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2. Kapitel KLEINES STUDIO »SPIEGEL MIT EI« INNEN/TAG

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Sami bemerkt, dass die Moderatorin Franziska Naschhold panisch in seine Richtung stiert. Es ist offensichtlich, dass sie sich nicht mehr auf das Gespräch mit ihrem zweiten Gast der Morgenshow konzentrieren kann, einem Unternehmer, zur einen Hälfte Italiener und zur anderen Wiener, der mit einer brandneuen Technologie Pizza-Automaten herstellt. Sami schleicht sich so nahe wie möglich an die Moderationscouch heran. Offenbar stimmt etwas mit dem Ton nicht, denn der Tonmann gestikuliert heftig. Im Regiekammerl wird rasch reagiert: Schnell wird eine voraufgezeichnete Zuspielung abgespielt. Jetzt wird die Ursache des Problems klar: Franziskas enges Kleid ist gerissen und die Batterie vom Mikrofon ist von ihrer Unterhose, an der es festgemacht war, in ihre Strumpfhose gerutscht.

»Kostüm ans Set, schnell!«, gibt Sami durch sein Funkgerät an das Team weiter. Die Moderatorin, Franziska Naschhold, wirkt indes den Tränen nahe. Sie ist ein erfahrener alter Hase im Geschäft und moderiert seit über zehn Jahren unterschiedlich erfolgreiche Sendungen. Vor Kurzem hat sie wegen einer Gewichtszunahme aber ihren jahrelangen Werbeauftrag mit einer Bio-Joghurt-Firma verloren und ist seither verunsichert.

Eine Kostümlady hastet zusammen mit dem Tonmann auf die Moderatorin zu. Während sie versucht, mit Sicherheitsnadeln das Kleid von Franziska provisorisch am Rücken zusammenzuflicken, sodass man im Sitzen die Nadeln nicht sehen kann, verkabelt der Tonmann die Moderatorin neu. Dafür muss Franziska in ihre Strumpfhose greifen und die Batterie herausfischen. Für die erfahrene Franziska ist das zwar nicht unangenehm – das Wort »peinlich« ist schon seit Jahren aus ihrem Wortschatz gestrichen –, für den jungen Setpraktikanten Fabo, der der Kostümlady die Sicherheitsnadeln halten soll, hingegen schon.

Der Ton schimpft über das Kostüm, sie könnten nicht einmal Kleider richtig auswählen, das Kostüm schimpft über den Ton, sie könnten nicht richtig verkabeln, und Sami gibt die Zeitangaben: »Noch zehn Sekunden Leute, noch fünf Sekunden, noch vier, drei, zwei, eins.« Und wieder sind sie auf Sendung: Noch rechtzeitig springen Ton und Kostüm von der Moderationscouch weg.

Das Schlimmste scheint überstanden, aber Sami schaut auf die Uhr und sieht schon das nächste Problem auf sich zukommen: Der letzte Gast des Tages ist noch immer nicht erschienen und reagiert auch nicht auf seine Anrufe. Es ist nicht erst einmal vorgekommen, dass ein Gast aufgrund der frühen Stunde seinen Auftritt völlig verschlafen hat. Also hat Sami vorsorglich einen anderen Setpraktikanten mit dem Produktionswagen losgeschickt, um den Gast persönlich abzuholen. Aber auch der Praktikant ist seit über einer Stunde verschwunden und hebt ebenfalls nicht mehr ab. Wenn der Gast nicht allerspätestens in zwanzig Minuten in der Maske ist, wird Sami die Moderatorin darüber informieren müssen. Während einer weiteren Zuspielung wird er sie bitten, das aktuelle Gespräch in die Länge zu ziehen, um den Ausfall des nächsten Gastes zu kaschieren. Für Sami Gün, den Aufnahmeleiter der Frühstückssendung »Spiegel mit Ei«, sind das ganz alltägliche Probleme und nichts, was ihn weiter aus der Ruhe bringen könnte. Er ist fünfundfünfzig, beleibt, hat mittellanges, grau meliertes Haar und dunkelbraune Augen. Er trägt wie jeden Tag eine schwarze Hose, die – wie jede andere seiner breiten Hosen auch – mindestens zehn Taschen hat. Er gähnt, beißt in einen Mohnstrudel vom Frühstückstisch und denkt an die Warnung seines Hausarztes vor einem drohenden Diabetes. Stark Zuckerhaltiges soll er vermeiden, kann es aber nicht. Vor allem nicht am Set, wo immer ein ganzer Tisch voll mit salzigen und süßen Frühstücksleckereien steht, die er im Übrigen in aller Früh immer selbst vom Bäcker abholt.

»Sami, hast du das schon gesehen?«, flüstert Linda, die Maskenbildnerin, ihm zu. Dabei wirbelt sie mit ihrem Smartphone hin und her: »Schau dir das Video da an!«

»Wir können jetzt doch keine Filme schauen«, flüstert Sami zurück.

»Keine Sorge, ist eh stumm.«

Sami runzelt die Stirn und Linda spielt das Überwachungsvideo von dem Kofferdieb ab.

»Das gibt’s doch nicht!«

Leises Kichern von Linda, dann ihre Vertrauensfrage: »Wer, glaubst du, war’s?«

Sami zuckt mit den Schultern.

Linda: »Sicher einer aus der Buchhaltung.«

»Vielleicht war’s auch jemand aus der Herstellungsleitung«, sagt Sami und denkt dabei an seine Exfrau Astrid. Immerhin befindet sich ihr Büro im selben Gang wie das des CEOs Herrschler. Jetzt bemerkt Sami, dass ihn Linda eingehend und auf einmal ganz ernst ansieht. Sie berührt seine Schulter:

»Ich hab’ auch über ein Jahr gebraucht, um über meinen Exfreund hinwegzukommen.«

Sami würde jetzt gerne länger reden, aber der Setpraktikant taucht neben den beiden auf und hat den letzten Gast der Morgenshow im Schlepptau. Mit einem Handzeichen bedeutet Sami seinem jungen Helfer, den verschlafenen Studiogast in die Garderobe zu führen.

»Das wird schon wieder«, flüstert Linda und erhebt sich, um für heute Früh zum letzten Mal dicke Make-up-Schichten über Blässe und Augenringe zu schminken. In diesem Moment erhält Sami ein E-Mail auf seinem Smartphone, gesendet aus dem Eckbüro der obersten Riege der Firma, vom CEO Ing. Hans Erschler persönlich. Nach Drehschluss solle Sami das Team darüber informieren, dass alle länger bleiben müssen, denn um fünfzehn Uhr seien sie alle zu einem Krisenmeeting geordert. Es handle sich um den gestohlenen Geldkoffer. Sami seufzt, er hat sich schon auf seinen Mittagsschlaf gefreut. Da er, so wie fast das gesamte Team, für die neue Sendung »Ameisenhaufen« arbeitet, ist dieses Meeting höchst wichtig. Sami schickt Fabo los, um Zigaretten, abgepackte Salate, Sandwiches und Energydrinks zu kaufen. Wenn ein Fernsehteam von weiteren, unbezahlten Überstunden erfährt, muss etwas für seinen Schlund bereitstehen, vorausgesetzt der Aufnahmeleiter will weiterleben.

»Bitte, gib dem Team heute wegen des Nachmittagsmeetings Bescheid«, sagt Astrid flüsternd dicht hinter ihm. Sami dreht sich um. Sie ist offenbar unbemerkt und leise, um die Dreharbeiten nicht zu stören, dicht hinter Sami getreten und hat ihm ins Ohr geflüstert. Er inhaliert ihren vertrauten Geruch. Am liebsten würde er sie in den Arm nehmen, stattdessen nickt er nur.

»Sonst irgendwas Schreckliches passiert?«, fragt Astrid.

»Alles gut – bis auf die Sendung«, flüstert Sami. Astrid lächelt.

»Ich muss wieder nach oben. Mein Büro ist ja im selben Gang wie das vom Herrschler, deshalb durchsucht die Polizei gerade jeden Winkel darin ab.«

»Ich hoffe, du hast ein Alibi«, witzelt Sami. »Und hoffentlich kostet mich diese Polizeiaktion nicht noch mehr Zeit. Sie haben mich eh schon eine halbe Stunde lang verhört.«

»Werde ich auch verhört?«

»Ja, ich glaube, alle werden verhört.«

»Vielleicht war’s ja ich.«

»Sami, du würdest nicht einmal einen Karabiner vom Lichtdepartment mitgehen lassen.«

»Wenn du wüsstest, was für eine kriminelle Energie in mir steckt«, säuselt Sami scherzhaft, er will das Gespräch mit Astrid um alles in der Welt am Laufen halten. Doch sie muss – wie immer – weiter.

Einmal mehr spürt Sami diesen Stich. Diesen Stich, wenn Astrid von ihm weggeht. Dabei wünscht er sie während eines Gesprächs meistens weit fort. Irgendwohin, wo er dieses Lächeln nicht mehr sehen muss. Kaum ist sie dann weg, wünscht er sie sich wieder zurück. Er will sie dann an der Hand nehmen, mit ihr in alle Bars und Lokale gehen, in denen sie gemeinsam unglücklich gewesen sind, in denen Astrid wegen ihres Konkurses und Sami wegen Astrid verzweifelt waren. Doch sie würden wohl nie wieder dort sein.

Ein Glück, dass es jetzt Zeit ist, in der Garderobe Dampf zu machen. In zehn Minuten muss der letzte Gast am Set stehen.

Der Ameisenhaufen

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