Читать книгу Der Menschennäher - Valentina Berger - Страница 5
ОглавлениеProlog
10.38 Uhr
Adrian Kritzberger saß vor seinem Computer. „Bis Mittag will ich diesen Bericht auf dem Tisch haben“, klangen die Worte vom morgendlichen Telefonat mit dem Chefredakteur in ihm nach.
Es läutete an der Wohnungstür. Verflucht! Immer gerade dann, wenn es am wenigsten passte. Das musste der Postbote sein. Der kam immer um diese Zeit.
Seufzend erhob er sich von seinem Schreibtischstuhl, ging zur Tür und öffnete, doch nicht der Postbote, sondern ein ihm unbekannter Mann stand davor.
„Adrian Kritzberger?“
Er nickte. „Ja, steht auf der Tür. Was kann ich für Sie tun?“
Auf diese Frage bekam er keine Antwort. Der Arm des Fremden schoss vor. Im Bruchteil einer Sekunde erkannte er, was der Typ in der Hand hielt. Ein unglaublicher Schmerz durchfuhr ihn, machte ihn bewegungsunfähig, dann verlor er die Besinnung.
Als er erwachte, lag er auf seinem Bett. Ihm war heiß, das Herz schlug unregelmäßig. Eine Herzattacke? Er horchte in sich hinein. Die Decke unter seinem Körper warf Falten, die ihm unangenehm in den Rücken drückten. Das war jedoch nichts im Vergleich zu den pochenden Schmerzen an seinen Händen. Er hob seine Arme und bemerkte die Kabelbinder, mit denen er gefesselt war. Sie bewirkten, dass das Blut sich in Fingern und Händen staute. Jetzt fiel ihm der Mann mit dem Taser ein. Verdammt, er war überfallen worden! Adrian verfluchte sich für seine Naivität und Gutgläubigkeit. Täglich las und hörte man von Überfällen. Jedes Kind wusste, dass man Fremden nicht einfach die Tür aufmachen durfte. Wie oft hatte er selbst in einem seiner Artikel davor gewarnt! Und jetzt war er selbst betroffen.
Er versuchte, die Beine vom Bett zu schwingen, aber seine Bemühungen waren umsonst, denn auch die Füße waren zusammengebunden. Nun rächten sich die zwanzig Kilo Übergewicht, die er mit sich herumschleppte. Noch nie hatte er sich sehnlicher gewünscht, sportlicher zu sein. Resigniert lehnte er sich zurück. Er war überfallen, gefesselt und wahrscheinlich auch ausgeraubt worden. Viel hatte der Täter nicht erbeutet: etwa achtzig Euro, mehr trug Adrian nie bei sich – und den Laptop. Der Verlust seines Notebooks würde ihn am meisten schmerzen, doch neu war der nicht gewesen und die Daten waren auch nicht verloren. Nachdem eine Festplatte einmal den Geist aufgegeben hatte und er eine horrende Summe an einen Spezialisten für die Wiederherstellung seiner Dateien hatte zahlen müssen, sicherte Adrian immer alles doppelt und dreifach. Die Münzsammlung fiel ihm ein. Sie war immerhin ein paar Hundert Euro wert. Aber sonst gab es nichts, was sich zu stehlen lohnte. Der Täter hatte sich den Falschen ausgesucht.
Adrian lauschte. Nur nichts überstürzen! Vielleicht war der Räuber noch in der Wohnung. Außer seinem eigenen Atem, der ihm vorkam wie eine schnaufende Dampflokomotive, war nichts zu hören. Trotzdem war es sicherer abzuwarten. Wer wusste schon, was dem Mann einfiel, wenn er in Bedrängnis geriet? Obwohl – wenn es sich Adrian genau überlegte, hatte der Täter alles andere als nervös gewirkt. Eher gelassen, selbstsicher, beinahe freundlich. Nun fiel ihm auch ein, dass der Mann seinen Namen gekannt hatte. Ein Zufall, oder war er bewusst ausgewählt worden? Vielleicht saß er doch schlimmer in der Klemme, als er wahrhaben wollte. Er musste ruhig bleiben, nachdenken. Nur war das leichter gesagt als getan.
Adrian zwang sich dazu, langsam ein- und auszuatmen, so wie er es vor Jahren bei einem Autosuggestionstraining gelernt hatte. Einatmen. Es könnte schlimmer sein. Ausatmen. Immerhin lebe ich noch. Einatmen. Wie lange war ich weggetreten? Ausatmen. Vom Gefühl her höchstens ein paar Minuten.
Die Übung zeigte Wirkung. Adrian merkte, wie sein Herzschlag gleichmäßiger, sein Atem tatsächlich ruhiger wurde.
Irgendwann würde er es schaffen, sich aus dem Bett zu wälzen. Dann würde er so lange gegen den Boden treten, bis einer der Nachbarn aufmerksam wurde. Irgendwer würde bestimmt kommen, um nach ihm zu sehen. Oder es gelang ihm, aus dem Schlafzimmer zu robben. Nur bis zur Kommode direkt neben der Tür zum Wohnzimmer. Dort in der Schublade lag eine Schere. Ja, es hätte eindeutig schlimmer sein können. Sondiere die Lage, ermahnte er sich. Es war nicht die erste brenzlige Situation, in der er sich befand. Bisher hatte er noch jede gemeistert. Er hatte Schießereien überstanden, wäre beinahe als Geisel genommen worden – das bewegte Leben eines Reporters. Er würde es auch diesmal schaffen.
Gut, er war überfallen worden. Er lag gefesselt in seinem Bett, aber er lebte. Adrian Kritzberger gestattete sich noch ein wenig Ruhe. Später würde er all seine Kräfte brauchen, um von diesem verdammten Bett, aus diesem verfluchten Schlafzimmer zu kommen.
Eine Bewegung aus einer Ecke des Raumes ließ Kritzberger zusammenfahren. Der Feind? Der Einbrecher? Warum stand der hier im Schlafzimmer, anstatt die wenigen Wertgegenstände an sich zu nehmen und zu verschwinden?
Der Mann trat an das Bett und beugte sich über ihn. Fast glaubte Kritzberger, einen Geist vor sich zu haben. Ein Schutzanzug für einen simplen Einbruch?
„Was wollen Sie?“, fragte Kritzberger. Er erkannte seine eigene Stimme kaum wieder.
Der Mann sagte: „Ich werde dich töten. Ich schneide dir die Zunge raus und stopf dir damit das Maul.“
Das war der Moment, in dem Kritzberger wusste, dass er heute sterben würde.
Kritzberger regte sich. Stefan Tendlinger verharrte in einer Ecke des Raumes, beobachtete seine Beute. Hatte der Mann keine Angst? Er lag ganz ruhig da, atmete ein und aus, als würde er ein Nickerchen machen.
Am liebsten hätte Stefan ihn schon im Flur umgebracht. Es war nicht leicht, zu warten. Der Hass auf diesen Mann loderte schon lange in ihm. Seit einem Jahr, genau genommen. Danielas Tod war der Funke gewesen, der das Feuer in ihm entfachte. Seither wurde es immer wieder geschürt, manchmal brannte es so gewaltig, dass er befürchtete, es nicht mehr unter Kontrolle halten zu können. Aber Kontrolle war wichtig. Deshalb hatte er es sich versagt, Kritzberger sofort zu töten.
Stefan erschauerte. Er war seinem Ziel so nah! Mach nicht alles kaputt, indem du hektisch wirst! Halte dich an die Regeln, die du dir auferlegt hast. Jetzt ist das Spiel eröffnet!
Der Hass schwappte in Stefan über, das Feuer in ihm flackerte auf. Es war Zeit zu handeln.
Kritzbergers Kopf ruckte in seine Richtung, als er aus der Zimmerecke ans Bett trat.
„Was … was wollen Sie?“, krächzte Kritzberger. Seine Augen waren geweitet und die Macht, die Stefan empfand, gab den Flammen in ihm neue Nahrung.
Stefan lächelte, als er antwortete: „Hör gut zu, denn ich wiederhole mich nicht. Es ist egal, was du tust und was du sagst. Ich werde dich töten. Ich schneide dir deine Zunge raus und stopf dir ein für alle Mal das Maul. Noch Fragen?“Kritzberger schluckte hörbar. Gut. Die Botschaft war angekommen.
„Aber warum? Was hab ich Ihnen getan? Ich kenne Sie nicht einmal. Vielleicht verwechseln Sie mich.“
Das entlockte ihm ein Lachen.
„Nein, keine Sorge. Es erwischt schon den Richtigen.“
„Warum?“, fragte Kritzberger noch einmal.
Stefan trat näher ans Bett und beugte sich über Kritzberger. Der Geruch nach Angstschweiß und Pisse drang an seine Nase. Wie ekelhaft! Wenn er nicht ohnehin schon vorgehabt hätte, den Mann zu ermorden, dann hätte er diesen Entschluss spätestens jetzt gefasst.
„Ich sorge für Gerechtigkeit. Wenn du und die anderen es nicht könnt, dann muss ich es tun. Mach den Mund auf!“
Kritzberger presste die Kiefer so fest aufeinander, dass die Zähne knirschten, und schüttelte hektisch den Kopf. Das würde ihm auch nichts nützen.
Stefan drückte mit Daumen und Zeigefinger auf Kritzbergers Wangen. Der Mistkerl wand sich, er drückte fester zu. Gut, dann eben noch einmal der Taser.
Ein Stromstoß. Kritzbergers wuchtiger Körper bäumte sich auf, dann lag er still. Die Kiefermuskeln waren nun ganz locker. Er ergriff Kritzbergers Zunge. Kein Zögern, kein Nachdenken, keine Reue, als er das Messer ansetzte. Es war nicht anders, als würde er Fleisch fürs Mittagessen schneiden. Muskelfleisch. Blut quoll aus dem Mund des Mannes, es wurde immer mehr und machte die Zunge glitschig, sodass sie Stefan aus den Fingern glitt. Kritzberger begann zu wimmern. Noch einmal ergriff er Kritzbergers Zunge, die nur mehr an einem kleinen Stück festhing. Mit einem letzten kräftigen Schnitt hielt er seine Trophäe in der Hand.
Kritzberger stieß gurgelnde Laute aus, mit jedem Stöhnen trat mehr Blut aus seinem Mund.
Ersticken sollst du! Ersticken an deinem Blut. Niemals soll je wieder etwas aus diesem lasterhaften Maul kommen.
Stefan griff zu der gebogenen Nadel, wie sie auch von Ärzten zur Wundversorgung verwendet wurden. Anstelle eines Fadens nahm er dünnen, biegsamen Draht, den er vorher bereits in die richtige Länge gebracht hatte. Mehrmals rutschte ihm die Wundnadel aus den Fingern. Es war schwieriger als erwartet, Ober- und Unterlippe durchzustechen. Er hatte überlegt, sich einen dieser Nadelhalter zu besorgen, die aussahen wie eine Pinzette, war davon aber wieder abgekommen. Blöd. Damit hätte er sich selbst einen großen Dienst erwiesen. Beim nächsten Mal, tröstete er sich. Er hatte es ja beinahe geschafft. Mit großer Konzentration setzte er einen Stich neben den anderen. Als er fertig war, betrachtete er das X-Muster, das sich insgesamt viermal wiederholte.
Wie lange hatte er dafür gebraucht? Er blickte auf den Wecker. 11.15 Uhr. Eine gute halbe Stunde? Fürs erste Mal nicht schlecht! Bisher hatte er nur an Hähnchen geübt, aber die bluteten nicht. Mit der Zeit und mit zunehmender Übung würde er schneller werden. Und vielleicht würde der Nächste auf seiner Liste länger leiden, als Kritzberger es getan hatte. So ein Waschlappen! Er hatte nicht mal bis zur Hälfte durchgehalten.