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Kapitel 8

Heinz konnte den Toten nicht am gleichen Tag obduzieren, sämtliche Sektionsräume waren bereits besetzt. Wagner gefiel die Verzögerung überhaupt nicht.

„Mensch, du hast doch genug andere Arbeit. Ich kümmere mich gleich morgen früh um Kritzbergers Leiche. Weglaufen kann er schließlich nicht“, meinte Heinz und packte seine Ausrüstung zusammen.

Wagner verzog sein Gesicht zu einem kläglichen Lächeln. „Das tröstet mich ungemein. Dann werde ich zurück ins Büro fahren und mich an den Computer setzen. Es werden doch Artikel von Kritzberger im Netz zu finden sein.“

Heinz klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Mach das. Wir sehen uns dann morgen.“

„Ich kann es kaum erwarten“, gab Wagner zurück. „Und was wirst du jetzt unternehmen?“

Heinz sah auf die Uhr. „Das, was ich gerade machen wollte, als du mich hierher zitiert hast. Ich rufe Claudia an und bitte sie, mir mit der Nachricht zu helfen.“

Heinz stand vor dem Haus in der Kleingartensiedlung und starrte unschlüssig über den hüfthohen Holzzaun auf die winzige Rasenfläche. Hier also wohnte Claudia. Er musste zugeben, dass der Architekt das Maximum an Raum aus dem Minimum an Baufläche herausgeholt hatte. Trotzdem hätte er seine Wohnung nicht dagegen eintauschen mögen. Eine Bewegung hinter dem Fenster löste ihn aus seiner Unentschlossenheit. Claudia erwartete ihn. Als er sie angerufen hatte, war sie aufrichtig erfreut gewesen, von ihm zu hören. Da Heinz nicht zu Smalltalk neigte, war er schnell auf sein Anliegen zu sprechen gekommen.

Claudia hatte ihn sofort eingeladen, gegen halb fünf bei ihr zu sein. Da wäre ihr Mann bereits daheim und würde er sich um das Baby kümmern können, sodass sie sich in Ruhe die verschlüsselte Nachricht ansehen konnte.

Noch ehe er die Haustür erreicht hatte, wurde sie schon geöffnet und Claudia lächelte ihn an. Sie umarmte ihn, drückte ihm rechts und links ein Küsschen auf die Wangen und nahm dadurch Heinz die Befangenheit, die er bei ihrem Anblick verspürte. „Schön, dass du da bist“, sagte sie und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, einzutreten.

„Du hast dein Haar schneiden lassen“, stellte Heinz fest.

Sie lachte. „Ja, ein paar Wochen nach Leonies Geburt. Du ahnst ja gar nicht, wie kräftig Babys zupacken können.“

Sie steckte die Hände in ihre Hosentaschen und sah ihn prüfend an. „Du siehst aus, als hättest du Sorgen.“

Sie hatte ihn schon früher leicht durchschaut. Er nickte. „Genau deshalb bin ich hier. Ich hoffe, es macht dir wirklich nichts aus, ich wollte dich in deiner Elternzeit nicht stören, aber Wagner … Du kennst ihn ja …“

Sie legte eine Hand auf seinen Arm. „Du störst nicht, ehrlich. Ich wünschte bloß, der Anlass deines Besuches wäre ein angenehmerer.“

Er hatte ihr am Telefon nur das Nötigste erzählt, aber Claudia hatte schon immer gut zwischen den Zeilen lesen können. Sie hatte die Begabung, auch aus dem Schlüsse zu ziehen, was nicht ausgesprochen wurde.

Sie führte ihn in die Küche, schenkte Kaffee ein und erst dann bat sie ihn, die Nachricht sehen zu dürfen.

„Oh, natürlich!“ Heinz holte aus seinem Jackett einen Umschlag und nahm eine Kopie des Zettels heraus, den Laura ihm gegeben hatte.

Claudia betrachtete mit gerunzelter Stirn die Buchstaben und Zahlen eine kleine Ewigkeit, ohne ein Wort zu sagen.

„Kannst du damit was anfangen?“, fragte Heinz schließlich, als er es vor Ungeduld nicht mehr aushielt. „Ich habe schon alles versucht, was mir eingefallen ist.“

Claudia starrte weiterhin auf den Zettel vor sich. „Diese Nachricht war tatsächlich für dich bestimmt?“, wollte sie wissen.

„Nachdem mein Name auf dem Umschlag stand, gehe ich davon aus.“

„Und da war kein weiterer Brief mit dem Schlüssel?“

„Schlüssel?“ Irritiert sah Heinz Claudia an. „Was meinst du damit?“

Claudia seufzte tief. „Also, kein richtiger Schlüssel für ein Türschloss, sondern einen für das hier“, sie hielt den Zettel hoch. „Es gibt Hunderte Möglichkeiten, eine Nachricht zu chiffrieren, man kann jedem Buchstaben eine Zahl zuordnen oder jedem Buchstaben einen anderen Buchstaben. Oder eine Kombination von beidem. Ohne den Decodierungsschlüssel zu kennen, braucht es unter Umständen Wochen, bis man diese Zeilen entziffern kann“, erklärte sie weiter.

„Laura und ihr Team haben die ganze Wohnung des Toten durchsucht, sie haben nichts weiter gefunden.“

Claudia blickte ihn unergründlich an. „Derjenige, der diese Nachricht chiffriert hat, wollte, dass du sie lesen kannst, sonst hätte er nicht deinen Namen auf den Umschlag geschrieben. Richtig?“

„Aber warum ausgerechnet ich?“

„Darauf weiß ich keine Antwort, das musst du selbst herausfinden. Lass mich was versuchen.“ Claudia stand auf, ließ ihn einen Moment allein und kam mit einem Laptop unter dem Arm wieder zurück.

Sie startete den Rechner und tippte drauflos. „Ich habe hier ein paar Dechiffrierprogramme, das ist so eine Art Hobby von mir“, erklärte sie. „Ich muss nur herausfinden, welches in Frage kommt.“

Während Claudia mit ihren Programmen beschäftigt war, nutzte Heinz die Gelegenheit, sich in dem Raum genauer umzusehen. In diese Küche hätte seine zweimal hineingepasst. Die Schränke waren mit rot glänzender Front ausgestattet, die Geräte sahen nicht nur futuristisch, sondern auch sehr teuer aus, und er fragte sich, wo hier die Gemütlichkeit blieb.

„Ja!“, riss ihn Claudias Jubelschrei aus seinen Überlegungen. Mit blitzenden Augen drehte sie den Bildschirm ihres Laptops zu ihm.

Ihre Stimme vibrierte vor Aufregung, als sie ihm erklärte, dass hier eine multiplikative Chiffre verwendet worden war. Jedem Buchstaben des Alphabets war tatsächlich eine Zahl zugeordnet. „Und hier“, Claudia tippte auf die erste Zahl auf dem Papier, „das hier ist der Schlüssel, von dem ich gesprochen habe. Jeder Buchstabe bzw. die Zahl, die diesem Buchstaben zugeordnet ist, wird mit der Schlüsselzahl multipliziert. Daraus ergibt sich eine neue Zahl, und die wiederum steht für einen der Buchstaben …“

An diesem Punkt stieg Heinz aus. „Claudia, das klingt alles ziemlich kompliziert. Kannst du mir diese verflixte Nachricht nicht einfach übersetzen?“

Sie grinste ihn an, drehte den Laptop wieder zu sich und gab die Zahlen und Buchstaben ein, die auf dem Zettel standen.

Schließlich schob sie den Computer zu ihm hinüber und verschränkte die Arme vor der Brust. Heinz starrte auf den Bildschirm. „Herrgott, was soll das nun wieder heißen? Und du bist dir sicher, dass du keinen Fehler gemacht hast?“

Claudia sog empört die Luft ein. „Na, hör mal! Sicher bin ich mir sicher. Das hier ist nicht mal kompliziert, wenn man weiß, wie es geht. Meine Aufgabe war es, die Botschaft zu entschlüsseln, jetzt ist es deine, herauszufinden, was damit gemeint ist.“

Heinz beschloss, seine Schwester anzurufen. Vielleicht hatte sie Zeit und Lust auf ein spontanes Treffen, nachdem er das letzte absagen musste.

Emilia schlug ein Lokal in der Innenstadt vor. „Das ist aber nicht wieder so eine Karaoke-Bar?“, fragte Heinz.

Emilia lachte. „Nachdem du dich beim letzten Mal so angestellt hast, dass es fast peinlich war, gehe ich mit dir nur auf einen Cocktail.“

Emilias Worte beruhigten Heinz nur einigermaßen. Er würde vorsichtshalber im Internet nach diesem Lokal suchen. Bei Emilia konnte er sich nämlich nie sicher sein, wohin sie ihn verschleppte.

Seine Sorgen waren diesmal unbegründet. Das Lokal war … ein Lokal. Kein Karaoke, kein Poetry Slam, kein Krimidinner – es gab nicht mal eine Musikbox, wie er erleichtert feststellte, als er sich den Weg durch die Menschenmenge bahnte, um zu dem Tisch zu gelangen, an dem seine Schwester bereits auf ihn wartete.

„Hi, Bruderherz!“, begrüßte sie ihn und küsste ihn auf die Wangen.

Heinz war jedes Mal aufs Neue erstaunt, wie gut sie mit den furchtbaren Dingen, die ihr widerfahren waren, umging. Sie sah besser aus denn je, hatte Gewicht zugelegt, sodass sie immer noch schlank, aber fraulich aussah. Kein Vergleich zu dem mageren Model von früher.

„Schön, dass es doch mit unserem Treffen klappt“, sagte er und setzte sich.

„Ich hoffe, du bist mit dem Lokal zufrieden.“

Heinz sah sich noch einmal um. „Nahezu perfekt“, gab er zu.

Sie erzählte von ihrer Immatrikulation an der Uni Wien.

„Also ist es dein Ernst? Du wirst Medizin studieren?“

Emilia nickte. „Ja, ich eifere meinem Vorbild nach.“

„Meredith aus Grey’s Anatomy?“

„Nein, Blödmann. Ich guck die Serie nicht mal. Dir natürlich.“

Heinz schluckte und wusste für einen Moment nicht, was er sagen sollte. „Aber du machst das hoffentlich nicht, weil du mir einen Gefallen tun willst. Dafür …“

Emilia unterbrach ihn. „Ich habe mir das gut überlegt, Heinz, ich will nicht irgendwem einen Gefallen tun. Ich mache es meinetwegen. Ich wäre eine gute Ärztin.“

Heinz musterte seine jüngere Schwester. Ja, die Kleine wurde wohl endlich erwachsen und begann, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Er nickte. „Ja, du hast recht.“

„Und jetzt zu dir – womit musst du dich gerade herumschlagen?“

Heinz überlegte, ob er ihr tatsächlich von seinen aktuellen Fällen erzählen sollte, gab sich dann aber einen Ruck. Emilia hatte selbst so viel Schreckliches er- und überlebt, sie war nicht leicht zu erschüttern. Außerdem standen die Chancen gut, dass sie mit der Nachricht aus Fabós Wohnung mehr anfangen konnte als er. Schließlich war sie vor noch nicht allzu langer Zeit Gast bei Prominentenpartys gewesen und kannte Leute von der Presse und dem Fernsehen.

„Ich hab da was, bei dem du mir vielleicht helfen kannst“, begann er und umriss in kurzen Worten, wie er an die Nachricht gekommen war.

Stirnrunzelnd sah Emilia ihn an. „Ziemlich krass. Und wie lautet nun die Nachricht?“

Heinz holte sein Handy heraus, startete die Notizfunktion und las ab: „Jeden Tag, nicht alt. Einer, der viel redet und nichts zu sagen hat.“

„Das klingt immer noch wie ein Rätsel.“

„Eben. Für solche Spielereien fehlt mir sowohl die Lust als auch die Zeit.“

„Du wirst sie dir aber nehmen müssen“, gab Emilia zurück, „denn wie ich das sehe, will dir der Täter etwas sagen.“

„Und wenn der Brief gar nicht vom Täter stammt?“ Heinz hatte darüber nachgedacht. In Wahrheit gab es keinen einzigen Beweis dafür, dass der Umschlag von Fabós Mörder für ihn deponiert worden war. Allerdings wollte ihm auch keine andere Möglichkeit einfallen.

„Von wem sonst?“, meinte Emilia.

Heinz zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, es war bloß ein Gedanke.“

„Vergiss ihn wieder. Die Frage ist doch eher, warum er sich an dich wendet.“

„Das, allerdings, möchte ich auch gern wissen.“ Emilia nahm eine Serviette und strich sie glatt. „Hast du einen Kugelschreiber?“

Er tastete seine Taschen ab, fand keinen, also holte er von der Bar einen Kuli und reichte ihn Emilia.

„Gut, fangen wir mit dem Leichtesten an. Nicht alt. Heißt wohl neu.“

„Oder frisch, jung …“, fiel Heinz dazu ein. Emilia schrieb alles mit.

„Okay“, sagte sie schließlich. „Jeden Tag – was könnte man da noch sagen?“

„Immer?“, schlug Heinz vor. „Wiederkehrend, Wiederholung, regelmäßig …“

„Immer neu, immer frisch, immer jung“, versuchte Emilia die Worte miteinander zu kombinieren.

„Ah, da fällt mir der Song von André Heller und Wolfgang Ambros ein: Für immer jung … Aber ich glaube nicht, dass der Täter das gemeint hat.“

„Wer weiß?“ Emilia schrieb „Ambros und Heller – Für immer jung“ auf die Serviette. Beim letzten Wort versagte der Kugelschreiber und sie kritzelte so wild, dass auch noch das dünne Papier zerriss. „Mist! Gibt’s denn nicht was Anständiges zum Schreiben in dem Laden?“ Sie sprang auf und holte von der Kellnerin einen Block, auf den die normalerweise die Bestellungen aufschrieb.

„So“, sagte sie, nachdem sie sich wieder gesetzt hatte, „wo waren wir?“

„Für immer jung“, half Heinz aus.

„Täglich!“, rief Emilia aufgeregt. „‚Jeden Tag‘ bedeutet täglich. Täglich neu. Die Nachrichtensendung!“

Heinz lehnte sich zurück und starrte seine Schwester verblüfft an. „Wow! Darauf muss man erst kommen!“

Emilia winkte ab. „Das war leicht. Der Rest macht mir mehr Kopfzerbrechen.“

„Einer, der viel redet und nichts zu sagen hat – ich finde, das ist recht deutlich“, sagte Heinz.

„Was den Inhalt angeht, ja. Nur wissen wir nicht, wer damit gemeint ist. Einer der Sprecher? Davon gibt es alleine vier nur für die Abendnachrichten. Und dann haben die das Morgenjournal, die Mittagsnews, diverse Reportagen und Dokumentationen – und noch knapp fünfzig weitere Mitarbeiter.“

Heinz knüllte die Serviette zusammen und warf sie auf den Tisch. „Mist! Und woher sollen wir wissen, wen der Verfasser meint?“

Emilia zuckte mit den Schultern und grinste. „Vielleicht gar niemanden Bestimmten. Ich wette, es gibt etliche Personen, die pausenlos quatschen, ohne etwas sagen zu haben.“

Heinz lächelte zurück. „Wenn es danach geht, dann trifft das auf zwei Drittel der Wiener Bevölkerung zu.“ Dann wurde er schlagartig ernst und setzte hinzu: „Allerdings wird den wenigsten die Zunge herausgeschnitten und der Mund zugenäht.“

Der Menschennäher

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