Читать книгу Der Menschennäher - Valentina Berger - Страница 8
ОглавлениеKapitel 3
Die tiefe Verzweiflung der gestrigen Nacht hatte sich in Wut und Entschlossenheit gewandelt. Er hatte eine Mission, die er erfüllen würde, komme, was wolle.
Den Vormittag hatte Stefan Tendlinger damit verbracht, weitere Informationen über sein nächstes Zielobjekt zu sammeln. Je länger er sich mit ihm befasste, desto dringender wurde sein Verlangen, es zu töten.
Wenn doch nur endlich Heinz Martin reagieren würde. Er musste bereits den Brief erhalten haben, den er bei Fabó deponiert hatte. Oder etwa nicht? Hätte er ihn etwa offen liegen lassen oder sich ein leichteres Rätsel ausdenken sollen? Aber dann wäre es keine Herausforderung für Martin gewesen.
Dass Fabós Leiche entdeckt worden war, hatte er in den Zeitungen gelesen. Auch in den Morgennachrichten war der Mord der Aufhänger schlechthin.
Es war ein eigenartiges Gefühl, von seiner Tat aus dem Fernsehen zu hören. Stefan kam es vor, als hätte jemand anders es getan. Die Berichte schufen eine Distanz, als hätte er bloß zugesehen.
Warum Kritzbergers Leiche immer noch nicht gefunden worden war, konnte er hingegen nicht nachvollziehen. Dabei hatte er alles so gut geplant gewesen. Wochenlang hatte er die Wohnung beobachtet, sich notiert, wer wann kam und wer ging. Montags und donnerstags war Kritzbergers Putzfrau da. Ihr hatte er die Aufgabe zugedacht, ihren toten Arbeitgeber zu entdecken. Sie musste krank geworden sein – und das war ärgerlich. Der schönste Plan nützte gar nichts, wenn er, wenn es darauf ankam, nicht funktionierte. Vielleicht sollte er einen anonymen Hinweis abgeben. Zumindest er würde sich an die Regeln halten.
Seinem Sohn Fabian hatte Stefan erklärt, man müsse sich immer an Spielregeln halten. Mensch ärgere dich nicht, Mühle und UNO waren die Lieblingsspiele seines Sohnes gewesen. Wie jedes Kind hatte Fabian versucht zu schummeln, war in Tränen ausgebrochen, wenn er verloren hatte, aber Stefan war hart geblieben. Regeln waren dafür da, dass man sie befolgte. Brach man sie, musste man mit Konsequenzen rechnen. Kritzberger, Fabó und die anderen hatten die wichtigste Regel gebrochen: die der Menschlichkeit. Die Strafe dafür war der Tod. Hart, aber gerecht.
Stefan schob alle störenden Gedanken beiseite. Er musste sich auf seine Aufgabe konzentrieren. Er holte seine Aufzeichnungen aus seinem Versteck in dem begehbaren Kleiderschrank. Man musste schon wissen, wonach man suchte, um das schuhschachtelgroße Fach zu entdecken. Von diesen Fächern gab es insgesamt zwei, die er eigenhändig gebaut hatte, für Dinge, die keinesfalls in Fabians Hände gelangen sollten: ein paar ziemlich gewagte Fotos von sich und Daniela, ihr Tagebuch …
Später sammelte er dort alle Zeitungsartikel, in denen Fabians Tod erwähnt wurde, damit Daniela sie nicht zu Gesicht bekam. Er wollte sie vor dem ganzen Müll, der geschrieben und gedruckt wurde, schützen.
Worte, einmal ausgesprochen, konnte man nicht wieder zurücknehmen. Sie setzten sich fest, hallten wider, berührten auf irgendeine Weise. Manche waren wie ein mildes Lüftchen, manche wie ein Eisregen. Man konnte Barrieren bauen, sich gegen sie wappnen, versuchen, sie abzuschütteln, doch sie hafteten wie Kletten, wenn sie erst einmal aufgenommen wurden. Wie ein Virus in einen Organismus eindringt, lagern Worte sich in der Psyche ab. Noch schlimmer als gesprochene Worte waren die geschriebenen. Sie hatten etwas Dauerhaftes, Unvergängliches.
Worte waren Schuld an Danielas Selbstmord.
Stefan trug die Notizen ins Wohnzimmer. Ein Büchlein, bereits zur Hälfte gefüllt. Ja, auch er hatte sie auf Papier gebannt, Worte, Sätze. Für jedes Opfer mehrere Seiten. Ihre Tagesabläufe, wohin sie zum Essen gingen, mit welchen Leuten sie sich trafen. Vorlieben, Abneigungen. Adressen, Telefonnummern, Mailadressen. Er las seine Eintragungen über Kritzberger und Fabó. Dann blätterte er weiter, bis er die Seite gefunden hatte, auf der mit Druckbuchstaben OLIVER ZURNER stand. Trotz seiner bisherigen Recherchen waren die Informationen etwas spärlich. Es wurde Zeit, das zu ändern.
Wagner betrat mit Heinz das Polizeigebäude, in dem außer dem Kommissariat auch die forensische Abteilung der Kriminalpolizei untergebracht war. Eine Glastür trennte den Labortrakt vom Rest ab. Hinter dieser Tür gingen die Uhren anders, stellte Wagner zum wiederholten Mal fest. Es ging zu wie in einem Bienenstock. Apparate surrten, Mitarbeiter bedienten Geräte, von denen andere Kriminallabore träumten.
Der Andrang auf solch einen Dienstposten war enorm, doch nur die besten der Besten schafften es, aufgenommen zu werden. Die forensische Abteilung war das Herzstück des Kriminalamtes und Wagner war froh, sie im selben Gebäude zu haben. Es machte die Wege kürzer, Ergebnisse waren schneller da. Ginge es nach ihm, wäre die Gerichtsmedizin ebenfalls hier untergebracht, um alles unter einem Dach zu vereinen.
Laura blickte auf. Ihr Anblick versetze Wagner einen Stich. Trotz des übergroßen Laborkittels wirkte sie äußerst feminin. Ihr langes schwarzes Haar hatte sie, wie immer bei der Arbeit, hochgesteckt. Es hatte einmal Zeiten gegeben, in denen Wagner gehofft hatte, mit Laura den Rest seines Lebens zu verbringen, doch irgendwie war es immer der falsche Zeitpunkt gewesen. Jetzt war sie mit diesem Reporterfritzen liiert, und unweigerlich fragte er sich, ob der schaffen würde, was ihm versagt geblieben war: eine dauerhafte Beziehung mit Laura Campelli zu führen.
„Gut, dass ihr da seid“, sagte sie und winkte ihn und Heinz näher.
„Wo ist dieser Brief?“, fragte Heinz. Laura deutete auf die Wand aus Panzerglas gegenüber, hinter der ein Mann in einem Schutzanzug an einem Tisch stand und mit etwas hantierte, das nach einer Zange aussah.
Laura fing Heinz’ fragenden Blick auf. „Man kann nie wissen. Wir haben ihn auf Viren untersucht und nun schaut ihn sich einer unserer Sprengstoffexperten an. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass wir ihn geöffnet haben, aber es handelt sich um Beweismaterial, und das Risiko …“
„Meinst du nicht, dass ihr übertreibt?“ Heinz schüttelte den Kopf.
Laura sah ihn fest an. „Nein. Sicherheit geht vor. Kommt es dir nicht komisch vor, dass in der Wohnung eines Toten ein an dich adressierter Brief liegt?“
„Laura hat recht“, mischte sich Wagner ein. „Denk an die Briefbombenattentate. Oder an die Milzbrandgeschichte. Man kann einfach nicht vorsichtig genug sein.“
Heinz seufzte. „Also gut. Wann ist der Mann fertig?“
Eben in diesem Moment hob der Techniker im Schutzanzug die Hand. Alles okay, zeigte er mit den Fingern.
„Können wir jetzt?“, fragte Heinz.
Laura war schon aufgestanden. „Ja, Brief und Umschlag sind sauber.“ Sie überreichte Heinz ein paar Handschuhe. „Wir haben noch keine Fingerabdrücke genommen.“
Wagner merkte, wie Heinz neben ihm schluckte, als der Mann, der den Brief untersucht hatte, auf ihn zukam. Zögernd streckte Heinz die Hand aus. Der Sprengstoffexperte überreichte ihm einen Umschlag und ein Blatt Papier mit den Worten: „Bitte sehr. Wenn’s ein Liebesbrief ist, sollten Sie sich besser eine andere Freundin suchen.“
Heinz hatte die Handschuhe übergezogen und faltete den Zettel auseinander, während Laura das Kuvert für ihn hielt.
„Ich kapier das nicht“, sagte er.
„Was steht denn drin?“ Wagner wollte nicht neugierig erscheinen, aber das Schriftstück konnte wichtige Hinweise enthalten.
Heinz hielt ihm das Papier hin. Laura stellte sich knapp neben ihn und Wagner genoss für einen Augenblick ihre Nähe und den Duft ihres Haares, ehe er einen Schritt von ihr abrückte.
„Das ist Kauderwelsch, ein schlechter Scherz“, brummte Wagner enttäuscht. Er hatte sich mehr erhofft.
Laura starrte immer noch auf die Nachricht. Dann schaute sie zuerst ihn und dann Heinz an.
„Es könnte eine verschlüsselte Botschaft sein oder ein Rätsel.“
„Ich hasse Rätsel“, sagte Heinz.
Wagner schüttelte den Kopf. „Nein, tust du nicht, im Gegenteil, du bist sogar ein Rätselspezialist. Jeden Tag löst du Fragen um und über den Tod.“
„Das hier ist aber ganz was anderes.“
„Aber offenbar nicht für den Verfasser“, warf Laura ein. Sie ging zu ihrem Schreibtisch und schrieb die paar Zeilen ab. Dann kam sie zurück und drückte Heinz den Zettel in die Hand. „Das Original brauche ich“, erklärte sie.
„Verflucht, warum muss die Nachricht so kryptisch sein?“, brauste Heinz auf.
„Was hast du denn erwartet? Lieber Herr Martin, ich bin Fabós Mörder; Sie finden mich unter der und der Adresse – ach ja, und meinen Namen verrate ich Ihnen außerdem?“ Laura wollte ganz sichergehen: „Du hast doch mit Fabó nie etwas zu tun gehabt, oder?“
„Nein, zumindest kann ich mich nicht an ihn erinnern.“
Wagner hob die Schultern. Plötzlich war ihm kalt. „Eigenartig finde ich es schon, dass er ausgerechnet mit dir Kontakt aufnimmt.“
Das letzte Mal, als ein Mörder eine Nachricht für Heinz hinterlassen hatte, war es eine persönliche Sache gewesen. Sollte es etwa diesmal wieder so sein?
Laura legte die Hand auf Heinz’ Arm. Wagner konnte das Gefühl von Neid nicht unterdrücken, obwohl er wusste, dass er kein Recht hatte, auf irgendjemanden eifersüchtig zu sein.
„Ich muss mich jetzt um die anderen Spuren kümmern. Ich melde mich, wenn ich etwas Neues für euch habe.“
„Und ich möchte mit Fabós Kollegen reden“, sagte Wagner.
Resigniert hob Heinz die Arme. „Und was mach ich in der Zwischenzeit?“
„Frühen Feierabend! Du arbeitest eh immer zu viel. Wir treffen uns im Traviata, sagen wir, um halb sechs? Dann musst du nicht übermäßig lange darauf warten, dass du etwas Gescheites zum Essen bekommst – und bring dieses verdammte Rätsel mit.“
„Ich dachte, wir sprechen während des Essens nicht über die Arbeit“, sagte Heinz.
„Tun wir auch nicht. Aber es gibt immer ein Danach.“
Wagner und Heinz verließen das Labor. Sein Freund ging den Flur entlang zur Treppe, die hinab ins Erdgeschoss zum Ausgang führte. Er selbst wollte noch in sein Büro. Drei Zweierteams arbeiteten an diesem Mordfall mit. Wagner hatte sie damit beauftragt, Fabós Nachbarn zu befragen. Der Reporter musste sich gewehrt und geschrien haben. Wagner konnte sich nicht vorstellen, dass niemand im Wohnhaus etwas von dem Todeskampf mitbekommen hatte. Außerdem gab es einige Ungereimtheiten: Wie hatte der Mörder es geschafft, beim Hinausgehen keine Blutspuren zu hinterlassen? Wie hatte er es angestellt, überhaupt erst in die Wohnung hineinzukommen? Nichts deutete auf einen Einbruch hin, was wohl bedeutete, dass Fabó dem Täter selbst geöffnet hatte. Hatte er ihn erwartet, oder hatte der Mörder gar einen Schlüssel gehabt? Warum solch eine brutale Vorgehensweise? Es hätte doch gereicht, Fabó eine Kugel durch den Schädel zu jagen oder – wenn ihm das zu laut gewesen wäre – die Kehle durchzuschneiden. Und das war bloß ein Bruchteil der Fragen, auf die er Antworten suchte.
Wagners Anwesenheit löste in Laura verworrene Gefühle aus. Sie wusste einfach nicht, wie sie ihm begegnen sollte. Im letzten Jahr war einfach so viel passiert … Dinge, die ihre ohnehin komplizierte Beziehung zu Wagner noch schwieriger gemacht hatten. Egal, sie hatte Wichtigeres zu tun, als sich über Wagner den Kopf zu zerbrechen.
Als Erstes würde sie den Umschlag und den Brief an Heinz auf Fingerabdrücke untersuchen. Schade, dass es sich um ein Kuvert mit selbstklebender Lasche handelte. Wo waren die guten altmodischen Umschläge, die man noch ablecken musste, um sie zuzukleben? Von einem solchen hätte sie die DNA des Täters ermitteln können – sofern dieser nicht so schlau gewesen wäre, einen Klebestift zu benutzen statt die Umschlaglasche mit der Zunge zu befeuchten. Mörder waren manchmal an den erstaunlichsten Stellen nachlässig.
Der Brief war selbst handschriftlich verfasst – das war so gut wie ein Fingerabdruck. Sie würde ihn einer Grafologin schicken. Die Frau war ein Phänomen. Unglaublich, was die alles aus ein paar Worten herauslas, welche Erkenntnisse sie allein daraus gewann, wie fest der Schreiber den Kugelschreiber aufgedrückt hatte und welchen Wortlaut der Verfasser des Textes verwendete. Vielleicht fiel ihr ja auch etwas zur der Verschlüsselung ein.
Laura und ihr Team hatten am Tatort nur wenige Hinweise auf den Täter gefunden. Wie er es angestellt hatte, solch ein Blutvergießen zu veranstalten und trotzdem die meisten Spuren zu beseitigen, war ihr schleierhaft.
Es gab mehrere Täterkategorien. Manchen war es schlichtweg egal, ob sie Hinweise auf ihre Identität hinterließen. Dazu gehörten die wenig klugen Verbrecher oder solche, die meinten, ohnehin schon alles verloren zu haben, und denen es egal war, ob sie gefasst wurden oder nicht.
Einige versuchten, alle Spuren zu verwischen, die auf sie hindeuteten – mit mehr oder weniger großem Erfolg.
Dieser Mörder hier war intelligent ans Werk gegangen. Er hatte sein Opfer ohne viel Gegenwehr überwältigt. Es gab keine Kampfspuren in der Wohnung. Der Täter hatte Handschuhe getragen, denn es gab keinen einzigen Fingerabdruck. Die Fußspuren am Wohnzimmerteppich ließen den Schluss zu, dass der Verbrecher ähnliche Überschuhe getragen hatte, wie sie es bei der Arbeit tat. Die Schuhgröße dreiundvierzig, die sie anhand dieser Spuren ermittelt hatte, traf auf den Großteil der männlichen Wiener Bevölkerung zu. Nur dieser handgeschriebene Brief war schlichtweg dumm, ein Zeichen von maßloser Selbstüberschätzung. Und daran waren schon andere Mörder als dieser gescheitert.