in die Traumwelt abdriftete. Sie fühlte, wie jemand über ihr Haar strich. Die Stimme sagte: „Danke für die Auskunft. Sie hat mir sehr geholfen.“ Warum klang sie dann nicht dankbar oder erleichtert? Sie hörte sich kalt an, sodass sie trotz der Hitze in ihrem Körper plötzlich fror. Da war ein Ort, an dem sie schon gewesen war, an dem sie sich sicher fühlte. Ihr Geist machte sich auf die Suche, aber er fand den Weg dorthin nicht mehr. Sie hatte sich verirrt. Verirrt in dem Schwarz, aus dem es kein Entkommen gab.