Читать книгу Der Menschennäher - Valentina Berger - Страница 6
ОглавлениеKapitel 1
Wenn es etwas gab, das Heinz Martin nicht leiden konnte, dann waren das Anrufe knapp vor Dienstschluss. Sie verhießen in der Regel nicht Gutes. Er hatte schon seinen Mantel an und war versucht, das Läuten des Telefons zu ignorieren, aber sein Pflichtbewusstsein hinderte ihn daran, einfach durch die Tür zu spazieren und zu tun, als wäre er schon weg. Seufzend ging er zurück zum Schreibtisch und hob ab. „Martin, Gerichtsmedizin“, meldete er sich.
Heinz verabschiedete sich von dem Gedanken an Feierabend. Sein Freund und Leiter der Mordkommission, Helmut Wagner, war am Apparat und erzählte, eine männliche Leiche sei von der Freundin gefunden worden. Sie hatte allein einen Kurzurlaub auf Kos verbracht, war direkt vom Flughafen in die Wohnung ihres Freundes gefahren – und dort lag er. Im Wohnzimmer, auf der Couch, tot.
„Sein Name ist ...“, Heinz hörte Wagner in seinem Notizbuch blättern, „ … Patrick Fabó.“
„Herzinfarkt, oder was?“, fragte Heinz, obwohl er wusste, dass er in diesem Fall wohl kaum hinzu gebeten worden wäre.
„Haha. Bestimmt nicht“, konterte Wagner. „Es ist auf einen Blick klar, dass der Typ an keiner natürlichen Todesursache gestorben ist. Außerdem wirkt er durchtrainiert, fit und gesund. Kein Herzinfarktrisikopatient.“
„Na, das hat ihm aber auch nichts genützt. Sag bloß, du hast dir die Leiche tatsächlich angesehen!“
Heinz wusste, dass Wagner eine für seinen Beruf untypische Abscheu gegen Tote hatte, was wiederum ihn dazu veranlasste, seinen Freund damit bei jeder Gelegenheit auf die Schippe zu nehmen.
„Was bist du wieder nett zu mir! Klar habe ich den Toten gesehen, und mir ist, ehrlich gesagt, etwas flau im Magen.“
„Das überrascht mich nicht, so geht es dir schließlich an jedem Tatort.“
„Komm einfach her, dann kannst du dir selbst ein Bild machen.“
Heinz fragte noch nach der Adresse. Es war später Nachmittag, der Berufsverkehr hatte voll eingesetzt. Selbst wenn er nicht im Stau stecken blieb, würde er in zwei Stunden nicht am Praterstern sein können, um sich mit seiner jüngeren Schwester zu treffen.
Während er Richtung Parkplatz ging, holte er sein Handy aus der Tasche und wählte Emilias Nummer.
„Es tut mir leid, ich muss unseren Museumsbesuch verschieben. Wagner hat mich gerade zu einem Tatort gerufen“.
Emilia war zwar enttäuscht – sie hatte sich auf ihren gemeinsamen Abend gefreut –, aber sie zeigte Verständnis. Schließlich wäre sie selbst beinahe Opfer eines Serienkillers geworden. Seither betrachtete sie Heinz’ Arbeit mit anderen Augen. Neuerdings dachte sie sogar daran, Medizin zu studieren. Heinz wusste nur nicht, ob er diesen Plan gutheißen oder ob er versuchen sollte, ihr ihn wieder auszureden. Er bezweifelte, ob Emma, wie er sie nannte, das durchstehen würde. Arztsein war anstrengend. Andererseits hatte sie immer schon einen eigenen Kopf gehabt – wenn sie es wirklich wollte, würde sie es auch schaffen.
Heinz hatte sein Auto erreicht. Die ganze Fahrt über beschäftigte ihn die Frage, was ihn wohl an diesem Tatort erwarten mochte. Als Gerichtsmediziner hatte er schon allerhand erlebt und gesehen. Opfer von Verkehrsunfällen hatte er ebenso oft obduziert wie Mordopfer. Frauenleichen, bei denen die Augen herausgetrennt worden waren. Am schlimmsten waren die toten Babys gewesen. Ein ermordeter Mann, das klang nach Routine. Das war gut. Er hatte die Nase voll von spektakulären, schwierigen Fällen.
Wagner stand vor dem Wohnhaus und wartete auf Heinz Martin. Das war die offizielle Version. In Wirklichkeit war er froh, an die frische Luft zu kommen.
In den vielen Dienstjahren hatte er sich mittlerweile so weit im Griff, sich nicht zu übergeben, ein Flattern im Magen war allerdings geblieben und würde ihn wohl für den Rest seines Berufslebens begleiten. Es fühlte sich an, als hätte er zwei Tage lang gefastet und danach einen Liter Wasser in sich hineingeschüttet.
Da kam Heinz’ Auto am Gehsteigrand zum Stehen. Sein Freund ließ das Fenster herunter.
„Du hättest mir einen Parkplatz organisieren können.“
Wagner hob grüßend die Hand. „Dir auch einen schönen Abend. Um die Ecke ist ein Supermarktparkplatz. Sind nur ein paar Schritte.“ Hinter Heinz hupte ein ungeduldiger Autofahrer.
„Schon gut!“, rief Heinz und gab Gas. Am Ende der Straße bog er ab. Ein paar Minuten später kam er zu Fuß, mit seiner Arzttasche in der Hand, auf Wagner zu.
„Laura ist mit ihrem Team oben. Wir müssen warten, bis sie uns grünes Licht gibt“, empfing Wagner ihn.
„Hm, wie lange wird das dauern?“
„Du kennst doch Laura. Ich habe mich gar nicht zu fragen getraut. Du weißt ja, wie sie auf ‚Wie lange?‘ reagiert.“
Heinz grinste. „Verstehe. Was erwartet mich dort oben?“
„Ich habe dir ja gesagt, dass die Freundin ihn gefunden hat. Sie hat ihn eindeutig identifiziert. War ein schöner Schock für sie, der Notarzt musste ihr was zur Beruhigung geben. Bei dem Opfer handelt es sich um Patrick Fabó, zweiundvierzig Jahre alt, freier Journalist.“
Heinz stellte die Tasche auf den Boden zwischen seine Beine und rückte seine Brille zurecht. „Ein Journalist? Wem ist der auf die Zehen gestiegen, dass er umgebracht wurde?“
„Er wurde nicht einfach nur umgebracht. Es ist ein ziemlich gruseliger Anblick.“ Wagner entging nicht, dass Heinz belustigt die Augenbraue hob. „Ich weiß, was du denkst. Aber so etwas wie hier hatten wir noch nie.“
In diesem Moment trat Laura Campelli aus der Haustür. Sie hatte einen Ganzkörperschutzanzug an. Sie nahm die Kapuze ab, zog das Gummiband aus ihrem Haar und fuhr mit den Fingern durch ihre schwarzen Locken. Sie wandte sich an Heinz: „Hallo, schön, dass du da bist. Du kannst jetzt raufgehen. Das Notwendigste haben wir gesichert, halte dich trotzdem ans Wohnzimmer – und bleib auf dem Trampelpfad. Mit dem Rest der Wohnung sind wir noch lange nicht durch.“
Heinz blickte Wagner auffordernd an.
„Nein, danke. Ich bin nicht vergnügungssüchtig. Einmal reicht. Schau ihn dir an und sag mir, wann du ihn obduzierst.“
Heinz hob seine Tasche auf und verschwand im Eingang.
Laura schickte sich an, ihm zu folgen.
„Laura!“, rief Wagner sie zurück. Sie drehte sich nach ihm um und sah ihn fragend an. Er hätte ihr gern gesagt, dass sie wunderschön aussah. Dass ihr schwarzes Haar einen perfekten Kontrast zu dem Weiß des Anzugs bot. Er hätte sie fragen können, ob sie nachher mit ihm ein Glas Wein trinken oder was essen wollte. Doch nichts davon kam ihm über die Lippen. Es hatte ja doch keinen Zweck. Alle Annäherungsversuche endeten in einem Desaster. Er schüttelte den Kopf und winkte ab. „Nichts. Glaubst du, er hat noch gelebt, als ihm das angetan wurde?“
Laura zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht. Heinz wird dir das mit Bestimmtheit sagen können, aber mein Gefühl sagt, ja.“
„Armes Schwein.“ Wagner wollte sich gar nicht vorstellen, welche Schmerzen Fabó hatte erdulden müssen.
„Wir müssen unser Bestes geben!“, sagte er.
Laura sah ihn an, als wäre er verrückt. „Das tun wir doch immer!“ Dann war sie durch die Eingangstür und aus seinem Blickfeld verschwunden.
Laura ärgerte sich immer noch über Wagners Worte. Meinte er, sie würde die Sache auf die leichte Schulter nehmen? Das hatte sie noch nie getan. Sie blickte sich in der Wohnung um und ein eigenartiges Gefühl beschlich sie. Nur wenige Schritte von ihrem Standort war ein Mann brutal ermordet worden, auf eine Art und Weise, die sie ihrem schlimmsten Feind nicht wünschen würde. Auch jetzt noch, ohne den verstümmelten Körper, der mittlerweile von Heinz untersucht und in die Gerichtsmedizin überführt worden war, schien es, als wäre er hier und versuchte, ihr etwas zu sagen. Automatisch wanderte ihr Blick immer wieder zu der Couch, auf der Fabó gesessen hatte. Jetzt, da der Leichnam weggebracht worden war, sah man nur mehr einen großen Blutfleck. Wie wenig doch von einem übrig blieb, wenn man gestorben war.
Laura schüttelte ihre düsteren Gedanken ab. Es sah ihr gar nicht ähnlich, dass ein Tatort sie so mitnahm. Vielleicht lag es daran, dass Fabó ein Berufskollege ihres Freundes gewesen war. Vielleicht kannte Wolfgang Fabó sogar.
Sie sollte ihn anrufen. Nicht, um ihn zu fragen, ob ihm der Name Patrick Fabó etwas sagte, sondern weil sie verabredet gewesen waren.
Wolfgang brachte ein wenig Beständigkeit in Lauras chaotisches Leben. Es war ein gutes Gefühl, jemanden zu haben, der sie mit einer Umarmung begrüßte, auch wenn sie nach Tod und Verwesung stank, ein Geruch, der sogar nach mehrmaligem Duschen nicht wegzubekommen war.
Unter ihrem Schutzoverall war ihr heiß. Sie und die anderen waren schon seit über drei Stunden in der Wohnung, hatten jede Menge Fasern, Blutproben und Fingerabdrücke genommen, aber Laura bezweifelte, ob die sie weiterbringen würden. Es war Zeit, Feierabend zu machen. Alles, was noch zu tun war, konnte am nächsten Tag erledigt werden. Wagner und Heinz hatten sich bereits vor einer Stunde von ihr verabschiedet.
„Leute, wir machen hier morgen weiter. Pünktlich zehn Uhr!“, rief sie ihren Mitarbeitern zu.
Nach und nach versammelte sich die Truppe im Flur. Gemeinsam verließen sie die Wohnung.
Ferry, ihr Stellvertreter, würde mit dem Kleinbus zum Labor zurückfahren. Laura wusste die Proben in guter Hand. Zwei jüngere Kolleginnen wollten von ihm mitgenommen werden, weil sie ihre Fahrzeuge dort am Parkplatz stehen hatten. Laura klopfte sich imaginär dafür auf die Schulter, dass sie sich dazu entschlossen hatte, ihren eigenen Wagen zu nehmen. So sparte sie eine Menge Zeit.
Seufzend schloss sie die Tür zu ihrem alten, verbeulten Auto auf. Sie hing an dieser Rostlaube, und jedes Mal stieg sie mit einem leisen Gebet auf den Lippen ein. „Bitte lass ihn anspringen.“ Bisher hatte es geholfen.
Nach ein paar Umdrehungen und einem jaulenden Geräusch startete der Motor. Laura stieß erleichtert die Luft aus.
Wolfgang! Sie musste ihn anrufen und ihm absagen. Der Tag war anstrengend gewesen, sie sehnte sich nach einer heißen Dusche, nach ein paar Kuscheleinheiten mit ihrem Kater und nach ihrem Bett.
Andererseits, ein Abendessen, das sie weder selbst kochen noch in der Mikrowelle aufwärmen musste, hatte etwas sehr Verlockendes – und sie wusste, dass Wolfgang etwas vorbereiten wollte.
Laura sah auf die Uhr. Also gut. Wenn sie sich beeilte, könnte sie es in einer Stunde schaffen, bei ihm zu sein.
„Hallo, mein Lieber! Gib mir eine Stunde – und ich sage gleich, ich bringe einen Riesenhunger mit. Ich möchte nur noch schnell heim, duschen und mich umziehen.“
Wolfgang lachte und Laura wurde warm ums Herz. Der Tod, den sie noch unmittelbar in Fabós Wohnung um sich gespürt hatte, verflüchtigte sich, als sei er ein Nebelfeld, das bei Sonnenschein verschwand.
„Schön“, sagte Wolfgang. „Ich würde die nächsten dreihundert Jahre auf dich warten. Was hältst du davon, gleich herzukommen? Duschen kannst du bei mir auch, ich leihe dir meinen Bademantel, den kuscheligen, den du so gern magst – und eine Nackenmassage biete ich dir obendrein.“
„Ich bin in einer halben Stunde da“, sagte Laura lächelnd. Wie hätte sie solch einem Angebot widerstehen können?