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4. Kapitel VORPLATZ INNEN/MORGEN

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Es ist kurz nach neun Uhr vormittags. Auch die notorischen Zuspätkommer sind bereits in ihren Büros verschwunden. Nur Maria Weber, die hagere Redaktionsleiterin – von Josepha heimlich »Weberknecht« getauft –, schleicht am Gang vor den Redaktionsbüros umher. Sie stiehlt wie jeden Vormittag aus der nunmehr verlassenen Kaffeeecke die teuren Espresso-Kapseln. Aber genau deshalb, weil Marias Taschen pünktlich um neun Uhr voller Espresso-Kapseln sind, wird sie sich hüten, in Josephas Büro zu kommen – wie sie es sonst immer ungefragt tut. Das ist gut, denn seit dem Kofferdiebstahl fürchtet Josepha ihre Chefin besonders. Sie hat lange genug in der Branche gearbeitet, um heftige Intrigen so gut zu kennen wie ein Sträfling seine Zelle. Jedoch die Kühnheit dieser neuen Gerüchte lassen sogar die Redakteurin noch staunen. Ein Staunen, das mit der großen Furcht einhergeht, selbst in der einen oder anderen Gesprächsrunde als Täterin genannt zu werden. Anschuldigungen und Verdächtigungen gegen jeden nur erdenklichen Mitarbeiter kursieren bereits. Die Hälfte davon ist natürlich vom Weberknecht höchstpersönlich erfunden worden. Die Auswirkungen solcher Gerüchte kennt Josepha wie keine andere, denn sie ist nicht erst einmal Opfer mittelgroßer Mobbingaktionen gewesen. Dass Maria weiß, dass Josepha als Minderjährige zweimal in Jugendhaft war, trägt zu ihrer prinzipiellen Nervosität bei. Für sie war es ein Segen, dass die Polizei heute Früh jeden einzeln vernommen hat. So hat Josepha nicht vor ihren Kollegen preisgeben müssen, dass ihr Strafregister nicht unbedingt ein unbeschriebenes Blatt ist. Als die Beamten beim Verhör von ihrer Vorgeschichte erfahren haben, wurden sie aufmerksam und haben sich genauer in Josephas Büro umgesehen. Sie musste sogar ihre Fingerabdrücke abgeben. Angeblich mussten Josephas Kollegen das nicht tun, doch zumindest wurde sie nicht auf das Kommissariat eingeladen. Dass Josepha als Eigenbrötlerin gilt, macht die Situation auch nicht besser. Dabei weiß Josepha um ihre Schwerfälligkeit beim Smalltalk, um ihre völlige Unfähigkeit, bei harmlosen Späßen im richtigen Moment zu lachen und um ihre fehlende Schlagfertigkeit.

Eigentlich ist die Fernsehredaktion der völlig falsche Ort für sie. Viel lieber wäre sie Journalistin geworden: Ständig unterwegs zu sein, interessante Menschen zu treffen, tiefgründige Gespräche zu führen und sich zwischendurch sogar in Lebensgefahr zu begeben – das wäre es gewesen! Das Schicksal hat Josepha aber nicht zu einer Zeitung, sondern zu »MasterTV-Österreich« gespült. Sie ist zufällig, fast ungewollt und doch geradewegs in das offene Maul »der Branche« hineingestolpert.

Wie so häufig stehlen Nervosität und Müdigkeit Josepha die Konzentrationsfähigkeit. Ihre seit Wochen andauernden Schlafprobleme machen ihr zu schaffen. Also stellt sie auf ihrem Computer ein beschwingtes Abba-Lied an, das sie auf dem Weg zur Arbeit im Radio gehört hat und das nach einer Strophe von ihrer Tochter Noemi weggeschaltet worden ist. Ihre Laune passt zu dem fröhlichen Lied wie Senf auf einen Gugelhupf.

Verstohlen schleicht Josepha zum Fenster und lässt die Jalousien herunter. Jetzt huscht die Redakteurin im Schutz der Dunkelheit zur Tür und versperrt sie. Josepha schließt die Augen und löst ihr Haarband. Statt des Dutts wallen nun dunkle Locken an ihren Schultern herab. Wie von selbst bewegen sich ihre mageren Arme zum Rhythmus der Musik, ihre schlanken Beine über den Boden, rauscht ihr langes, lockiges Haar durch die Luft. Sie springt, dreht eine Pirouette, noch eine, stößt sich den Fuß an und schreit auf. Nicht einmal der Schmerz holt sie länger als fünf Sekunden aus ihrer Trance. Der ganze Stress liegt vor ihr, ihr schwieriges Privatleben, ihr Unmut im Job – alles ist auf einmal greifbar, doch in diesem Moment ist sie ganz Herrin ihrer verzwickten Lage. Das Lied endet und schon hört sie ein verdächtiges Geräusch am Gang! Die Tür wieder entsperren und das obligatorische »MasterTV-Österreich-Lächeln« aufsetzen! Paranoid läuft Josepha zu ihrem Schreibtisch und würgt das zweite Lied ab, das automatisch folgt. Auffälliges Verhalten wäre angesichts der Geldkofferaffäre fatal.

Der Ameisenhaufen

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