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2.1.1 Prämissen der ethnomethodologischen Konversationsanalyse
ОглавлениеEine Grundannahme der ethnomethodologisch ausgerichteten Gesprächsanalyse betrifft die Ordnung im Gespräch, die als Ausspruch „order at all points“ (Sacks 1995: I: 484 [Spring 1966, lecture 33]; Sacks 1984: 22) bekannt ist und besagt, dass jedes Detail in der Interaktion seine Bedeutung hat. So erklärt Heritage (1984a: 241) „no order of detail can be dismissed, a priori, as disorderly, accidental or irrelevant“. Pausen und Stimmveränderungen haben also denselben Stellenwert wie semantisch reiche Wörter. Die Prämisse bedeutet, dass Menschen im Gespräch Sinn und Bedeutung aus dem Gesagten machen und deshalb eine grundlegende Ordnung vorhanden sein muss. Gerade Phänomene wie Reparaturen zeigen auf, wie die erwartete, ‚normale’ Ordnung wäre, indem durch den Fokus auf ‚fehlerhafte’ Bestandteile eine Abweichung von der Norm gekennzeichnet wird (vgl. Sidnell 2013: 87). Wenn man davon ausgeht, dass kein Detail in der Analyse ausser Acht gelassen werden darf, da es vielleicht bedeutungstragend ist und Aufschluss über die tatsächlichen Praktiken zulässt, wird klar, dass die Analyse von Gesprächen unersättlich weitergeführt werden kann. Es ist also wichtig, zwar einerseits offen an die Daten heranzutreten und möglichst alle Interpretationswege zu bedenken, andererseits jedoch auch klare Fokussierungen von Einzelphänomenen anzustreben, um nicht in der Fülle der Details die Grundstrukturen der Gespräche zu vernachlässigen.
In direktem Zusammenhang mit der Prämisse order at all points kann auch die induktive, materialgestützte Vorgehensweise verstanden werden. Wenn nämlich alle Details im Gespräch potenziell bedeutungskonstitutiv sind, so müssen all diese Details in den Daten selbst betrachtet werden. Es ist demnach bezeichnend, dass in der Gesprächsanalyse die Fragestellungen am Material selbst entwickelt werden und nicht von Hypothesen ausgehend die Daten analysiert werden (vgl. z.B. Deppermann 2008a: 21; Sidnell 2011: 28f.).
Allerdings muss die Ansicht der rein induktiven Methode m.E. ein wenig relativiert werden. Wenn Heritage (1984a: 238) sagt, „original data are neither idealized nor constrained by a specific research design or by reference to some particular theory or hypothesis“, so kann dieser strikten Forderung kaum nachgekommen werden. Zwar wird hier deutlich gemacht, dass grundsätzlich nicht Theorien und Hypothesen als Ausgangspunkt der Analyse genommen werden, sondern die Daten jederzeit als primären Bezugspunkt betrachtet werden sollen. Damit setzt sich die Gesprächsanalyse methodisch gegen andere Ansätze der Linguistik ab, in denen zu Beginn klare Hypothesen eingefordert werden. Allerdings wird es kaum möglich sein, die Augen vor bereits existierenden Studien zu verschliessen und ein Projekt ohne Forschungsdesign zu planen. Auch das mehrfach postulierte „unmotivated looking“ (Psathas 1995: 45; vgl. auch Hutchby & Wooffitt 2008: 89) ist problematisch, wenn man bedenkt, dass alleine die Wahl, welche Daten aufgenommen werden oder wie die Aufnahmegeräte positioniert werden, eine gewisse Motivation für die Fokussierung von bestimmten Kontexten und Phänomenen zeigen. So behaupte ich, dass sich bei der Mehrheit der gesprächsanalytischen Projekte eine gewisse Erwartungshaltung nicht komplett vermeiden lässt. Beispielsweise wurde das Forschungsdesign der vorliegenden Arbeit durch die Annahme motiviert, dass es sich beim spezifischen Kontext des schulischen Beurteilungsgesprächs um einen interessanten und potenziell emotional geladenen Gesprächstyp handelt, bei dem also die Beziehungsebene und die Rollenaushandlung von Interesse sein könnte. Trotzdem wurden keine konkreten Hypothesen aufgestellt, die es zu prüfen galt, sondern die weitere Arbeit war zunächst ganz im Sinne der Gesprächsanalyse so organisiert, dass die Daten für sich betrachtet wurden. Die am Ende tatsächlich analysierten Phänomene sind also durchaus materialbasiert zum Fokus geworden und so war beispielsweise eine Vertiefung der Adressierungsmechanismen vor Sichtung der Daten nicht vorgesehen. Jedoch müssen diese induktiv gewonnenen Erkenntnisse mit Resultaten aus früherer Forschung abgeglichen und komplettiert werden, um nachhaltige Forschung zu betreiben. Es kann nicht das Ziel sein, dass jede Studie in sich geschlossen durchgeführt wird, denn jede Erkenntnis trägt zur Theoriebildung bei. Es handelt sich also m.E. um ein mehrheitlich induktives Vorgehen, jedoch mit dem Ziel, sich trotz vielleicht bestehender Erwartungen von den Daten leiten zu lassen und nach den ersten materialgestützten Beobachtungen, die eigenen Erkenntnisse mit den theoretischen Annahmen zu verknüpfen. So trägt jede einzelne Studie zu einem vollständigeren Konzept zur sprachlichen Interaktion bei.
Ein wichtiger Grundsatz in der Gesprächsanalyse ist die Beschäftigung mit realen, ‚natürlichen’ Gesprächsdaten. Darunter sind jene Kontexte zu verstehen, die auch ohne Forschende ihre Existenz haben und nicht speziell für ein Forschungsprojekt arrangiert wurden. Arrangierte Gesprächskontexte wären beispielsweise Befragungen, Rollenspiele oder fiktive Gespräche aus literarischen Werken. Da es jedoch bei der Gesprächsanalyse im Wesentlichen darum geht, Aspekte der sozialen Ordnung in realen Gesprächen aufzudecken und zu verstehen, können nur reale Gesprächsdaten als Datengrundlage dienen. Dies wird bei Mondada (2013: 33) deutlich:
CA insists on the study of naturally occurring activities as they ordinarily unfold in social settings, and, consequently, on the necessity of recordings of actual situated activities for a detailed analysis of their relevant endogenous order.
Wichtig ist also, dass untersuchte Gesprächssituationen authentisch sind und auch normalerweise in denselben Kontexten auftreten. Dass dabei mit Aufnahmen gearbeitet werden soll, scheint eine logische Konsequenz zu sein. So besteht dann bei einer Aufnahme auch das Ziel darin, möglichst die reale Situation in ihrer Ganzheit zu bewahren und für Detailanalysen aufzuzeichnen. Erst bei der wiederholten Analyse der Daten können die relevanten Mikrophänomene der Gesprächsordnung im entsprechenden sozialen Kontext herausgearbeitet werden und es ist daher notwendig, die Daten für mehrfache Analysezugänge aufzunehmen.
Durch die Aufnahme der Daten entsteht jedoch das wohlbekannte observer’s paradox, das erstmals von Labov (1972: 113) besprochen wurde und von ihm folgendermassen beschrieben wird:
To obtain the data most important for linguistic theory, we have to observe how people speak when they are not being observed.
Er geht also davon aus, dass die Forschenden durch ihre blosse Anwesenheit Einfluss auf das Geschehen nehmen können und folglich muss die Natürlichkeit der Daten wiederum infrage gestellt werden.1 Durch ein entsprechendes Forschungsdesign kann der mögliche negative Einfluss ansatzweise eingegrenzt und kontrolliert werden. Mondada (2013: 34) betont, dass einerseits die technologischen Entwicklungen so fortgeschritten sind, dass kleine und unauffällige Geräte eingesetzt werden können. Andererseits könne man die Forschungssituation derart in die Analyse einbeziehen, dass Ausschnitte diskutiert werden, in denen sich Teilnehmende in irgendeiner Weise der Kamera oder dem Aufnahmegerät zuwenden. Dadurch wird das Beobachterparadoxon akzeptiert, indem diejenigen Momente, in denen die anwesenden Forschenden offensichtlich Einfluss auf das beobachtete Geschehen nehmen, selbst zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden. Wie gross der Einfluss der Forschungssituation tatsächlich ist, lässt sich schwer abschätzen und auch ten Have (2007: 69) hält fest, dass das Beobachterparadoxon wohl immer einwirkt, dass aber das Ausmass durch das Verhalten der Forschenden und das Arrangement der Aufnahme klein gehalten werden kann.
Während also Konsens darüber besteht, dass Aufnahmen von natürlichen Daten verwendet werden, herrscht noch Uneinigkeit darüber, ob zusätzlich zu den Gesprächsdaten auch ethnografische Daten erhoben werden sollen. Es gibt dazu längere Debatten, die sich mit der Frage des nötigen Kontextes in der Gesprächsanalyse beschäftigen (vgl. ten Have 2007: 73; Mondada 2013: 37). Nach Vorgaben der klassischen Konversationsanalyse werden grundsätzlich keine zusätzlichen Daten zu den Aufnahmen erhoben und miteinbezogen, da es sich bei ethnografischen Daten um Kontextfaktoren handelt, die im Gespräch nicht zwingend relevant gesetzt werden und so auch nicht unbedingt die soziale Aktivität mitstrukturieren, die wir zu analysieren versuchen. Diese Forderung wird beispielsweise von Schegloff (1991: 52) vertreten, der mit dem Ausdruck procedural consequentiality betont, dass der Kontext nur insofern relevant ist, wenn er im Gespräch einen direkten Einfluss auf die Sequenz hat. Nur wenn die Gesprächsteilnehmenden in irgendeiner Weise eine Orientierung am Kontext zeigen, soll dieser spezifische Aspekt des Kontextes oder Settings in die Analyse einbezogen werden. Demnach ist es nicht zulässig und der Analyse von Gesprächen nicht dienlich, weitere Kontextinformationen zu erheben. Die Analysen sind einzig auf die Gesprächsdaten zu stützen und Kontext wird nur dann relevant, wenn die Gesprächsteilnehmenden dies im Gespräch anzeigen.
Wenn also in der Konversationsanalyse von Kontext gesprochen wird, ist in der Regel der unmittelbare Kontext im Gespräch gemeint und nicht etwa das Setting oder Informationen zu den Teilnehmenden. Zentral im Zusammenhang dieser Diskussion ist das Begriffspaar context-shaped und context-renewing und die damit verstandene doppelte Kontextleistung jeder Äusserung (vgl. z.B. Drew & Heritage 1992a: 18f.; Heritage 1984a: 242; Heritage & Clayman 2010: 21f.). Eine Äusserung wird in einem lokalen Kontext produziert und rezipiert und ist demnach direkt beeinflusst von den vorgängigen Handlungen. Gleichzeitig konstruiert jede neue Äusserung einen wiederum veränderten Kontext, welcher die Folgehandlungen beeinflussen kann. Der Kontext wird also durch die indexikalische Leistung sprachlicher Praktiken gebildet und laufend reflexiv von den Gesprächsteilnehmenden aktualisiert und verändert (vgl. Garfinkel & Sacks 1970 zur Indexikalität und Reflexivität; vgl. auch Auer 1999: 127ff.; Stukenbrock 2013: 221f.).2
Obschon dieser ausschliessliche Fokus auf die Gesprächsdaten bei Untersuchungen zur grundlegenden Organisation von Gesprächen seine Berechtigung hat, gibt es dennoch Forschungsinteressen, für die der Einbezug weiterer Daten wünschenswert ist. Insbesondere in institutionellen Kontexten wird vermehrt empfohlen, zusätzliche ethnografische Daten zu erheben, um dadurch ein besseres Verständnis der Gespräche in ihrer sozialen Umgebung zu gewährleisten (vgl. Kap. 2.1.3 zu ethnografischen Daten in institutioneller Kommunikation sowie Kap. 3.1 zum konkreten Vorgehen in dieser Studie).