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9. Kapitel GROSSER KONFERENZRAUM INNEN/TAG

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In der Zwischenzeit ist es im Konferenzraum unerträglich stickig geworden und es fällt Jonas schwer, Herrschlers Worten noch zu folgen: »Wegen des Diebstahls fehlt unserem Projekt nun eine Million Euro Budget. Der Sieger von »Ameisenhaufen« muss diesen Betrag aber gewinnen, sonst fehlt der Sendung jede Spannung und der Sender hätte wohl kein Interesse mehr daran. Das wollen wir nicht riskieren. Immerhin haben wir alle lange, hart und mit sehr viel Herzblut an diesem Format gearbeitet. Ihr seid doch alle mit Feuer und Flamme dabei!«

Kurze, scheue Seitenblicke der Mitarbeiter. Feuer und Flamme sind im Moment vor allem ihre Körper, die das mittlerweile tropisch feuchtwarme Klima im Konferenzzimmer kaum mehr aushalten. Offenbar spinnt die Heizung, denn einige Tonmänner versuchen sie zurückzudrehen, doch sie heizt unberührt und erbarmungslos weiter. Leidenschaft ist jedoch bei den wenigsten zu spüren. Der CEO appelliert weiter an seine Mitarbeiter: »Dieses Projekt ist unser Kind und wir werden es nicht sterben lassen, nur weil einer von uns den Verrat begangen hat, dieses Geld zu stehlen! Daher werdet ihr natürlich verstehen, dass wir alle zusammenhalten müssen, um unserem Sendungsbaby das Heranwachsen zu ermöglichen! Wir können uns die gecasteten Kandidaten von außen nicht mehr leisten. Das wäre jetzt einfach zu teuer, dennoch muss die Sendung irgendwie über die Bühne gehen.«

Ein ungutes Gefühl breitet sich aus, es wird mit Hufen gescharrt, Blicke sind auf die Tür gerichtet. ›Flucht!‹, denkt Jonas mit einer bösen Vorahnung. ›Angriff!‹, schallt es in Herrschlers Stimme: »Deshalb ist aus den Departments Schnitt, Buch, Redaktion und Produktion jeweils eine Person als Kandidat für die Sendung ausgewählt worden. Außerdem wird einer der Moderatoren ins Rennen gehen.«

Die Kostümladys mokieren sich: »Warum nicht wir?«

Worauf auch die Tonmänner einstimmen: »Ja, und warum nicht wir?« Der CEO erklärt: »Die genannten Departments habe ich ausgewählt, weil in diesen diejenigen Kandidaten sind, die ich für passend halte. Alle fünf sind grundverschieden und ergeben so einen guten Ersatz-Cast.«

Mit einem Mal ist Jonas wieder sehr aufmerksam. Wäre er einer der Kandidaten, stünden seine Chancen, eine Million Euro zu gewinnen, eins zu fünf. Dann könnte er sich eine Wohnung kaufen, Geld für Emma zurücklegen, dann hätte er vielleicht sogar eine Chance auf das Sorgerecht! Herrschler räuspert sich und wieder kehrt Ruhe in die Schwüle des Konferenzzimmers ein: »Das Gute daran für euch ist, dass der Sieger oder die Siegerin die Million auch tatsächlich gewinnt.«

Ein Blick in die Runde. Die Mitarbeiter wirken aufgeregt, ganz so, als hätten sie alle den gleichen Gedanken: eine Million! Einer, der die Spannung nicht mehr aushält, ist Kevin. Vielleicht ist es der Alkohol in seinem Blut, der ihn mutiger macht als den Rest. Er ruft fast gleichzeitig mit Jonas’ Cutterkollegen Timon: »Wer sind die fünf?« Es ist offensichtlich, dass beide hoffen, einer der Kandidaten zu sein. Jonas schaut sich nach Kevin um. Er bemerkt den glatzköpfigen Redakteur, der cool mit seinem Smartphone an einer Wand lehnt und so tut, als hätte er nichts gesagt. Auf diese Frage hat Herrschler natürlich gewartet: »Als Moderatorin wird weiterhin das von uns neu gecastete Talent, Janina Talina, fungieren. Als Kandidat ist aus dem Team der Moderatoren Will Wilson ausgewählt worden.«

»Eh klar«, murmelt Lisa, die Cutterin, die neben Jonas sitzt. Herrschler fährt fort:

»Aus dem Produktionsdepartement haben wir uns für den Aufnahmeleiter Sami Gün entschieden!«

Alle sehen sich um, Sami Gün scheint nicht anwesend zu sein. Timon springt auf: »Sami ist nicht da. Ich opfere mich, statt ihm in den »Ameisenhaufen« zu gehen!« Hüsteln. Fremdschämen. Ein zynisches Lächeln kräuselt sich um Herrschlers Lippen: »Das ist ja großmütig von Ihnen, dass Sie sich opfern wollen, Herr Wiederklas. Aber Herr Gün steht nur gerade eben am Vorplatz und kümmert sich um eine unserer Praktikantinnen, die vorhin beinahe ohnmächtig geworden wäre.«

Die Mitarbeiter des Produktions-Departments lachen. Jonas fragt sich, wie es sein kann, dass Herrschler, der doch so gut wie nie mit den Mitarbeitern verkehrt, genau weiß, wo sich der Aufnahmeleiter gerade aufhält und warum er nicht beim Meeting erschienen ist.

Der CEO spricht weiter: »Sami Gün wird spätestens in einer halben Stunde von der frohen Botschaft erfahren, und übrigens: Die Tage, an denen eure Kollegen wegen der Sendung ausfallen, müsst ihr Department-intern übernehmen. Extrageld gibt’s dafür nicht, wie gesagt, die fehlende Million spüren wir im Budget. Ihr müsst da jetzt einfach zusammenhalten. Ihr schafft das schon!«

»Wer sind die restlichen Kandidaten?« Das war wieder Kevin.

Auch Jonas brennt darauf, die weiteren Kandidaten zu erfahren.

»Aus dem Buch-Department ist es Nigel Maschte!«

Jonas schaut zu den einzigen beiden festangestellten Autoren hinüber, die im Prinzip kreative, Ideen liefernde Redakteure sind. Mit ihnen hat Jonas bisher noch nie ein Wort gewechselt. Sie scheinen beide nervös zu sein. Der Jüngere von den beiden ist offenbar der Betroffene. Er wirkt nicht so, als würde er gern ins Rennen gehen.

»Und wer ist es aus der Redaktion?« Für Kevins aufdringliches Gefrage schämt sich Jonas mittlerweile fast so sehr wie für Timons Vorschlag, sich für diesen abwesenden Aufnahmeleiter aufzuopfern.

»Nicht Sie!«, antwortet Herrschler und schaut direkt zu Kevin, der seinen Blick daraufhin senkt. Wieder ist ein Hüsteln zu vernehmen, ganz so, als wollten einige ihr Lachen überspielen.

»Josepha Nowak wird für die Redaktion ins Rennen gehen.«

Köpfe drehen sich suchend nach dieser Josepha um. Jonas erkennt, dass alle in die Richtung jener hübschen Redakteurin blicken, die ihm schon öfter aufgefallen ist. Statt sich zu freuen, starrt sie zu der Redaktionsleiterin Maria, die sich auch prompt zu Wort meldet: »Ich hätte gern gewusst, wieso die Wahl ausgerechnet auf unsere Redakteurin Josepha Nowak gefallen ist!«

»Das Publikum will junge, attraktive Frauen in der Show haben«, antwortet Herrschler. Mit nur einem Blick bemerkt Jonas, dass Maria innerlich bebt. Auch wenn ihre Mimik ganz unverändert ist, zittern ihre Mundwinkel unkontrolliert. Josepha tut ihm leid. Er dreht sich wieder so, dass er sie sehen kann, doch da hört er von vorne plötzlich Herrschler seinen Namen sagen:

»Und vom Schnitt wird der Cutter Jonas Gambacher ins Rennen gehen.«

Er traut seinen Ohren nicht. Ein flaues Gefühl macht sich in ihm breit. Von allen Seiten fixieren ihn Augenpaare. Feindlich? Freundlich?

»Diese fünf Kandidaten sind sehr unterschiedlich und demnach höchst passend für die Sendung. Wir hätten es nicht besser casten können.«

»Was ist mit den Kandidaten, die bereits gecastet worden sind?«, ruft Kevin aufgebracht. Jonas bemerkt, dass seine Kollegin Lisa ihn von der Seite anstarrt. Er tut so, als würde er es nicht bemerken und schaut angestrengt zu Herrschler auf dem Podest. Der CEO seufzt gerade theatralisch: »Wir mussten den gecasteten Kandidaten leider absagen. Anreise, Unterkunft, Diäten für die Kandidaten plus jeweils einer Begleitperson, das können wir uns jetzt ganz einfach nicht leisten. Immerhin drehen wir fünf Folgen und ein großes Finale! Wir brauchen schließlich ein neues Preisgeld: eine Million, die wir erstmal woanders einsparen müssen. Also mussten wir sie unter einem Vorwand ausladen.«

Gemurmel geht durch die Reihen. Jonas bemerkt jetzt auch Timons säuerlichen Blick auf sich ruhen, den er nicht zu deuten weiß. Das Handy des Masters von »MasterTV-Österreich« vibriert. Er schaut kurz auf das Display, bevor er fortfährt: »Ich muss euch noch darauf einschwören, keinem – und wirklich keinem – außerhalb der Firma zu erzählen, dass wir unsere eigenen Mitarbeiter ins Rennen schicken. Das ist vorerst noch ein Betriebsgeheimnis. Wir arbeiten selbstverständlich an einer Pressemitteilung, aber mit der wollen wir warten, bis die Vorberichterstattung einsetzt. Wenn wir zu früh damit rausrücken, verschenken wir unnötig Aufmerksamkeit. Wir haben dementsprechend auch schon neue Verträge für euch aufgesetzt. Also bitte kommt dann einfach ins Personalbüro und unterschreibt sie.«

Besorgte Blicke, der CEO lenkt ein: »Keine Sorge, alle anderen Konditionen bleiben gleich.«

Herrschler erhebt sich, die Herde ist nass geschwitzt. »Wir schaffen das, ihr Lieben!«, sagt er kalt lächelnd und schreitet hoch erhobenen Hauptes zur Tür. Schon mit der Türklinke in der Hand dreht er sich noch zu seinem Team um und setzt in sanftem Ton hinzu: »Wir wollen euch natürlich alle als Mitarbeiter behalten.«

Mit diesen Worten verlässt Herrschler den Raum. Die Audienz ist beendet.

Der Ameisenhaufen

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