Читать книгу Der Menschennäher - Valentina Berger - Страница 15
ОглавлениеKapitel 10
„Ich wünsche den Zusehern einen schönen Abend. Gleich nach der Werbung geht es weiter mit den neuesten Sportnachrichten.“ Eins, zwei, drei, vier, fünf. Kamera aus, zählte Oliver Zurner im Geiste mit, ohne sein Lächeln zu verändern.
Erst nachdem er sicher sein konnte, dass er nicht mehr auf Sendung war, sprang er auf. „Larissa, du bist die Inkompetenz in Person“, schrie er die Aufnahmeassistentin an. Die zuckte zusammen, und befriedigt stellte er fest, dass sie sich darum bemühen musste, nicht in Tränen auszubrechen. Dann hätte sie, verdammt noch mal, ihre Arbeit tun und dafür sorgen müssen, dass sein Mikrofon ordentlich funktionierte.
Er strich sich mit beiden Händen sein Haar glatt. Endlich Feierabend. Auf dem Weg in die Garderobe traf er Samantha, eine langbeinige Blondine, von der er gar nicht genau wusste, was sie für eine Funktion innehatte, die ihm aber schon einige Male aufgefallen war. Nachdem sie seine Flirtversuche eiskalt ignoriert hatte, war es nun sein erklärtes Ziel, diese Frau ins Bett zu kriegen. Ein Mann brauchte schließlich Herausforderungen, und die hier war eine richtig harte Nuss. Oliver Zurner war es nicht gewohnt, um die Aufmerksamkeit der Frauen betteln zu müssen. Im Gegenteil, Frauen – und nicht ausschließlich sie – machten es ihm gewöhnlich leicht.
„Samantha, mein Lichtblick an einem Abend voller Katastrophen“, sprach er sie an.
Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn abwartend an. Na, bitte, offenbar war auch sie nicht immun gegen seinen Charme, es hatte nur eine Weile gebraucht, herauszufinden, worauf sie abfuhr. Sie gehörte wohl zum Typ Frau, bei dem die Mitleidsnummer zog.
„Es ist so ziemlich alles schief gelaufen, was schief laufen kann“, setzte er hinzu und übertrieb dabei maßlos.
„Das tut mir leid für dich“, gab sie zurück. „Lass mich raten, dein Haar saß nicht perfekt?“ Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust, verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln, taxierte ihn mit ihren grauen Augen, die ihn daran erinnerten, dass nicht nur die Farbe ihrer Iris, sondern alles an ihr aus Granit zu bestehen schien. Shit, auch diesmal hatte er es verbockt. Aber er wäre nicht so weit gekommen, wenn er wegen jeder kleinen Niederlage aufgegeben hätte. „Nein, mit meinen Haaren war alles in Ordnung, nur Larissa, die Kuh von der Aufnahmeassistenz, hat es nicht geschafft, ein funktionierendes Mikro zu besorgen. Aber als Profi habe ich es natürlich trotzdem hinbekommen.“
Samantha schürzte die Lippen. „Och, das ist in der Tat ärgerlich. Ich wette, sie kann nicht mal einen ordentlichen Kaffee kochen.“
Oliver Zurner lächelte in sich hinein. Na, bitte, ging doch! Er hatte das Ruder herumgerissen. Er trat zwei Schritte näher an sie heran und legte die Hand auf ihren Arm. „Genau, die ist zu gar nichts zu gebrauchen.“
Sie tätschelte seine Hand. „Mein Lieber, dann hab ich eine ganz einfache Lösung.“
Erwartungsvoll blicke er sie an und meinte: „Ich dachte schon daran, mich über sie zu beschweren. So kann man schließlich nicht arbeiten!“
Sie drehte sich zu ihm, brachte ihren Mund zu seinem Ohr. Ihr Atem streifte seine Wange und in seinen Lenden begann es zu pulsieren.
„Ich dachte eher“, sie rückte wieder ein Stück von ihm ab, „dass du deinen verdammten Kaffee selber kochen kannst.“ Mit diesen Worten drehte sie sich auf ihren hohen Absätzen um und ließ ihn einfach stehen. Für einen Moment blickte er ihr verdattert nach, dann brach er in Lachen aus. Was für eine Frau! Diese Runde ging an sie, musste er sich eingestehen. Aber letztlich würde er ja doch gewinnen, das war immer schon so gewesen.
Emilias Worte ließen Heinz auch in der Nacht nicht los, und nachdem er sich zwei Stunden lang im Bett herumgewälzt und vergeblich versuchte hatte, einzuschlafen, war er wieder aufgestanden und hatte Puccinis Turandot in seinen CD-Player eingelegt. Er liebte Opern und hatte sich nur deshalb die teure Musikanlage geleistet – der einzige Luxus in seiner Wohnung. Die restliche Einrichtung war weder modern noch neu, dafür aber zeitlos und solide. Emilia hingegen hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als sie ihn das erste Mal besuchte. „Bieder“ war ihre Bezeichnung gewesen. Sie hatte ihm vorgeschlagen, er solle ihr seine Kreditkarte überlassen, sie würde seine Wohnung komplett neu möblieren, und danach würde er sie nicht mehr wiedererkennen. Genau diese Befürchtung hatte er gehabt, deshalb hatte er natürlich nichts dergleichen getan. Er fühlte sich in seinen vier Wänden wohl, so wie sie waren. Abgesehen davon hatte er Emilia damals, um es gelinde auszudrücken, nicht vertrauenswürdig genug gefunden, um ihr überhaupt etwas anzuvertrauen, von seiner Kreditkarte ganz zu schweigen. Das Verhältnis zwischen ihnen war vor wenigen Monaten noch ziemlich angespannt gewesen. Ja, seine Schwester hatte sich ziemlich verändert, und das eindeutig zu ihrem Vorteil.
Heinz hielt die Augen geschlossen und versuchte sich auf die Musik zu konzentrieren, sich ganz auf sie einzulassen, damit die rotierenden Gedanken in seinem Kopf zur Ruhe kamen. Doch es wollte ihm einfach nicht gelingen.
Seufzend stand er auf und drehte mit der Fernbedienung die Anlage ab. Für einen Augenblick irritierte die plötzliche Stille ihn, nur das Ticken der Wanduhr war zu hören.
Heinz holte seinen Laptop und schaltete ihn ein. Dann suchte er nach der Homepage von Täglich neu und ging die Lebensläufe der dort aufgeführten Mitarbeiter durch, doch auch das brachte ihn nicht weiter. Verdammt! Am liebsten wäre er augenblicklich ins Institut gefahren und hätte mit der Sektion von Kritzbergers Leiche begonnen, um irgendetwas Sinnvolles zu tun. Er ging davon aus, dass sich für beide Morde derselbe Täter verantwortlich zeigte. Nachdem Kritzberger sein erstes Opfer gewesen war, standen die Chancen gut, dass der Mörder Fehler gemacht hatte. Allerdings, musste Heinz einräumen, lernte der Typ schnell. Bei Fabó hatte es kaum verwertbare Spuren gegeben. Und das machte ihm, ehrlich gesagt, Sorgen.
Heinz sah auf die Zeitanzeige des Computers. 2.30 Uhr. Toll, es blieben ihm viereinhalb Stunden, bis er sich für die Arbeit fertig machen musste. Zum Schlafen zu wenig, zum Aufbleiben zu viel.
Zwischen drei und sechs Uhr war die schlimmste Zeit, in diesen drei Stunden kämpfte Stefan Tendlinger regelmäßig darum, munter zu bleiben. Normalerweise machte er einen Kontrollgang oder er ging nach draußen, um sich von der frischen Luft die Müdigkeit forttreiben zu lassen. Früher hatte er Kreuzworträtsel und Sudokus gelöst. Nach Danielas Tod war er fast ein halbes Jahr krank geschrieben gewesen. Seit er wieder arbeiten ging und seinen Plan verfolgte, beschäftigte er sich lieber mit seinen Recherchen zu den Zielobjekten und damit, Botschaften an Heinz Martin zu verschlüsseln, was ihm wesentlich mehr Befriedigung verschaffte als die simplen Wörter- und Zahlenrätsel aus den Zeitschriften.
Stefan war die Verantwortung bewusst, die er in seinem Job innehatte. Trotz der vielen Technik und der elektronischen Schaltanlage hingen Menschenleben davon ab, dass er als Fahrdienstleiter keine Fehler beging.
Seit drei Generationen arbeiteten die Tendlingers für die ÖBB. Schon als Kind hatte er mit nichts anderem gespielt als mit seiner Modelleisenbahn. Sein ganzes Taschengeld floss in die Eisenbahnanlage, er kaufte Züge, Schienen, Modellfiguren, Weichen, Signalanlagen. In seiner Freizeit, wenn andere Jungs mit ihren Fahrrädern in der Ortschaft herumkurvten oder Baumhäuser bauten, bastelte er Wärterhäuschen oder bemalte Pappmascheehügel und Bäume aus Holz. Die Liebe zur Bahn war geblieben und er wäre niemals auf die Idee gekommen, etwas anderes zu machen, als in die Fußstapfen seines Vaters – und auch seines Großvaters – zu treten. Wenigstens das hatte er von seinem Vater übernommen, wenn es auch sonst wenig gab, für das er seinem alten Herrn dankbar sein konnte. Ach, doch – die Lebensversicherung nach dem tragischen Unfall hatte seiner Mutter und ihm einen neuen Start ermöglicht.
Stefan schüttelte die Gedanken an die Vergangenheit ab und stand auf, um sich die Beine zu vertreten. Den nächsten Zug erwartete er in zwanzig Minuten; es blieb also genug Zeit, um auf die Toilette zu gehen und danach seine Brote zu essen. Und später, wenn der Güterzug abgefertigt war, stand ihm eine ganze Stunde zur Verfügung, um sich ein neues Rätsel für Heinz Martin auszudenken.
Helmut Wagner wurde vom Klingeln seines Weckers unsanft aus dem Schlaf geweckt. Mit einer Handbewegung schaltete er ihn aus. Die Verlockung war groß, einfach liegen zu bleiben. Die Nacht war verdammt kurz gewesen, und das lag nicht nur daran, dass er erst spät das Büro verlassen hatte. Danach hatte er beschlossen, sich noch ein Wiener Schnitzel zu gönnen, und es war bereits nach zweiundzwanzig Uhr, als er in seiner Wohnung ankam. Kaum hatte er sich vor den Fernseher gesetzt, rief ihn Sonja, seine Ex-Verlobte, aus Innsbruck an. Obwohl es nun schon über ein Jahr her war, seit sie sich getrennt hatten und er das immer noch als die einzige sinnvolle Lösung für ihre Probleme betrachtete, war sie ihm nicht gleichgültig.
Sie hatten stundenlang gequatscht, sich zuerst über Belanglosigkeiten ausgetauscht, doch je länger das Telefonat dauerte, desto mehr spürte Wagner die alte Vertrautheit und Verbundenheit. Sonja schien es ebenso gehen. Schließlich wurden sogar die Dinge angesprochen, die zu ihrer Trennung geführt hatten: Sonjas Schwangerschaftsabbruch; Wagners Verletztheit, weil sie ihm nicht einmal gesagt hatte, dass sie ein Kind von ihm erwartete; das Gefühl, aus ihrem Leben ausgeschlossen gewesen zu sein.
Und dann hatte Sonja vorgeschlagen, in zwei Wochen nach Wien zu kommen, um noch mal über alles zu reden – und zwar nicht nur übers Telefon.
„Du kannst natürlich bei mir schlafen“, hatte er ihr angeboten, obwohl er sich nicht sicher war, dass es sich dabei um eine gute Idee handelte.
„Nein, ich übernachte bei einer alten Freundin. Die freut sich bestimmt, mich wiederzusehen. Aber danke für dein Angebot und, wer weiß …?“
Es dauerte noch eine Weile, bis Wagner nach diesem Anruf einschlafen konnte. Wieder und wieder geisterten Sonjas Worte in seinem Kopf herum. Ihr verheißungsvolles „Wer weiß …?“ konnte alles Mögliche bedeuten – nur eins nicht: dass Sonja wieder ganz nach Wien ziehen würde. Und somit gab es keine Hoffnung, sie könnten noch einmal von vorne beginnen, wobei er sich gar nicht sicher war, ob er einen Neuanfang überhaupt wollte.
Wagner gab sich einen Ruck, strampelte die Decke von den Beinen, stand auf und stapfte in die Küche, um die Kaffeemaschine einzuschalten. Er hatte sie vor zwei Monaten gekauft und war restlos davon überzeugt, mit dem Vollautomaten die beste Anschaffung seines Lebens getätigt zu haben. Lange hatte er überlegt, ob sich so eine Investition auszahlen würde, schließlich war er allein. Aber dann hatte die alte Kaffeemaschine den Geist aufgegeben, eine neue war fällig gewesen. Weil Wagner keine Lust mehr auf sein morgendliches Kaffeedesaster verspürte, hatte er sich schließlich doch für einen Vollautomaten entschieden.
Während die Maschine sich aufheizte, ging er unter die Dusche, keine zehn Minuten später saß er bei seinem Morgenkaffee. In langsamen Schlucken trank er ihn aus einem Lieblingsbecher und genoss die Wärme, die sich in seinem Magen ausbreitete. Er gönnte sich noch eine zweite Tasse, verzichtete aber auf jegliche feste Nahrung, denn sein erster Dienstweg würde ihn heute in die Gerichtsmedizin führen, und da war es besser, vorher nichts zu essen.