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1. Kapitel GELÄNDE »MasterTV-ÖSTERREICH« AUSSEN/MORGEN

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Müde schleppt sich der junge Cutter Jonas auch an diesem Freitagmorgen in Richtung der drei großen, erdfarbenen Gebäude von »MasterTV-Österreich«. Der Weihnachtsurlaub ist gerade vorbei, ergo steht ihm nun eine lange, urlaubslose Zeit bevor. Der Jänner ist regnerisch und föhnig. Die Tage sind kurz, die Herzen schwer, Jonas muss arbeiten …

»Hey Cobain, alles klar?« – die morgendliche Begrüßung von Kevin, einem glatzköpfigen, vollbärtigen Redakteur mit modischer Brille, der Jonas jovial auf die Schulter klopft. Cobain – diesen Spitznamen hat Jonas wegen seines blonden Haares, seiner notorischen Converse-Schuhe, wegen der Eintrittsbänder von zurückliegenden Rockfestivals am Handgelenk und des in verschnörkelten Lettern tätowierten Frauennamens auf seinem Unterarm geerntet.

Jonas murmelt: »Guten Morgen.« Normalerweise ist diese morgendliche Begrüßungsfloskel der einzige sprachliche Austausch zwischen den beiden, doch heute scheint Kevin größeren Redebedarf zu haben.

»Hast du das Video schon gesehen?«, fragt Kevin aufgeregt. Er hat wie gewöhnlich eine Fahne. Alle in der Firma wissen von Kevins Alkoholproblem – nur er weiß nicht, dass es alle wissen.

»Irgendjemand hat den Koffer mit der Million aus dem Büro vom Herrschler gestohlen!«

Ing. Hans Erschler, von seinen Mitarbeitern heimlich Herrschler genannt, ist der CEO von »MasterTV-Österreich«.

»Warum hat der Herrschler eine Million Euro in seinem Büro?«, fragt Jonas verschlafen, denn er hat noch keinen Tropfen Kaffee intus.

»Na das Preisgeld für »Ameisenhaufen«!«, sagt Kevin. Um Bilder für sich sprechen zu lassen, zückt er sein riesiges Smartphone: »Das Video ist doch heute an alle Mitarbeiter verschickt worden.« Jonas lächelt gequält und sagt nichts. Er hat zwar auch ein Smartphone, empfängt darauf aber keine Firmenmails. Das hält er für übertriebenen Ehrgeiz.

»Ha, da hab’ ich’s!«, ruft Kevin. Zu laute Stimmen nerven Jonas, vor allem, wenn sie völlig umsonst Überambition vorgaukeln. Kevin hält ihm das riesige Display seines Handys unter die Nase.

›Noch zwei Zentimeter größer und es ist ein Kinoerlebnis‹, denkt Jonas und schaut höflichkeitshalber auf den Bildschirm. Er steht jetzt so nahe an Kevin, dass er seine leichte Alkoholfahne, die sich mit dem Geruch von frischem Mundwasser vermischt hat, besonders gut riechen kann. Es handelt sich um die Aufzeichnung einer Überwachungskamera. Jonas wundert sich, dass er ausgerechnet dieses Video nicht kennt. Üblicherweise hat er einen guten Überblick über die halbseidenen Vorgänge in der Firma, denn er hackt zum Zeitvertreib die Überwachungsvideos und beobachtet seine Kollegen heimlich. Doch diese Aufnahme hat er noch nie gesehen.

Der Timecode im Bild verrät, dass das Überwachungsvideo gestern Nacht knapp vor Mitternacht aufgezeichnet worden ist.

In schlechter Bildqualität erkennt man eine dunkel gekleidete Gestalt, die sich mit einem schwarzen Etui in der Hand rasch auf das Büro des CEOs Hans Erschler zubewegt. Der Unbekannte ist durch Handschuhe, Sonnenbrille, Schal und Kappe so stark vermummt, dass nicht einmal zu erkennen ist, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt. Vor der Bürotür des CEOs öffnet der Maskierte das Etui und entnimmt diesem feines Werkzeug. Damit macht er sich am Schloss von Erschlers Büro zu schaffen.

Der Einbrecher wirkt ungeübt. Wegen seiner Handschuhe hat er Schwierigkeiten, mit dem feinen Werkzeug umzugehen. Als er versucht, mit einer Zange auf einen Schraubenzieher zu schlagen, den er ins Schloss geschoben hat, trifft er immer wieder daneben. Kurz hält der Dieb inne und lauscht. Dann werkt er weiter. Nach einer Weile hat er das Schloss geknackt, die Tür springt auf und er verschwindet im Büro des CEOs. Einige Augenblicke lang ist er so aus dem Sichtfeld der Überwachungskamera verschwunden. Jonas schaut zu Kevin. »Ein Aprilscherz im Jänner?«

Kevin schüttelt dramatisch den Kopf, bevor er mit leidgeprüfter Miene sagt: »Die Maria hat geschrieben, dass sie schon die ersten Polizisten gesehen hat.«

»Werden wir jetzt alle befragt, oder was?«

»Schau, es geht weiter«, ereifert sich Kevin und stiert auf den Bildschirm. Doch man sieht nur mehr, wie der Einbrecher mit dem Etui in der einen und einem Koffer in der anderen Hand aus dem Büro kommt. Am Gang bleibt der Dieb dann etwa eine halbe Minute lang stehen, blickt den Gang entlang und geht erst dann schnellen Schrittes weiter.

»Wer, glaubst du, war’s?«, fragt Kevin sensationsgeil.

»Was meinst du jetzt?«

»Alle fragen sich, wer’s gewesen sein könnte. Es gibt sogar eine Verdächtigen-WhatsApp-Gruppe.«

»Ja, ein Einbrecher halt«, sagt Jonas genervt, denn die feuchte Kälte lässt seine Nase rinnen.

»Ja, aber es ist doch glasklar, dass es einer aus der Firma gewesen sein muss. Nur wir wussten, dass sich dieses Geld in der Firma befindet. Und so gut wie alle haben gestern »witzige« Kommentare darüber geschoben, dass sie sich diesen Geldkoffer schnappen wollen.«

Jonas hebt die rechte Augenbraue, die linke ist seit seinem missglückten Augenbrauen-Piercing taub: »Also ich habe gedacht, das Preisgeld würde erst kurz vorm Finale angeliefert werden. Ich meine, wozu sollte es schon jetzt hier sein, wo wir noch nicht einmal die erste Folge gedreht haben?«

»Na wegen des Fotoshootings. Hast du das nicht mitbekommen?«

Jonas schüttelt langsam den Kopf, also fährt Kevin fort:

»Gestern war ja dieses zweistündige Fotoshooting mit der neuen, scharfen Moderatorin.«

»Die findest du scharf?«

»Sie ist zumindest ein neues Gesicht, aber angeblich ist sie eine ziemliche Zicke. Der Praktikant hat sie offenbar falsch am Telefon gebrieft und sie ist dann bei der Probe richtig ausgezuckt.«

»Sorry, aber man kann auch nicht die Moderatorin vom Praktikanten briefen lassen. Das geht gar nicht.«

»Stimmt«, pflichtet ihm Kevin bei und sagt schnell: »Ja, also das Fotoshooting war jedenfalls mit ihr, ein paar von den gecasteten Kindern und dem Koffer mit der Million Euro. Süße Kinder, sexy Frau und fettes Geld, du weißt ja, wie die Vorberichterstattung läuft.«

»Der Geldkoffer ist dann einfach in der Firma geblieben?«

»Der hätte eigentlich heute Früh wieder mit einem Spezialtransport zurück in die Bank gebracht werden sollen«, erklärt Kevin, während Jonas der Geruch von frisch gemahlenem Kaffee in die Nase steigt. Die Quelle ist ein Pappkaffeebecher, den eine Praktikantin gerade an ihm vorbeiträgt. Um möglichst schnell weg von dem Gespräch und zu seinem eigenen Kaffeegenuss zu kommen, sagt Jonas bloß: »Ich hab’ echt nichts davon mitbekommen.«

»Wieder ein bisschen viel gekifft, hä?«, grinst der Redakteur, aber sein Witz kommt bei Jonas nicht besonders gut an. Als Antwort hebt er nur die rechte Augenbraue.

Dabei versucht Kevin mit einer betont lässigen Geste sein Handy wegzustecken. Das überdimensionale Handy passt nur leider nicht in seine vordere Hosentasche.

»Vielleicht warst es ja du«, scherzt Jonas.

»So ein Scheiß«, lächelt Kevin, wirkt dabei aber gereizt, »ich glaub’, ich weiß, wer’s war.«

»Und?«

»Also, ich will niemanden ohne einen Beweis beschuldigen«, erklärt Kevin bedeutsam, indem er das Kinn leicht in die Höhe streckt wie ein Mann, der Gerechtigkeit zu kennen glaubt, »daher behalte ich meinen Verdacht lieber für mich.«

»Auch gut«, sagt Jonas, »ich muss dann eh mal rein. Ich bin schon ein bissl spät dran. Bis dann.«

Kevins Enttäuschung bleibt dem jungen Cutter nicht verborgen.

Der Ameisenhaufen

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