Читать книгу Der Augenschneider / Das Liliengrab: Zwei Romane in einem Band - Valentina Berger - Страница 19
ОглавлениеKapitel 10
Heinz hatte die Fotos, die er von dem Terminkalender gemacht hatte, auf seinen Computer überspielt und ausgedruckt. So brauchten sie nicht zu warten, bis Lauras Team mit den Fingerabdrücken fertig war. Emilias Kalender lag aufgeschlagen vor Wagner und sie gingen die Eintragungen der beiden Frauen nach Gemeinsamkeiten durch. Sie hatten ein Büro gefunden, das neu gestrichen werden sollte und darum leer stand. Wie für alles, war für die Renovierungsarbeiten kein Geld vorhanden. Das Zimmer war ausgeräumt worden, die Kollegen, die sonst darin arbeiteten, waren in das Gemeinschaftsbüro ausquartiert worden und warteten bereits seit drei Monaten auf die Handwerker.
Das war zwar schlimm für die beiden anderen, aber gut für ihn und seinen Freund. Er war froh, dass sie einen Platz gefunden hatten, an dem sie ungestört arbeiten konnten. Wagners Büro hatte sich ja Moser unter den Nagel gerissen. In Heinz’ konnten sie auch nicht, so wie er es hinterlassen hatte. Er musste sich demnächst ernsthaft daranmachen, Ordnung zu schaffen. Doch jetzt hatte er Wichtigeres zu tun. Er beugte sich über die Unterlagen. Hin und wieder hörte er Wagner schnaufen.
„Das hat nicht viel Sinn“, sagte Wagner schon zum zweiten Mal.
Heinz blickte von seinen Ausdrucken auf, um gleich wieder damit fortzufahren, die Termine zu prüfen, obwohl ihm die Buchstaben und Ziffern schon vor den Augen verschwammen. Entnervt nahm er seine Brille ab, legte sie auf den Papierstapel und massierte die Nasenwurzel mit zwei Fingern. „Wir müssen uns auf die Zeit ihres Verschwindens konzentrieren“, sagte er.
„Was du nicht sagst. Wann war noch einmal diese Modenschau?“
Heinz tippte mit seinem Brillenbügel auf den fraglichen Tag.
„Laut Emilia war Luisa dort. Danach hat sie niemand mehr gesehen.“ Verflixt, er kannte sich zu wenig in dem Milieu aus. Er wünschte, er hätte Emilia besser zugehört, wenn sie von ihrem Beruf erzählte. Aber Model war in seinen Augen kein anständiger, normaler Beruf. Sicherlich war so ein Leben, wie sie es führte, aufregend, spannend und auf jeden Fall lustvoller als das einer Verkäuferin oder Telefonistin.
Emilia hatte schon als Kind gerne im Mittelpunkt gestanden. Natürlich. Welches Kind wollte nicht gern das Zentrum des Elternuniversums sein? Aber Emilia hatte sich von anderen Kindern unterschieden. Sie war diejenige, die Trends schuf, die es immer schaffte, andere nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen, ihn miteingeschlossen.
Er fragte sich, ob eine genbedingte Verbindung um so viel stärker sein konnte als eine, die auf Freundschaft beruhte. Seine Beziehung zu Emilia war wohl das Paradebeispiel dafür, dass Blut tatsächlich dicker als Wasser war.
Wagner riss ihn aus seinen Gedanken. „He, träumst du?“
Heinz schüttelte den Kopf. Er setzte die Brille auf und widmete sich wieder Luisas Terminen, las sie laut vor, während Wagner den Kopf schüttelte oder einen Vermerk schrieb, wo es Überschneidungen gab.
Heinz wurde zunehmend nervöser, je weiter sie die Liste abarbeiteten. Bis jetzt hatten sie nichts gefunden, das sie weitergebracht hätte. Außerdem hatte sich Emma immer noch nicht gerührt und nun war Mittag vorbei, wie er mit einem Blick auf seine Uhr bemerkte.
Wagner grummelte, er habe Hunger und verschwand, um etwas Essbares aufzutreiben. Laura hatte kurz vorbeigeschaut, um ihnen zu sagen, dass sie wieder da sei und dass sie die Wohnungsdurchsuchung beendet hätte. Und nein, er dürfe nicht fragen, wie lange es dauerte, bis sie etwas sagen könne. Moser hockte in Wagners Büro wie eine Schlange, die auf Beute lauert. Keine Ahnung, was er dort tat.
Heinz wünschte sich, er wäre bis über beide Ohren mit Arbeit zugedeckt. Mit richtiger Arbeit, bei der er sich konzentrieren musste, die ihm keinen Platz für düstere Hirngespinste ließ, für all die hässlichen Gedanken, die sich ihm aufdrängten.
Er sah Emilia vor sich, auf seinem Obduktionstisch. Ihr schmaler Rücken, zerschnitten, wie bei den beiden anderen Opfern. Ihre Augenhöhlen, leer und vorwurfsvoll.
Er schluckte. Sein Mund war trocken. Eine typische Katererscheinung. Er holte sich ein Glas Wasser, das er zur Hälfte hinunterkippte. Mach dich nicht verrückt. Sie liegt im Bett und schläft oder sie amüsiert sich. Und du? Du rotierst hier. Es ist ihr nichts passiert. Doch so sehr er es sich auch einreden wollte, dass mit Emma alles in Ordnung war, so wenig hatte er damit Erfolg. Tief in seinem Inneren wusste er, dass nichts in Ordnung war. Es ging auch nicht bloß um Emilia. Es ging darum, Menschenleben zu retten. Der Täter würde nicht einfach aufhören. Heinz war kein Profiler. Es gab Spezialisten, die sich der Aufklärung von Serienmorden verschrieben hatten. Aber auch er hatte seine Erfahrungen gesammelt. Und die sagten ihm, dass der Mörder solange weiter töten würde, bis sie ihn aufhielten.
Als Wagner mit vier Leberkäsesemmeln zurückkehrte, saß Heinz schon wieder vor dem Rechner und machte sich Notizen. Er blickte kaum auf, als sein Freund ihm sein Mittagessen unter die Nase hielt. „Hier, mit Pepperoni und Senf, wie du sie magst.“
„Danke!“, sagte Heinz ohne Notiz von dem Essensduft zu nehmen, der sich im ganzen Raum ausbreitete. „Sie werden kalt“, versuchte Wagner es noch einmal. Doch auch diesen Hinweis quittierte Heinz nur mit einem Schulterzucken. Sollten sie doch.
Christian Salzbrunner alias Jakob Prandtauer alias Theodor Watt lächelte zufrieden in den Spiegel. Theo sah ganz passabel aus. Schade, dass er keine Fotografie von seinem Vorbild im Internet gefunden hatte. Egal, er gefiel sich so. Er hatte etwas Verwegenes getan und sich die Haare schwarz gefärbt, obwohl ihm seine Mutter einreden wollte, dass Schwarz ihm nicht stünde. Weit gefehlt. Er freute sich diebisch, dass sie sich wenigstens einmal in seinem Leben geirrt hatte. Mit dem dezenten Schnurrbart, den er sich aufgeklebt hatte, wirkte er um fünf Jahre älter. Wie ein gesetzter Herr. Ein Augenarzt eben.
Die Ähnlichkeit mit Heinz Martin war unbeabsichtigt – oder nicht? Hatte er sich deshalb für die schwarzen Haare entschieden? Nein. Martins Haar war nicht so dicht wie seins, und einen Schnauzer hatte der auch nicht, zumindest was die letzten Einträge im Internet anging. Die Bilder, die er von ihm entdeckt hatte, waren nicht die neuesten. Außerdem hatte er herausgefunden, dass sein Widersacher von der Behandlung lebender Menschen zu den Toten gewechselt war. Wie praktisch. Da konnte er wenigstens keine Fehler machen, die arglosen Patienten ihr Augenlicht, wenn schon nicht ihr Leben kosteten.
In einer Zeitung hatte er gelesen, dass Martin seine Kunstwerke nicht zu würdigen wusste. Was hatte er dem Reporter gegenüber gesagt, der ihn an Vivians Fundort interviewt hatte? „Ich bin erschüttert über die Gewalt und die Brutalität des Täters.“
Als ob er jemals gewalttätig gewesen wäre. Er, der sich um nichts mehr sorgte, als um Jana. Er, der seine brüderliche Liebe und sein Pflichtbewusstsein über alles andere stellte. Na ja, er wollte nicht lügen. Ein bisschen gewaltbereit war er schon. Seine Mutter lachte. „Ja, das stimmt.“
„Da warst du selber schuld, Mutter“, versuchte er sich ihr gegenüber zu rechtfertigen. „Ich wollte dich nicht gleich umbringen“, sagte er. Diesmal war es ihm egal, ob er laut sprach oder nicht.
„Genau das wolltest du. Kannst es ruhig zugeben. Jetzt, wo es ohnehin schon geschehen ist.“
„Du hättest nicht sagen dürfen, was du gesagt hast, hättest nicht tun dürfen, was du getan hast. Eine Mutter tut ihrem Kind kein solches Leid an.“
So, endlich war es ausgesprochen. Wenn auch nur in Gedanken. Halb erwartete er, dass sie verschwinden würde. Für immer fort. Weg aus seinem Kopf, weg aus seinem Leben. Was sollte er dann tun? Wie sollte er ohne ihren Zuspruch, ohne ihren Rat existieren?
Gerade wollte er ihren Namen rufen, sich entschuldigen. Für alles, was er ihr an den Kopf geworfen hatte – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Da erklang ihre vertraute Stimme. Erleichtert atmete er auf. Er hätte diese Leere nicht ertragen.
„Andere Kinder bringen ihre Mütter nicht um.“ Sie klang empört.
Auf Christians Lippen stahl sich ein Lächeln. „Du irrst. Das war kein Mord. In meinen Augen war es Notwehr. Obwohl, für dich macht es keinen Unterschied mehr, nicht wahr?“
Wagner machte sich Sorgen um Heinz. Er erkannte ihn kaum wieder. Heinz, der Ordnungsfanatiker, war zum Chaoten verkommen. Heinz, der nur selten über die Stränge schlug und nie mehr als ein, höchstens zwei Bier trank, besoff sich. Er war unbeherrscht, jähzornig und fahrig. Alles Eigenschaften, die ihm Wagner nie zugeschrieben hätte. Die Leberkäsesemmeln, die Heinz nicht angerührt hatte, waren da nur das Tüpfelchen auf dem i. Leberkäsesemmeln! Mit Pepperoni und Senf. Wie konnte Heinz die abschlagen? Er musste doch was essen. Wagner schüttelte verständnislos den Kopf, wickelte eine seiner Semmeln aus der Papierverpackung und biss herzhaft hinein. Schließlich würde es niemandem nützen, wenn er verhungerte.
Kauend stellte er sich hinter Heinz, der sich verärgert umdrehte: „Musst du so laut schmatzen?“
Während Wagner noch über eine passende Antwort nachdachte, irgendetwas mit übersensibler Idiot, sprang ihm das gestrige Datum in die Augen. „Wart mal!“, rief er und verschluckte sich.
„Kindern bringt man bei, nur mit leerem Mund zu sprechen. Das scheint an dir vorübergegangen zu sein.“
Wagner brachte noch immer kein Wort heraus, sondern tippte nur mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm.
„Wenn du nicht bald damit aufhörst, bohrst du dich durch“, meinte Heinz, hatte dann aber doch ein Einsehen und hielt Wagner das Wasserglas hin. Der trank es aus und stellte es auf den Schreibtisch.
„Ja, ja. Die Gier. Du sollst doch nicht so schlingen, das ist ungesund, wie man sieht.“
Wagner hatte endlich runtergeschluckt. Er räusperte sich, um den Hustenreiz zu unterdrücken, der ihn immer noch quälte und meinte: „Diese Vernissage. Da wollte sie hin.“
Heinz blickte ihn verständnislos an. „Und? In zwei Monaten hätte sie einen Zahnarzttermin gehabt. Den wird sie wohl auch nicht mehr wahrnehmen.“
„Emilia hat diesen Termin ebenfalls notiert – und jetzt weiß ich auch, wo ich sie gesehen habe.“
„Ja?“
„Da war ein Bericht über die Vernissage in der heutigen Zeitung. Sie war dort.
Und sie hat mit einem Mann geturtelt.“ Heinz war von dem Sessel aufgesprungen. „Wo ist die Zeitung? Hast du sie noch?“
Er schüttelte den Kopf. „Die war geborgt, aber ...“ und wollte noch hinzufügen, dass sie sich vom Kiosk ums Eck eine besorgen konnten oder dass Laura bestimmt eine hatte. Doch da war Heinz schon aus der Tür.