Читать книгу Der Augenschneider / Das Liliengrab: Zwei Romane in einem Band - Valentina Berger - Страница 20

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Kapitel 11

Christian war auf der Suche. Er brauchte eine Frau. Irgendeine. Diesmal musste sie nicht seinen hohen Ansprüchen gerecht werden. Sie sollte nur ein Spielstein sein. Planlos fuhr er mit dem Auto durch die Straßen.

Er war wieder Jäger. Der böse Wolf aus dem Rotkäppchen-Märchen. „Dem bösen Wolf wurde der Bauch aufgeschnitten“, wandte seine Mutter ein. Er wusste, dass sie ihn von seinem Vorhaben abhalten wollte, doch das würde ihr nicht gelingen.

„Der Wolf hat einen Fehler gemacht. Er ist eingeschlafen, nachdem er das Rotkäppchen verschlungen hat. Das wird mir nicht passieren. Ich mache keine Fehler.“

Er spürte die Missbilligung seiner Mutter, aber sie sagte wenigstens nichts mehr. Das war auch besser so. Gerade eben hatte er das entdeckt, was er gesucht hatte. Das Spiel konnte beginnen.

Heinz Martin hatte sich eine Zeitung besorgt. Das hieß, er hatte sie im Pausenraum einem jungen Streifenpolizisten aus der Hand gerissen und dafür verständnisloses Kopfschütteln geerntet, bis er kurz und bündig erklärt hatte, er brauche sie für eine laufende Ermittlung. Jetzt starrte er auf den Bericht über die Vernissage, immer wieder las er sich die wenigen Zeilen durch, als würde seine Willenskraft den Namen des Mannes erscheinen lassen können, der neben Emilia stand. War er der Täter? Oder doch nur ein unbescholtener Besucher, der sich mit ihr über das Bild unterhielt? „Russischer Winter“ hieß das Gemälde. Der Titel passte zu dem Sturm in seinem Inneren, der sein Herz langsam in einen Eisklumpen verwandelte. Er riss das Foto aus der Zeitung heraus und warf den Rest in den Papierkorb. Wagner hatte recht gehabt. Er musste auf der Stelle zu seinem Freund zurück. Emma, was hast du getan?

Es war schon drei Uhr und sie hatte sich immer noch nicht bei ihm gemeldet. Ja, sie war nicht gerade ein Ausbund an Pünktlichkeit, und ja, sie war unzuverlässig und scherte sich keinen Deut darum, wie es anderen, speziell wie es ihm, ging. Aber nun glaubte er nicht mehr, dass sie vergessen hatte, ihn anzurufen. Nicht seit gestern Abend. Warum wurden immer die schlimmsten Befürchtungen wahr? Selbsterfüllende Prophezeiungen? Oder war es einfach eine Portion Realismus und Voraussicht? Der letzte Funke Hoffnung war in seinem Herzen verglommen. Emma war etwas passiert.

Und jetzt? Ruhe bewahren, so schwer es ihm auch fiel. Die meisten Mordfälle lösten er und Wagner mit Hirn, Kombinationsgabe und Intuition. Das mochte für manche vielleicht lächerlich klingen. Emilias einzige Chance bestand darin, dass er diese drei Dinge nicht aufs Spiel setzte, indem er verzweifelte. Er atmete tief durch und straffte seine Schultern. Dieser Killer hatte sich mit den falschen Personen angelegt.

Wagner hatte drei Leberkäsesemmeln verdrückt. Die vierte schaffte er nicht mehr. Heinz war seit seinem abrupten Aufbruch noch nicht zurückgekehrt. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er durchdrehte. Wagner kannte seinen Freund. Dessen wohldurchstrukturiertes, geordnetes Weltbild war ins Wanken geraten.

Emilia schien ganz das Gegenteil von Heinz zu sein. Darum kamen die beiden auch nur schwer miteinander zurecht.

Heinz war am Tiefpunkt einer emotionalen Achterbahnfahrt angelangt, und Wagner hoffte für seinen Freund, dass es ab jetzt bergauf für ihn ging. Doch falls Emilia bereits tot war, würde es kein Bergauf geben. Wie sollte er ihn dann auffangen?

Sei nicht so negativ, schalt er sich. Solange ihre Leiche nicht gefunden ist, besteht Hoffnung.

Just in diesem Moment kam Heinz durch die Tür. Ein Blick genügte Wagner, um die Veränderung an ihm zu erkennen. Genau das war Heinz, der

Gerichtsmediziner. Heinz, der zu seiner Hochform auflief, wenn es besonders knifflig wurde. Der ein „unmöglich“ nicht gelten ließ und sich mit halben Sachen nicht zufriedengab.

Das war Heinz, mit dem er durch dick und dünn gehen würde, und wenn der Weg noch so holprig wäre.

„Du kommst zu spät, es ist nur noch eine Semmel da, und die ist schon kalt“, quittierte er das Erscheinen seines Freundes.

Grimmig schnappte der sich die Leberkäsesemmel, biss ein großes Stück ab und meinte, nachdem er runtergeschluckt hatte: „Hast du die anderen alle gegessen?“

Wagner nickte. „Du wolltest sie ja nicht.“

Heinz lächelte und dieses Lächeln gefiel Wagner ganz und gar nicht.

„Hättest du nicht tun sollen. Wir fahren ins Institut hinüber und schauen uns Luisa und Vivian noch mal an.“

Wagner schluckte. Schon eine der Semmeln hätte gereicht, um ihm bei einer Autopsie übel werden zu lassen. Er hatte sich an den Anblick von Leichen immer noch nicht gewöhnt. Am Schlimmsten war es, wenn Heinz sie obduzierte. All die Organe. Der Geruch. Schon der Gedanke daran bereitete ihm Magengrummeln.

„Muss das sein? Ich mein, so kurz nach dem Essen?“

Doch sein Freund kannte kein Erbarmen.

„Was glaubst du zu finden, das du nicht schon entdeckt hast?“, versuchte er es noch einmal.

„Jetzt komm schon, du Hasenfuß! Ich habe nichts übersehen. Aber es wird Zeit, dass du mit allen Fakten vertraut wirst – und dazu gehört, dass du dir die beiden anschaust. Solange du keine Beziehung zu den Opfern herstellst, solange läufst du nur auf halben Touren. Und ich brauche dich, mit allem, was du zu bieten hast.“

Darauf konnte Wagner nichts erwidern. Halbe Touren waren schon recht

beachtlich bei ihm. Er setzte sich immer für seine Fälle ein – mehr als andere Ermittler es taten. Deshalb war er erfolgreich in seinem Job. Aber immer, wenn er diese „Beziehung“, wie Heinz es nannte, zu dem Opfer fand, wurde er zum Bluthund. Dann bekam er den richtigen Biss und ruhte solange nicht, bis er den Täter fand, koste es, was es wolle.

Nicht nur er kannte Heinz. Heinz kannte ihn ebenfalls.

Seufzend erhob er sich. Die drei Leberkäsesemmeln lagen wie Steine in seinem Magen.

„Du weißt, was du mir da abverlangst?“

„He, dafür bist du schließlich hergekommen, oder? Davon hättest du in Innsbruck nur träumen können.“

Heinz hatte seine flapsige Art zurückgewonnen. Wagner hätte ihn dafür am liebsten umarmt. Er musste grinsen, als er sich vorstellte, wie Heinz wohl auf solch eine körperliche Zuwendung reagieren würde.

„Dann komm, bringen wir’s hinter uns.“ Wagner ging zur Tür. „Was ist jetzt? Kommst du?“, drehte er sich nach Heinz um.

Zögernd setzte der sich in Bewegung. „Danke!“, sagte Heinz.

„Schon gut. Und jetzt gehen wir. Ich kann es kaum erwarten, diese

Leberkäsesemmeln wieder loszuwerden.“

„So ein verdammter Mist!“ Sonja Kellermann stand in ihrem Badezimmer, inmitten eines Chaos’ aus uneingeräumten Handtüchern, Teilen des Badezimmerschrankes, der noch immer darauf wartete zusammengebaut zu werden, Verpackungskartons und Schrauben, die nirgendwo hinzugehören schienen.

So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Helmut hätte hier sein sollen. Er hätte diesen verdammten Schrank zusammenschrauben sollen. Eine einzelne Träne rollte ihre Wange hinunter, die sie sogleich wütend fortwischte.

Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel, musterte ihre Augen. Du schaffst es schon, sprach sie sich Mut zu. Sie hob ihr T-Shirt, betrachtete ihre Brüste und fand, dass sie aussahen wie immer.

Schön blöd von dir. Du bist Ärztin. Du hättest die Anzeichen erkennen müssen. Ihr Blick fiel auf den Schwangerschaftstest auf dem Waschbecken.

Jetzt, wo sie es blau auf weiß vor sich hatte, konnte sie es nicht länger ignorieren. Perfekt hatte sie ihre Übelkeit und Geruchsempfindlichkeit verdrängt. Sie hatte die überfällige Periode auf den Umzugsstress geschoben, aber nun gab es keine Ausreden mehr. Wie konnte das passieren? Blöde Kuh! Wie das nun mal passiert.

Sie hatte nur ein Mal die Pille vergessen. Ein einziges Mal. Verdammt! Verdammt! Verdammt!

Im Grunde war es gut, dass Helmut nicht da war. Wie hätte sie ihm ins Gesicht sehen sollen? Er hätte sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Sie hätte es ihm sagen müssen, weil sie nicht gut lügen konnte, und weil er sich Sorgen gemacht hätte, es könnte etwas Schlimmes sein.

Wie hätte er die Nachricht aufgenommen? Was, wenn er sich nach dem ersten Schock gefreut hätte?

Sie hatten nie über Kinder gesprochen. Es schien für beide klar zu sein, dass sie zunächst einmal für sich sein wollten. Die Zweisamkeit genießen, sich in ihren Jobs etablieren.

Sie hatte ein wunderbar romantisches Bild ihrer Zukunft vor Augen. Schreiende Babys und volle Windeln waren nicht vorgesehen. Sollte sie etwa all die Jahre studiert haben, um jetzt zu Hause zu hocken? Helmut bedeutete sein Job alles. Sie wusste, dass nicht einmal sie es geschafft hatte, den ersten Platz auf seiner Favoritenliste einzunehmen. Würde sie eine Entscheidung herausfordern, würde sie unweigerlich den Kürzeren ziehen. Das war ihr schon bewusst gewesen, als sie Helmut kennengelernt hatte. Aber das nahm sie in Kauf. Ihr ging es ähnlich. Deshalb passten sie so gut zueinander. Vielleicht war es dieses Wissen der eigenen Entbehrlichkeit im Leben des anderen, das ihre Liebe noch kostbarer machte. Nein, niemals konnte sie von ihm verlangen, für ein Kind aufzugeben, was ihm das Wichtigste im Leben war. Genauso wenig, wie er es von ihr verlangen konnte - wie sie es von sich selbst nie verlangen würde.

Sie sah noch einmal in den Spiegel, fragte ihr Bild, ob sie sich noch selbst in die Augen würde sehen können, wenn sie dieses Kind nicht bekäme. Ihr Bild warf ihr die Frage zurück. „Kannst du dir in die Augen sehen, wenn du es bekommst, dann aber nicht mehr du selbst sein kannst?“

Sie schmiss den Teststreifen in den Mülleimer. Es war nie geschehen, war einfach nicht real. Aus den Augen aus dem Sinn. Ein, zwei Lidschläge zögerte sie noch. Dann klappte sie den Deckel entschlossen hinunter.

Morgen würde sie ins Krankenhaus gehen. Eine kleine Untersuchung, ein kurzes Gespräch, Narkose, nach dem Aufwachen ein dumpfer Schmerz im Unterleib, aber nichts, was sie nicht aushalten konnte. Es wäre nicht viel schlimmer als Regelschmerzen. Wenn sie sagte, sie sei zurzeit allein, würde sie über Nacht im Krankenhaus bleiben können, unter Aufsicht, um mögliche Komplikationen auszuschließen.

Keine große Sache. Im Grunde eigentlich nichts.

Christian wurde langsam nervös. Zuerst hatte er gedacht, er hätte die Richtige entdeckt. Er war schon auf sie zugesteuert, als ein hochgewachsener Mann auf die Frau zutrat, die beiden sich innig umarmten und Hand in Hand in einem Einkaufszentrum verschwanden. Und mit ihnen das Hochgefühl, das er bei ihrem Auftauchen empfunden hatte.

Emilia musste das Bewusstsein schon wiedererlangt haben, und der Gedanke an sie machte es auch nicht leichter, sich auf das zu konzentrieren, was vor ihm lag.

Um zehn nach Fünf schienen alle mit ihren Autos nach Hause fahren zu wollen, er kam nur im Schritttempo voran. Eine Lücke tat sich auf. Obwohl die Ampel schon auf Rot schaltete, gab er Gas, um noch rasch über die Kreuzung zu setzen. Plötzlich nahm Christian aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Reflexartig trat er auf die Bremse und konnte gerade noch anhalten, um die Frau nicht ernsthaft zu verletzen. Sie war zu früh losgegangen, wohl in der Annahme, die Autos würden ohnehin nicht weiterfahren. Eine Sekunde lang sah er nur ungläubige Überraschung in ihrem Gesicht, als sie zu Boden gestoßen wurde. Er stieg aus, um ihr aufzuhelfen.

„Mein Gott! Ist Ihnen etwas passiert?“

Hinter ihnen startete ein Hupkonzert, als die Ampel auf Grün umsprang, Christians Wagen jedoch die Fahrspur blockierte.

Sie reichte ihm ihre Hand und er zog sie hoch. „Ich habe nicht aufgepasst. Es geht mir gut.“

Doch kaum hatte sie ihr Gewicht auf ihren rechten Fuß verlagert, zuckte sie zusammen und griff sich ans Knie.

„Autsch! Das tut weh.“

„Kommen Sie, setzen Sie sich in meinen Wagen. Ich bin Arzt.“ Wie leicht ihm das von den Lippen kam. Er konnte stolz auf sich sein. Sie zögerte. „Wir müssen die Straße frei machen. Also tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie sich Ihr Knie anschauen“, setzte er hinzu, um sie zu überzeugen. Einen besorgten Blick und ein gewinnendes Lächeln setzte er noch obendrauf. Wie es aussah, hatte er damit Erfolg, denn sie nickte.

Er half ihr auf den Beifahrersitz, wartete auf das grüne Signal und fädelte sich in den Verkehr ein. Sie zog den Sicherheitsgurt über ihre Schulter und ließ den Verschluss einschnappen.

„Ich bin Theo. Theodor Watt. Und Sie?“

„Judith. Da hatte ich aber Glück, dass ich einem Arzt ins Auto gerannt bin.“ Glück? Sie? Das war eher unwahrscheinlich. Aber dafür war ihm die Glücksfee hold gewesen. Jetzt musste er sie nur noch dazu bringen, mit ihm etwas trinken zu gehen. Aber er war ein charmanter Kerl. Er würde das schaffen.

„Judith, wohin hatten Sie es denn so eilig? Sie sind doch kein Selbstmordkandidat?“ Er hatte genau die richtige Mischung von Humor und Entsetzen an den Tag gelegt. Sie lachte.

„Nein, bestimmt nicht. Ich hatte einen stressigen Tag und war in Gedanken schon zu Hause.“

„Stress ist ungesund. Wie wäre es, wenn ich uns ein Café suche? Kaffeetrinken fördert die Gemütlichkeit. Stress ade. Und ganz nebenbei kann ich mir Ihr Knie ansehen. Ich lade Sie auch ein.“

Kaffeetrinken mit ihm wäre ebenfalls ungesund. Aber das wusste sie ja nicht. Judith taxierte ihn von der Seite. Prüfte ihn. Nun mach schon. Ich bin Arzt. Ich rette Leben. Vertrauenswürdiger geht es doch wohl nicht.

Genau zu diesem Schluss schien sie auch zu kommen.

„Okay.“

In ihrer Antwort schwang ein kleines bisschen Unsicherheit mit. Doch die würde er zerstreuen.

Eine Woge des Triumphes machte sich in ihm breit. Unbeschreibliches Machtgefühl durchströmte ihn von den Zehen bis in die Haarspitzen. Aber er war ein Meister der Körperbeherrschung. Mit nichts zeigte er seine Aufregung, blickte nach vorne, konzentrierte sich auf den Verkehr. Dieser Unfall hätte schlimm ausgehen können. So etwas durfte einfach nicht passieren. Keine Fehler mehr!

„Was halten Sie davon?“ Er deutete mit dem Zeigefinger auf ein Lokal, das einige Häuser vor ihnen lag.

Sie schaute in die Richtung, in die er wies. „Warum nicht?“

Das Schicksal meinte es wirklich gut mit ihm. Ein Auto fuhr aus einer Parklücke, just in dem Moment, als er das Lokal erreichte. Er legte den Parkschein gut sichtbar aufs Armaturenbrett, stieg aus und ging um das Fahrzeug herum, um seiner Begleiterin galant die Tür zu öffnen.

Sie lächelte ihm zu, als er ihr den Arm bot, um sie zu stützen. „Sie sind wohl ein richtiges Sonntagskind. Ein Parkplatz und das genau vor der Eingangstür.“

„Das bin ich. Besonders, weil ich ausgerechnet Sie niedergestoßen habe.“

Sie wurde tatsächlich rot.

Sie suchten einen Platz, er bestellte zwei Melange. Nachdem sie sich gesetzt hatte, kniete er sich vor sie hin.

„Darf ich?“

Sie hob den schwingenden, fast knöchellangen Rock bis über ihr Knie.

Sanft tastete er es ab, schob ein bisschen die Kniescheibe hin und her. „Tut es da weh? Nein? Und hier?“ Er gab sich Mühe, sachlich zu wirken, ganz wie ein Arzt eine Patientin untersucht.

„Sie haben wunderbare Hände“, sagte sie. Der Kellner brachte ihren Kaffee, er erhob sich und setzte sich ihr gegenüber auf den Sessel. „Jetzt gehen Sie mal bis zur Theke und zurück“, forderte er. Alles natürlich im Dienste der ärztlichen Untersuchung. Sie erhob sich, drehte ihm den Rücken zu und ging langsam bis zur Bar. Dort wendete sie. Der Weg war nicht weit, aber er hatte ausgereicht, um ihren Kaffee mit dem Mittel aus dem braunen Fläschchen zu versetzen.

Die Zeit verging quälend langsam, weil Judith immer wieder nur an ihrer Melange nippte und richtig redselig wurde. Es schien ihm eine Ewigkeit zu dauern, bis das Scopolamin zu wirken begann. An ihr Knie dachte sie offenbar nicht mehr. Obwohl er keine Ahnung von Orthopädie hatte, meinte er, dass es tatsächlich geprellt war. Er hatte eine leichte Schwellung spüren können.

Judith hatte ihre Tasse endlich ausgetrunken.

„Wollen Sie noch einen?“

„Nein, nein. Ich möchte nun wirklich nach Hause.“

„Ich bring Sie. Mir scheint, das Knie bedarf noch etwas Schonung. Versprechen Sie mir, dass Sie Eis drauf tun und das Bein hochlegen. Dann sollte es in ein, zwei Tagen wieder in Ordnung sein.“

Judith hatte keine Einwände. Wäre er darauf aus gewesen, hätte sie ihn bestimmt mit in ihre Wohnung genommen. Er kannte die Signale, die sie aussandte, bemerkte ihren bittenden Blick. „Ich bin einsam. Red noch ein wenig mit mir. Und dafür schenk ich dir meinen warmen, liebesbedürftigen Körper für eine Nacht mit der Option auf mehr.“

Die Tropfen begannen zu wirken, ihr Blick verschleierte sich. „Komm“, sagte er und hielt ihr die Hand hin. Auf den Tisch legte er sechs Euro. Dann zog er sie hoch, legte fürsorglich seinen Arm um ihre Schulter. Ihr leichtes Humpeln war kaum wahrnehmbar.

Er lenkte sein Fahrzeug stadtauswärts Richtung 14. Bezirk. Sie fragte nicht einmal, wohin sie fuhren, protestierte nicht, als er die Stadtgrenze passierte. Ab und zu kicherte sie, hielt sich dann die Hand vor den Mund und starrte ihn mit brennendem Blick von der Seite an. Sie wäre bestimmt eine leidenschaftliche Geliebte gewesen.

Er bog auf einen Feldweg ab, das Auto rumpelte, als er es über die unbefestigte Straße lenkte. Auch das löste einen Kicheranfall bei seiner Beifahrerin aus.

Er fuhr so lange, bis er das Gefühl hatte, weit genug im Dickicht zu sein, sodass man ihn weder sehen noch sie schreien hören konnte. Dann stoppte er und stellte den Motor ab.

Sanft lächelte er sie an. Wieder kicherte sie. „Du bist mir vielleicht einer. In meiner Wohnung hätten wir es viel bequemer gehabt.“ Judith war voller Vertrauen. Ihre Sprache war verwischt, als hätte sie einen ansehnlichen

Alkoholrausch.

„Steig aus.“

Sie sah ihn ungläubig an, musste seinen veränderten Ton bemerkt haben. Vielleicht auch seine entschlossene Körperhaltung. Jedenfalls tat sie, was er befohlen hatte. Sie öffnete die Tür, setzte ihre Füße auf den Waldboden und stolperte aus dem Auto. Sie machte keine Anstalten davonzulaufen. Das hätte ohnehin keinen Sinn gehabt, mit ihren Stöckelschuhen und dem angeschlagenen Knie. Er war schneller als sie. „Ich mach’s kurz. Und vor allem schmerzlos.“ Er trat auf sie zu, packte sie an den langen braunen Haaren und riss ihren Kopf zurück. Für einen kurzen Augenblick glomm Angst in ihren Augen auf. Ihre Überlebensinstinkte, analysierte er. Doch selbst die stärksten Instinkte, die der Mensch sich bewahrt hat, kamen nicht gegen die Drogen an. Sie wehrte sich nicht, schrie nicht. Er hatte das Gefühl, eine Puppe im Arm zu halten. Wie langweilig.

Das Messer in seiner Hand reagierte ganz eigenständig, stieß in ihren Hals, schnitt in ihre Kehle, ließ eine klaffende Wunde zurück. Judith, oder die Frau, die einmal Judith gewesen war, röchelte. Es war ein grausiges Geräusch. Ihr Körper wurde noch schlaffer, das Röcheln hörte auf und er ließ sie zu Boden gleiten. Blut rann an seiner Hand herunter. Ihr Blut, ein kräftiges Rot. Fasziniert starrte er auf das bizarre rote Muster auf dem Boden vor ihm. Es schien lebendig zu sein, breitete sich aus, wandelte sich. Langsam hob er seine blutbespritzte Hand an seine Lippen, fuhr mit der Zungenspitze über das Messer. Es war, als explodiere ein Feuerwerk in seinem Kopf. Süß und salzig zugleich, mit dem leichten Geschmack nach Eisen – und nach mehr. Das hatte er noch nie getan, aber er hatte auch noch nie als Theo Watt gemordet. Was für eine Verschwendung. Wenn er doch schon früher geahnt hätte, was ihm da entgangen war. Berauscht von dem Hochgefühl beugte er sich zu dem toten Körper, bereit, ein neues Kunstwerk zu schaffen. Ein Meisterstück, das er einzig und allein Heinz Martin widmete.

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