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Kapitel 7

Heinz Martin betrachtete das Telefon und streckte den Arm nach dem Hörer aus. Es war doch nichts dabei, eine alte Bekannte anzurufen, sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen und sie nebenbei um Hilfe zu bitten. Warum fiel ihm dann dieser Schritt so schwer? Seit einer halben Stunde rang er mit sich und konnte sich nicht aufraffen, Claudias Nummer zu wählen. Heinz hatte seine erste Obduktion erledigt, mit dem Bericht war er ebenfalls fertig, Wagner hatte ihm vorsorglich Claudias Handynummer per SMS geschickt, nun hatte er keine Ausrede mehr.

Er richtete noch einen Stoß Akten zu einem ordentlichen Stapel auf seinem Schreibtisch, dann seufzte er und zog den Telefonapparat zu sich herüber. Eben als er anfangen wollte zu wählen, klingelte der Apparat und Heinz zuckte vor Schreck zusammen.

Ehe er abnahm, atmete er einmal tief durch, dann meldete er sich mit „Heinz Martin, Gerichtsmedizin.“

„Heinz, wir haben eine zweite Leiche“, drang Helmut Wagners Stimme an sein Ohr.

„Was heißt ‚eine zweite‘? Ich habe jeden Tag mehrere.“

„Aber keine, bei der der Mund zugenäht wurde, wetten?“

Heinz schnappte nach Luft. „Wie? Noch eine?“

„Endlich hast du kapiert. Kommst du her?“

Heinz war bereits aufgestanden und versuchte seine Jacke anzuziehen, während er den Telefonhörer ans Ohr gepresst hielt. „Hab ich eine Wahl?“, fragte er. Endlich hatte er es geschafft, in einen Ärmel zu schlüpfen. Er legte den Telefonhörer für einen Moment zur Seite, schob den Arm in den zweiten Ärmel und klemmte den Hörer erneut zwischen Kinn und Ohr, damit er die Adresse aufschreiben konnte.

„In zwanzig Minuten bin ich da“, sagte er.

Erst als er in sein Auto stieg, fiel ihm ein, dass er Claudia Sprenger noch nicht angerufen hatte. Nun würde dieses Telefonat noch eine Weile warten müssen.

Wagner stand im Flur von Kritzbergers Wohnung und versuchte die Putzfrau zu trösten, die ihren Arbeitgeber gefunden hatte. Sie war immer noch total aufgelöst, was er gut verstehen konnte. Leichen machten auch ihm zu schaffen – und das, obwohl er ständig mit ihnen zu tun hatte. Wie sehr musste dann solch ein schrecklicher Fund eine Frau durcheinander bringen, die noch nie zuvor ein Mordopfer gesehen hatte?

Ein kurzer Blick ins Schlafzimmer hatte Wagner genügt, um zu sehen, auf welch bestialische Weise Adrian Kritzberger ermordet worden war. Wie es aussah, lag der Mann schon länger da – der Geruch war fast schrecklicher als der Anblick. Es gab nichts Schlimmeres für ihn als Verwesungsgestank. Der, und der Schwarm Fliegen, die den Kopf des Opfers fast bedeckten, schlugen Wagner in die Flucht, sodass er sich zu der Putzfrau in den Flur gesellt und Heinz angerufen hatte. Er hörte sich lieber Frau Jalowys unzusammenhängend gestammelte Sätze an, während er auf Heinz’ Ankunft wartete, als zurück zum Tatort zu gehen.

„Warum er?“, fragte sie eben schluchzend. „Er hat doch niemand was getan! War immer nett, der Herr Kritzberger.“

„Hatte er Familie? Eine Frau oder Freundin?“, hakte Wagner nach. In solch einem Moment lag es ihm fern, Zeugen auszuquetschen. Normalerweise besuchte er sie später zu Hause in ihren eigenen vier Wänden oder lud sie aufs Präsidium ein – aber nachdem es Frau Jalowy offensichtlich ein Bedürfnis war, über ihren toten Arbeitgeber zu sprechen, konnte er die Gelegenheit genauso gut nutzen, um das zu erfahren, was er für wichtig hielt.

„Oh, nein, er lebt allein, viele Jahre schon. Er ist geschieden. Soweit ich weiß, gibt es keine Kinder – zumindest hat er nie welche erwähnt.“

„Was hat Herr Kritzberger gearbeitet?“, fragte Wagner weiter.

„Geschrieben. Er hat immer geschrieben.“ Sie sah ihn mit geröteten Augen an und schniefte.

„Ach, ein Schriftsteller also.“

„Nein, Herr Kritzberger hat keine Romane geschrieben. Er war Reporter!“

Laura Campelli erschien auf dem Flur. Ihr Schutzanzug raschelte bei jedem ihrer Schritte. „Wann können wir mit Heinz rechnen?“, fragte sie und ihre Stimme klang durch den Mundschutz ein wenig gedämpft. Wagner fragte sich, ob die Maske auch den Gestank milderte. Zumindest konnte er ihrem Gesicht, vielmehr, was davon noch zu sehen war, keine Regung entnehmen.

Er sah auf die Uhr. „Er müsste gleich da sein.“

Laura nickte. „Gut, wir wollten den Toten nicht bewegen, bevor …“ In diesem Moment klopfte es an der Tür und von draußen drang Heinz’ Stimme herein: „Leute, ich bin’s.“

Wagner öffnete und begrüßte seinen Freund mit einem Handschlag. Laura gab Heinz ebenfalls die Hand. „Schön, dass du daran gedacht hast, den Klingelknopf nicht zu berühren.“

Heinz grinste. „Nachdem du mir gedroht hast, mir den Kopf abzureißen, wenn ich diesen Fehler noch einmal mache, wollte ich nichts riskieren.“

Auch Wagner musste schmunzeln. Laura verstand es, sich Respekt zu verschaffen. Es war mittlerweile Jahre her, dass Heinz an einen Tatort gerufen worden war und aus Gedankenlosigkeit die Klingel betätigt hatte. Laura hatte getobt und Heinz einen hirnverbrannten Idioten genannt, der die Spurensuche sabotiere. Schlussendlich hatte sich herausgestellt, dass ohnehin keine Fingerabdrücke auf dem Klingelknopf gewesen waren – außer die von Heinz natürlich. Sie hatte ihm angedroht, ihn schlimmer zuzurichten als das Opfer, dem immerhin beinahe der Kopf abgetrennt worden war, wenn er sich noch einmal einen solchen Fehler erlauben sollte. Seither klopfte Heinz immer an, anstatt zu klingeln.

„Frau Jalowy hat mir eben erzählt, das Opfer sei Reporter gewesen“, sagte Wagner und wartete gespannt auf Lauras und Heinz’ Reaktionen.

Heinz hob eine Augenbraue und Laura schnappte nach Luft. „Und für welche Zeitung hat er geschrieben?“, wandte sich Heinz nun an die Putzfrau.

Sie zuckte die Schultern. „So genau weiß ich das nicht. Es waren mehrere, glaube ich.“ Sie blickte Hilfe suchend zu Wagner. „Sie meinen, er war freier Reporter?“, half er ihr.

Sie nickte eifrig. „Genau. Er hatte keine feste Anstellung, er sagte immer, er wolle nicht von einer Zeitung abhängig sein.“ Wieder musste sie schniefen und wischte sich mit der Hand über ihre Augen. Heinz zog aus seiner Hosentasche eine Packung Taschentücher und reichte sie Frau Jalowy.

Mit einem Blick forderte Heinz Wagner auf, ihm zu folgen. Seufzend verabschiedete sich Wagner von der Frau und reichte ihr seine Visitenkarte mit den Worten: „Bitte rufen Sie mich an, wenn Ihnen etwas einfällt.“

Frau Jalowy biss sich auf die Lippen und steckte die Karte in die Tasche ihres Kittels.

„Und es kann sein, dass ich oder einer meiner Kollegen sich noch mal bei Ihnen melden“, setzte er hinzu, ehe sie sich anschickte, ihren Mantel anzuziehen.

Nachdem sie die Wohnungstür hinter sich zugezogen hatte, gab sich Wagner einen Ruck. Es half nichts, er musste noch einmal in dieses Schlafzimmer gehen. Besser, er brachte es gleich hinter sich. Innerlich wappnete er sich gegen den grausigen Anblick des Toten, gegen den Gestank des verwesenden Fleisches und das Summen der Fliegen. Schon der Gedanke jagte ihm Gänsehaut über den Rücken.

„Wo bleibst du?“, rief Heinz und steckte seinen Kopf zur Flurtür herein. Auch er hatte sich mittlerweile einen der Schutzanzüge übergestreift.

„Ich komme“, murmelte Wagner. Dann seufzte er tief, nahm ebenfalls einen Overall von dem Stapel, zog ihn an und betrat das Wohnzimmer, in dem schon Lauras Leute arbeiteten. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen, der Weg dorthin war mit einer Plastikplane ausgelegt. Heinz stand im Türrahmen und betrachtete Kritzberger aus einiger Entfernung. Als Wagner neben ihn trat, sagte er kopfschüttelnd: „Was für eine Sauerei! Hier sieht es aus wie einem Schlachthaus.“

Wagner schluckte die bittere Flüssigkeit hinunter, die in seiner Kehle aufgestiegen war. Er wusste, dass nicht mehr viel fehlte, und er würde sich übergeben müssen.

Als Heinz ans Bett trat, der Fliegenschwarm brummend aufstob und Kritzbergers Gesicht, übersät mit Maden, sichtbar wurde, drehte sich Wagner um und rannte aus der Wohnung.

Draußen auf dem Gehsteig stützte er sich mit beiden Händen an die Hauswand. Keuchend rang er nach Luft und immer noch hatte er das Gefühl, sein Frühstück würde jeden Moment nach oben kommen. Fast wünschte er, er hätte sich übergeben, dann wäre sein Magen wenigstens leer. Eine Weile stand er da, sog die frische Luft gierig in seine Lungen und redete sich gut zu, wieder hinein zu gehen. Verdammt, immerhin gehörte das da drinnen zu seinem Job. Doch erst als eine Frau in Pelzjacke ihn naserümpfend ansprach, er solle sich schämen, schon vor dem Mittagessen betrunken an der Hausmauer herumzulungern, richtete er sich auf. „Und Sie sollten sich schämen, tote Tiere zu tragen“, gab er giftig zurück, ignorierte ihren empörten Blick und ging wieder ins Haus, um seine Arbeit zu erledigen.

Der Menschennäher

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