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2.2 Interaktion und Kooperation zwischen Gesprächsbeteiligten
ОглавлениеGespräche sind per definitionem interaktiv gestaltet und bedingen daher, dass in irgendeinem Masse ein Austausch zwischen Gesprächsteilnehmenden zustande kommt. Es geht bei sprachlicher Kommunikation allerdings keineswegs um das reine Kodieren und Dekodieren von Informationen, sondern um die gemeinsame, interaktive Konstruktion von Sinn und Bedeutung. So besteht auch eine der Grundannahmen der Gesprächsanalyse darin, dass die Rollen von Sprechenden und Hörenden nicht klar getrennt werden können, sondern alle Gesprächsteilnehmenden jeweils durch ihre Anwesenheit das Gesagte mitprägen (vgl. z.B. Gülich & Mondada 2008: 43f.; Hitzler 2013: 111; Stukenbrock 2013: 240). Dieses grundlegende Prinzip der Interaktion wird mit dem Begriff recipient design1 beschrieben und geht auf Sacks, Schegloff und Jefferson (1974) zurück. Seither taucht der Begriff häufig in der Forschungsliteratur auf, doch meist beschränkt sich die Diskussion auf eine Anerkennung der Wichtigkeit und der grundlegenden Bedeutung des Konzeptes für die Interaktion, jedoch ohne weitere Charakterisierung oder Problematisierung des Begriffs. So kritisieren Deppermann und Blühdorn (2013: 7), dass Recipient Design „zu den Konzepten der Konversationsanalyse [gehört], die häufig benutzt, doch nur selten zum ausdrücklichen Forschungsgegenstand geworden sind“ und Hitzler (2013: 112) spricht von einer vielfach „unreflektierte[n] Verwendung des Begriffs“. Offensichtlich wurde dieses Desideratum nun in der Forschungsgemeinschaft erkannt und so beschäftigen sich einige aktuelle, empirisch angelegte Studien mit Fragen zum Recipient Design (z.B. Deppermann & Blühdorn 2013; Hitzler 2013; Schmitt & Knöbl 2013; 2014).2
Neben dem konversationsanalytisch basierten Konzept des Recipient Designs wurden in anderen Disziplinen noch weitere verwandte Konzepte entwickelt, die sich ebenfalls mit der wechselseitigen Beeinflussung von Sprechenden und Hörenden beschäftigen und entsprechend die Interaktion und Kooperation zwischen Gesprächsteilnehmenden fokussieren. So hat etwa Grice (1975) mit seinen Theorien zu Maximen und Kooperationsprinzipien im Gespräch erste – wenn auch nicht empirisch basierte – Aspekte der interaktiven Kooperation formuliert. Brown und Levinson (1987) haben dann ausgehend von den Grice’schen Maximen und vom face-Begriff nach Goffman (1955; 1967; 1972) Theorien zur Höflichkeit entwickelt. Aus der Sozialpsychologie stammt die accommodation theory (z.B. Giles & Powesland 1975; Giles, Coupland & Coupland 1991), in der es v.a. um die sprachliche Anpassung an das Gegenüber geht und damit also um den Einfluss von Hörenden auf die Ausgestaltung der Äusserungen des/der Sprechenden (bezogen auf soziolinguistische Variablen wie Register, Stil, Varietät etc.). In eine ähnliche Richtung geht die Konzeption von audience design. Der Begriff geht auf Bell (1984; 2001) zurück, der allerdings seinerseits auf das konversationsanalytische Konzept des Recipient Designs verweist (vgl. Bell 2001: 141). Die ersten Untersuchungen von Bell (1984) sind v.a. quantitativ ausgerichtet und untersuchen die Variation von Stil in Relation zu unterschiedlichen Rezipierenden in medialen Kontexten. So wird dann auch typischerweise im Bereich der Massenmedien auf dieses Konzept verwiesen (vgl. Burger & Luginbühl 2014: 12). Burger und Luginbühl (2014: 23ff.) sprechen in diesem Zusammenhang auch von unterschiedlichen Kommunikationskreisen, um die für Massenmedien typischen Formen der Doppel- und Mehrfachadressierung adäquat zu beschreiben.
Aus den Kognitionswissenschaften und der Psychologie werden zudem die Begriffe joint action und interactive alignment (z.B. Garrod & Pickering 2009) verwendet, wenn es in der Interaktion zu einer Angleichung der mentalen Repräsentationen bei den Gesprächsteilnehmenden kommt. Und das Konzept theory of mind (Premack & Woodruff 1978; vgl. auch Beiträge in Förstl 2012a) untersucht und beschreibt „die Fähigkeit bzw. den Versuch eines Individuums, sich in andere hineinzuversetzen, um deren Wahrnehmungen, Gedanken und Absichten zu verstehen“ (Förstl 2012b: 4). Auch hier geht es also um die intersubjektive Kooperation in der Interaktion. Und schliesslich spielen geteilte Wissensbestände, wie dies den kognitionswissenschaftlichen und psycholinguistischen Konzeptionen von common ground (z.B. Clark 1996) zugrunde liegt, ebenfalls eine wichtige Rolle bei gesprächslinguistischen Überlegungen zur Interaktion und Kooperation.
Im Folgenden wird Recipient Design zunächst aus konversationsanalytischer Perspektive betrachtet und dann in den Zusammenhang mit den Theorien des Common Grounds und der Positionierung gestellt, welche als konstitutive Merkmale des Konzepts gelten (Kap. 2.2.1). In einem weiteren Teil werden die Praktiken des Recipient Designs unter Einbezug aktueller Untersuchungen dargestellt (Kap. 2.2.2) und abschliessend werden im Hinblick auf das untersuchte Datenmaterial die Spezifika der Mehrparteieninteraktion diskutiert (Kap. 2.2.3).