Читать книгу Der Augenschneider / Das Liliengrab: Zwei Romane in einem Band - Valentina Berger - Страница 21

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Kapitel 12

Das erste Mal hatte Wagner geschluckt, als sie den Kühlraum betraten. „Ich hasse das. Sie kommen mir so eingesperrt vor“, hatte er zu Heinz gesagt.

„Die stören sich nicht daran, kann ich dir versichern“, war seine Antwort gewesen. Anhand einer Liste hatte er die vorläufige Ruhestätte von Vivian Steiner gesucht, die Luke entriegelt und die Bahre herausgezogen. Da schluckte Wagner erneut und hielt sich vorsorglich die Hand vor den Mund.

„Ich glaube, du bist entwöhnt. Man sieht ja noch gar nichts.“ Heinz schlug die weißen Laken zurück, in die der Körper gewickelt war.

„Oh, mein Gott!“ Wagner starrte die Leiche an, sein Gesicht hatte fast die bleiche, wächserne Farbe, wie Vivians Körper.

„Wer tut denn so was?“ Wagners Stimme war ein Flüstern.

„Genau darum bist du hier. Um das herauszufinden.“ Heinz ging seitlich an die Trage und hob Vivian an, damit Wagner sich auch ein Bild von ihrer Rückseite machen konnte.

„Die andere, Luisa, sieht ebenso aus, wenn nicht sogar noch schlimmer.“ Und wenn sie nicht schnell was unternahmen, würde Emilia vielleicht auch bald so aussehen. Das wagte er zwar nicht auszusprechen, aber das brauchte er auch nicht. Er sah seinem Freund an, dass der das Gleiche dachte.

„Und außer dem Scopolamin gibt es nichts? Keine Spuren? Keine Hinweise?“ Heinz schüttelte den Kopf. „Der Täter ist sehr vorsichtig. Keine Fingerabdrücke, nichts.“

„Und am Fundort?“

„Wir wissen, dass sie nicht an dem Ort getötet worden sind, an dem sie gefunden wurden. Es scheint, als könne er fliegen. Es gibt weder Fuß- noch Fahrzeugspuren. Einfach nichts. Nicht einmal Schleifspuren an den Opfern. Er muss sie getragen haben.“

„Nichts gibt es nicht. Jeder hinterlässt Spuren, man muss sie nur finden.“

„Wenn du dich mit Laura anlegen willst, dann sag das mal laut. Du kennst sie. Sie würde niemals pfuschen. Was sie nicht findet, ist nicht dort.“

Wagner schloss die Augen. Weil ihm übel war oder weil er nachdachte. Heinz Martin verstaute Vivian und holte nun Luisa Peers Leiche aus der Kammer.

Wagner öffnete die Augen. Der Widerwille war ihm anzusehen. So wie Heinz ihn kannte, hätte er sich diesen Anblick lieber erspart. Er starrte Luisa wortlos an. Er gab auch keinen Laut von sich, als Heinz sie, so wie die andere vorher, anhob.

Immer noch stumm wandte sich Wagner ab und ging zum Ausgang, um von Weitem zuzusehen, wie er Luisa ebenfalls wieder in ihr kühles Lager schob.

„Also? Was meinst du?“

„Das ist krank!“, brachte Wagner hervor. Sein Gesicht war immer noch so weiß wie die Laken.

„Und ich spinne nicht, wenn ich davon ausgehe, dass hier ein Serienmörder am Werk ist?“

Wagner überlegte sich seine Antwort gut. „Nein, ich denke, du hast recht. Hat sich eigentlich irgendwer darum gekümmert, ob es ähnliche Morde gegeben hat? Vielleicht auch in anderen Teilen des Landes? Es kann natürlich sein, dass er erst angefangen hat. Aber das glaub ich nicht. Dafür wirkt er mir zu erfahren, zu fehlerfrei. Der hat schon geübt.“

Heinz schloss die Tür zum Kühlraum, schob den schweren Riegel vor die dicke Stahltür und fragte sich, wie jedes Mal wenn er hier unten war, wozu dieser überhaupt diente. Als ob die Toten herauskönnten.

„Heinz? Hat schon jemand nach ähnlichen Fällen Ausschau gehalten?“

„Weiß ich nicht! Moser erzählt mir ja nichts. Aber dir wird er es sagen.“

„Darauf kannst du dich verlassen. Komm wir gehen.“

„Wohin?“

„Zu Moser. Der braucht was zu tun“ und als Heinz die Stirn runzelte, setzte Wagner hinzu: „Jetzt sei nicht komisch. Wir brauchen jede Hand, jeden Kopf. Wir zwei im Alleingang schaffen das nicht.“

Heinz verstand sehr wohl die unausgesprochenen Worte: zumindest, wenn wir Emilia rechtzeitig finden wollen.

Er nickte kaum merklich.

Moser hatte mit Luisa Peers Eltern telefoniert. Natürlich ersetzte ein Telefonat kein persönliches Gespräch, bei dem man seinem Gegenüber in die Augen sehen und dessen Körpersprache mit einbeziehen konnte. Trotzdem meinte er, dass sie sehr gefasst, wenn nicht gar kühl auf seine Nachricht vom Tod ihrer Tochter reagiert hatten. Eigentlich war seine Arbeit für den heutigen Tag erledigt und er konnte nach Hause gehen. Er dachte daran, dass er einkaufen wollte. Nein, musste. So, wie er jetzt lebte, war das kein Dauerzustand, er musste etwas ändern und zwar möglichst bald. Warum also nicht mit dem Einkaufen anfangen? Ein bisschen Obst und Gemüse, Brot, Wurst, lauter vernünftige Dinge. Er war gerade aufgestanden und wollte sein Sakko von der Rückenlehne seines Sessels nehmen, als es an seiner Tür klopfte und Wagner mit seinem Schoßhündchen Heinz Martin im Schlepptau eintrat.

Fast wäre er stramm gestanden, so eine Autorität strahlte sein Rivale aus. Ein Grund mehr, ihn zu hassen.

„Kommen Sie, wir müssen ins Besprechungszimmer. Und rufen Sie Laura dazu.“

„Was zum Teufel ...?“ Moser ließ sich wieder auf seinen Sessel fallen.

Wagner seufzte. „Es wird Zeit, dass wir unsere Ergebnisse zusammentragen. Ich habe gern alle um mich. Viele Köche verderben nicht den Brei, wie manche meinen. Viele Köpfe bedeuten für mich vielfältige Meinungen und Sichtweisen.

Und wir können alle Unterstützung brauchen, die wir kriegen.“

Dann drehte er sich um und verließ das Zimmer. Die Tür blieb offen, als wollte er damit andeuten, er solle sich beeilen.

Moser griff fluchend zum Telefon und wählte Laura Campellis Nummer in der Forensik. Nachdem sie zugesagt hatte, später nachzukommen, erhob er sich schwerfällig. Immer noch hatte er das Gefühl, seine Beine würden einem anderen gehören und sein Kopf wäre ein Fremdkörper, der gar nicht dorthin passte, wo er saß. Diese verdammten Tabletten!

Während er den Gang entlangging, an dessen Ende der Besprechungsraum lag, fragte er sich, ob es schlimm wäre, noch ein paar mehr zu schlucken, zu warten, bis sie wirkten und dann das Gaspedal durchzutreten. Dann dachte er an seine Frau und seine Tochter. Nein, ihm war es nicht vergönnt, sich aus dem Leben zu stehlen. Seine Schuld war noch nicht abgegolten, er hatte nicht genug bezahlt. Er hatte sich selbst dazu verdammt, mit ihr zu leben. Das war seine Buße. Und es gab nichts und niemanden, der ihm helfen hätte können.

Heinz schaute auf, als Moser durch die offene Tür zum Besprechungszimmer trat. Was der auch immer gerade getan hatte, er sah aus, als würde er gleich zusammenbrechen. Die eingefallenen Wangen Mosers hatte er bisher noch nie bemerkt. Auch nicht die tiefen Ringe, die unter seinen Augen eingegraben schienen. Vielleicht fühlte er sich mit den Mordfällen überfordert. Dann würde er nicht lange in diesem Job bleiben. Hier stand man ständig unter Strom, musste immer bereit sein, an seine Grenzen und darüber hinauszugehen. Es galt, dem Verbrechen auf den Fersen zu bleiben, das Tempo zu erhöhen, sodass man möglichst bald den Tätern einen Schritt voraus war. Im Moment kam es Heinz allerdings so vor, als lägen sie meilenweit hinter dem Mörder und anstatt zu rennen, humpelten sie mehr schlecht als recht hinter ihm her.

Moser ging um den Tisch herum und setzte sich Heinz Martin und Wagner gegenüber.

„Campelli kommt nach.“

Wagner nickte. „Gut, wir können schon ohne sie anfangen. Haben Sie etwas herausfinden können?“

„Die Hausmeisterin hat Luisa Peer nicht besonders gemocht. Sie sei ein Flittchen gewesen. Ihr Nachbar hält hingegen große Stücke auf sie. Wobei man von beiden Aussagen nicht viel halten kann.“

„Was noch?“ Wagner konnte seine Ungeduld wieder einmal kaum zähmen.

„Ich warte auf einen Beschluss, um Luisa Peers Handy orten zu dürfen. Vielleicht führt uns das zum Täter.“

„Der wird nicht so blöd sein und es behalten“, meinte Heinz.

„Wer weiß. Auf jeden Fall schadet es nicht“, widersprach ihm Wagner. „Haben Sie eigentlich schon mal nachgeprüft, ob es bundesweit ähnliche Morde gegeben hat?“, wollte er nun von Moser wissen.

Der stutzte. „Ähm. Nein, ich ...“

Wagner schnitt ihm das Wort ab. „Ich bin überzeugt davon, dass Sie was finden. Klemmen Sie sich dahinter.“

„Das heißt, auch Sie sind davon überzeugt, dass es sich um einen Serientäter handelt? Man kann doch nicht bei zwei ähnlichen Morden davon ausgehen. Es könnte auch ein Nachahmungstäter sein. Vivian Steiners Verletzungen wurden in allen Zeitungen gezeigt. Da hätte ein Verrückter erst auf die Idee kommen können.“

„Und was ist mit dem Scopolamin? Das wurde von der Presse nicht erwähnt.“ Heinz ärgerte sich, weil Moser immer noch daran festhielt, es handle sich um zwei verschiedene Täter.

„Das wurde ja nur bei Luisa Peer nachgewiesen. Bei Steiner nicht“, entgegnete Moser.

„Aber auch sie hatte ein Beruhigungsmittel im Blut, wir konnten nur nicht feststellen, welches.“

Wie konnte jemand nur so verbohrt sein? Die Sache würde anders aussehen, wenn Moser von Emma erführe. Sie war das Glied, das ihm fehlte. Sie hatte beide Opfer gekannt. Und trotzdem konnte er es ihm nicht sagen.

In diesem Moment kam Laura Campelli herein. „Guten Abend die Herren!“ Sie nahm sich einen Sessel und setzte sich.

„Bevor ihr mich löchert: Auf dem Terminkalender sind nur Luisas Fingerabdrücke drauf. Im Rest der Wohnung? Nun, bei ihr herrschte reges Kommen und Gehen. Wir haben verschiedene Abdrücke gefunden, die wir nicht eindeutig zuordnen können. Freunde, Liebhaber, keine Ahnung. Konten, Computer und einen digitalen Fotoapparat müssen wir noch überprüfen.“

„Sonst gibt es nichts?“ Wagner war wieder einmal ungeduldig und spielte mit dem Feuer. Laura konnte ganz schön biestig sein, wenn man sie unter Druck setzte, aber diesmal lächelte sie. „Doch, das Beste habe ich mir für den Schluss aufgehoben. Sie wurde von einer Agentur betreut. Wir haben ihre Fotomappe gefunden. Und da sind sehr schöne Fotos drin. Auf einigen ist sie mit anderen Mädchen abgelichtet – und eine davon ist Vivian Steiner.“

Triumphierend blickte sie in die Runde. „Was ist? Hat es euch die Sprache verschlagen?“

„Weiß man, wer die anderen Mädchen sind?“, wollte Moser wissen.

„Darum müsst ihr Jungs euch kümmern. Ich hab hier den Namen der Agentur.“ Laura holte aus der Brusttasche ihres Arbeitskittels einen zusammengefalteten Zettel und warf ihn auf den Tisch. Heinz beugte sich vor und griff danach, doch Moser war schneller. Er glättete den Zettel und las vor: „Modelagentur Star-Line. Eine Adresse am Graben, ganz schön nobel.“

„Die Agentur übernehmen wir“, sagte Wagner. „Sie können schließlich nicht alles machen, und erst mal ist es wichtiger, Sie kümmern sich darum, ob es vergleichbare Morde gegeben hat.“

Widerwillig übergab Moser Wagner den Zettel. Es war fast ein symbolischer Akt. Heinz fragte sich, ob das jemandem anderen ebenfalls aufgefallen war.

Er wusste genau, warum sein Freund das tat. Es ging ihm nicht darum, den Chef hervorzukehren. Wenn Moser bei dieser Agentur auf Emilias Namen stieß, würde er eins und eins zusammenzählen. Sie trugen den gleichen Nachnamen. Wie hoch konnte die Wahrscheinlichkeit sein, dass es sich dabei nur um einen Zufall handelte?

„So, und nun an die Arbeit! Bis morgen, gleiche Zeit.“ Wagner stand auf. Das Signal dafür, dass die Besprechung beendet war.

Nachdem Moser und Laura gegangen waren, schaute Wagner auf seine Uhr.

„Los, es ist kurz nach sechs. Ich möchte mir die Fundorte ansehen, bevor es dunkel wird.“

„Was versprichst du dir davon? Laura hat mit ihrem Team alles abgegrast.“

„Ich muss ein Gefühl für den Mörder bekommen, muss sehen, wo er die Leichen abgeladen hat. Ob er die Plätze zufällig oder bewusst gewählt hat.“ Heinz fischte seine Autoschlüssel aus seiner Hosentasche. „Ich bin bereit.“

Der Augenschneider / Das Liliengrab: Zwei Romane in einem Band

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