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6. PALPATION: DAS STUDIUM DER PALPATION WÄHREND EINES WORKSHOPS

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Viola M. Frymann, DO, FAAO

Genehmigter Nachdruck aus AAO Yearbook 1963 (63) 16 - 31.

Teil 1

„Palpation ist eine Kunstfertigkeit, die man erst entwickeln muss. Die Fähigkeit, zu bewerten, wie sich die einzelnen Gewebe ‘anfühlen’, kann sich nur durch Erfahrung und bewusste Anwendung zu einem außerordentlich besonderen Grad entwickeln. Wie jede andere klinische Beobachtung sollte auch die Palpation durch labortechnische und andere diagnostische Tests bestätigt werden. Blutdruck, Temperatur und die Virulenz von Infektionen können von geübten Fingern häufig bis zu einem bemerkenswerten Grad an Genauigkeit eingeschätzt werden. Tatsächlich sind die Finger dabei der ‘Kompass’, mit dem die Suche nach einer genauen osteopathischen Diagnose durchgeführt wird.”

„Von der Kunst der Palpation, so glaube ich, hängt der Erfolg oder das Versagen eines Osteopathen ab.”1 Das schrieb Dr. Thomas Northup, ein Mann, der tief in die Kunst der Osteopathie eintauchte, so wie sie von A. T. Still und W. G. Sutherland unterrichtet wurde.

Was ist denn diese Kunst der Palpation, das wichtigste und unentbehrlichste Werkzeug unserer Profession? Die Wörterbücher liefern hierzu vielfältige Definitionen, insbesondere:

1 Der Vorgang des Fühlens mit der Hand: das Aufsetzen der Finger mit leichtem Druck auf die Körperoberfläche, um bei der körperlichen Diagnose die Beschaffenheit der darunterliegenden Körperpartien zu bestimmen.2

2 Sanftes Fühlen3

3 Untersuchung durch Berührung4

Die menschliche Hand ist mit Instrumenten ausgestattet, um Änderungen der Temperatur, der Oberflächenbeschaffenheit und Feuchtigkeit der Hautoberfläche wahrzunehmen – sowie um sukzessive in sie einzudringen und die tiefere Gewebetextur, Turgor, Elastizität und Reizbarkeit zu erfassen. Darüber hinaus ist die menschliche Hand dazu geschaffen, kleinste Bewegungen zu erspüren, Bewegungen, die sonst nur von den sensitivsten bekannten elektronischen Aufnahmegeräten gemessen werden können. Das führt dazu, dass die Kunst der Palpation über die verschiedenen Berührungsmodalitäten hinaus unmittelbar dem Bereich der Propriozeption zugeordnet werden kann, jenem Bereich, der Lage- und Spannungsänderungen innerhalb unseres eigenen Muskelsystems wahrnimmt.

Das Zentrale Nervensystem besitzt einen komplexen und automatischen Verstärkungsmechanismus, durch den selbst geringste sensorische Perzeptionen analysefähig gemacht werden. Ein Textilexperte kann etwa ein synthetisches von einem natürlichen Material unterscheiden, egal wie ähnlich beide Stoffe einem untrainierten Auge oder einer ungeübten Hand auch erscheinen mögen. Ein Kassierer kann unter 100 Cents eine einzige zu kleine Münze herausfischen. Bei den meisten von uns sind diese Verstärkungsmechanismen für derartige Abweichungen, obgleich präsent, noch nicht entwickelt. Wir müssen uns lediglich dazu entscheiden, sie zu trainieren.

Dementsprechend ist der erste Schritt bei der Palpation das Erspüren, der zweite Schritt die Verstärkung und schließlich der dritte die Interpretation.

Die Interpretation einer durch Palpation gewonnenen Analyse von Beobachtungen, stellt den bedeutendsten Schlüssel bei der Untersuchung von Struktur und Funktion der Gewebe dar. Dieser Vorgang ist mit dem erstmaligen Besuch eines fremden Landes vergleichbar. Zahlreiche seltsame und ungewöhnliche Sehenswürdigkeiten sind dabei zu bestaunen, aber ohne ein wenig Kenntnis der Sprache, mit der man Fragen stellen kann, oder einem Führer, der diese Beobachtungen aus der Sicht des Lebens dort und der Geschichte des Landes interpretiert, haben sie für uns kaum Bedeutung. Der dritte Schritt unserer Untersuchung besteht also darin, in der Lage zu sein, die palpatorischen Beobachtungen in bedeutende anatomische, physiologische oder pathologische Sachverhalte zu übersetzen. Dabei muss die vergangene, gegenwärtige und zukünftige osteopathische Forschung zu Rate gezogen werden, um die Machbarkeit einer akkuraten Übersetzung zu überprüfen.

Dr. Louisa Burns5 beschrieb die makroskopische und mikroskopische Pathologie der osteopathischen Läsion in ihren verschiedenen Verlaufsstadien. Ödeme, Blutandrang und Hämorrhagien in Form von Petechien, die später chronisch fibrosieren, eine Ischämie oder Muskelatrophie begünstigen können, sind typisch für die verschiedensten Stadien einer Läsionspathologie. Durch die Palpation des Gewebes am lebenden Menschen kann mit zunehmender Erfahrung die Genauigkeit oder das Stadium der Chronifizierung einer Läsion bestimmt werden. Die diese Palpationsbefunde beschreibende Terminologie kann auf der Evidenz der Natur dieser Gewebeänderungen basieren.

Das Forscherteam in Kirksville unter der Leitung von Korr, Wright und Denslow hat die mit dem umfangreichen osteopathischen Läsionskomplex in Zusammenhang stehenden Veränderungen im autonomen Nervensystem analysiert. Dabei wurden sämtliche Abweichungen an der Wirbelsäule untersucht, welche einen Nachweis über das Ausmaß der Reaktion auf die Läsion per se lieferten. Eine sorgfältige Studie dieser langwierigen Untersuchung (ca. 60 Veröffentlichungen) wird im Weiteren dazu beitragen, eine exakte Terminologie zu entwickeln.6

Bis heute wurde keine Forschungsarbeit über das Kraniale Konzept veröffentlicht, aber die Ergebnisse der gegenwärtig laufenden Untersuchungen werden dabei helfen, eine verlässliche und exakte Terminologie zu entwickeln. Zunächst wird bei diesen Untersuchungen die Bewegung der Schädelwand offensichtlich: die übereinstimmende mit der Atmung einhergehende pulsierende Bewegung fällt dabei sofort auf. Wird die Atmung aus irgendeinem Grund angehalten, persistiert beim Gesunden ein Bewegungszyklus von 12 Mal/​min, der dokumentiert werden kann. Dadurch lässt sich mit Sicherheit behaupten, dass der Kraniale Rhythmische Impuls keine Einbildung ist. Seine Amplitude liegt im Mikrometer-Bereich. Demnach muss das zentrale Verstärkersystem innerhalb des Zentralen Nervensystems des Untersuchers entsprechend entwickelt sein, bevor eine Interpretation der palpatorischen Befunde möglich ist. Das erwähnte Forschungsprogramm steht erst am Anfang und es wird sicherlich noch einige Zeit dauern, bis eine befriedigend umfassende Datensammlung zur Verfügung steht, um die verschiedensten derartigen Hypothesen zu untermauern. Daher ist es wichtig, deutlich zwischen hypothetischer Interpretation, der jeweiligen Beobachtung und deren sachlicher Basis zu unterscheiden.

Diese kurze Erörterung der Interpretation und Kommunikation von Palpationsbefunden genügt, um einige der Schwierigkeiten aufzuzeigen, die bei der wissenschaftlichen Dokumentation und beim Unterricht der Palpation eine Rolle spielen.

Ein noch viel größeres Problem ist jedoch die Entwicklung des Palpierens selbst, durch welche der Untersucher jene Daten erhält, aus denen er seine Schlussfolgerung hinsichtlich des physiologischen Zustands des Patienten ziehen muss. Wir wenden uns deshalb zunächst den verschiedenen Phasen der allgemeinen Palpation zu und betrachten, was bei jeder einzelnen davon wahrgenommen werden kann:

1 Eine sehr leichte Berührung bzw. selbst dann, wenn die Hand sogar etwa einen halben Zentimeter über der Haut gehalten wird, liefert Informationen über die Oberflächentemperatur. Ein akutes Läsionsgebiet wird im Vergleich zur Haut anderer Regionen ungewöhnlich warm sein, eine Region mit einer bereits lang andauernden chronischen Läsion erscheint dagegen möglicherweise ungewöhnlich kalt.

2 Leichtes Berühren gibt weiterhin Aufschluss über die Hautfeuchtigkeit und die Aktivität der Schweiß oder Talg absondernden Drüsen der Haut.

3 Der Tonus, die Elastizität und der Turgor der Haut können mittels leichten Drucks wahrgenommen werden.

4 Ein geringfügig kräftigerer Druck stellt eine Kommunikation zwischen dem Untersucher und den oberflächlichen Muskeln her, um deren Tonus, Turgor und Stoffwechsellage zu bestimmen.

5 Ein tieferes Eindringen ermöglicht eine entsprechende Untersuchung der tieferen Muskelschichten.

6 Der Zustand der Faszienschichten sowie Gewebsverdichtungen können festgestellt werden.

7 Im Abdomen liefert eine ähnliche Palpation Informationen über den Zustand der inneren Organe.

8 Bei tieferem Eindringen – bestimmt, aber sanft – wird indirekter Kontakt mit dem Knochen hergestellt.

Mögliche Übungen zur Entwicklung der entsprechenden Sensitivität:

a) Palpieren Sie mit geschlossenen Augen sanft die Oberfläche eines Tisches und erfühlen sie die Position der Tischbeine. In diesen Regionen wird die Resilienz (elastische Rückverformung) geringer und der Widerstand größer sein.

b) Erfühlen Sie eine Münze unter einem Telefonbuch.

c) Erfühlen sie ein menschliches Haar, das unter mehreren Seiten eines Telefonbuchs verborgen liegt. Ein Anheben der glatten Seitenoberfläche wird festzustellen sein.

Bis hierhin hat die Untersuchung Informationen hinsichtlich des Gewebezustandes in Bezug zu seiner unmittelbaren Umgebung ergeben. Was aber ist mit seinem inneren Zustand, seiner Vitalität, seiner inneren Aktivität?

Am besten lässt sich das meiner Meinung nach am Beispiel eines Patienten beschreiben, dessen eines Bein aufgrund von Poliomyelitis nicht mehr so wuchs, wie das andere. Inzwischen ist eine Paralyse für das Bein nicht mehr notwendig. Legen Sie die Handinnenfläche sanft, aber bestimmt auf einen Muskelbereich an irgendeiner Stelle am Bein. Vergleichen Sie, indem Sie Ihre andere Hand auf die gleiche Stelle des unversehrten Beines legen. Worin unterscheiden sich die beiden? Das früher einmal gelähmte Bein fühlt sich „tot” an, leblos. Es tritt ein unheimliches Gefühl auf, als ob es nicht so richtig zu dem Rest des Organismus gehören würde. Warum vermittelt es Ihnen aber diesen Eindruck?

Die essenzielle Eigenschaft des Lebens ist Bewegung, egal ob es sich um eine Zelle oder das Universum handelt. Sobald der Tod in einem Gewebe, einem Organ oder einem Organismus Platz greift, kommt die ihm inhärente Bewegung langsam zum Stillstand.

Wird eine Hand auf eine gesunde Muskelpartie eines ruhenden Beines gelegt, kann man sich innerhalb weniger Sekunden auf die innere inhärente Bewegung „einstimmen”. Zwischen Untersucher und Untersuchtem wird dabei eine Art Beziehung oder fluidales Kontinuum hergestellt, welches uns im Übrigen ein vollkommen neues Forschungsgebiet eröffnetiii. Die Kontinuität von Flüssigkeiten im Körper ist beim Gesunden niemals unterbrochen – Intra- und Interzellulärflüssigkeit, Lymphe, Zerebrospinale Flüssigkeit – sie alle befinden sich in einem konstanten Zustand rhythmischer, fluktuierender Bewegung. Dies ist das Unterscheidungsmerkmal eines lebenden Gewebes: Die Vitalität des Gewebes kann anhand der Stärke besagter Bewegung eingeschätzt werden und man wird allen Stufen der Gewebevitalität begegnen. Bei dem früher einmal paralysierten Bein ist lediglich ein minimaler Fluss an Bewegung vergleichbar einem leichten Murmeln oder Rauschen feststellbar: Ein langjährig paralysiertes Bein zeigt keine erkennbare innere Bewegung.

Weiterhin ist es möglich, das Potenzial an möglicher Verbesserung einzuschätzen, indem eine Hand flach auf das Segment der Wirbelsäule gelegt wird, das hauptsächlich für die Innervation der Beinregion sorgt. Diese wird gleichzeitig von der anderen Hand untersucht. Halten Sie zunächst ein paar Minuten inne und konzentrieren Sie sich auf die Aktivität, die in Ihre Hände übertragen wird. Die spinale Hand wird zuerst etwas bemerken. Der Grad, mit dem die andere Hand wenige Minuten später eine rhythmisch integrierte Reaktion empfängt, ist das Maß der Vitalität dieses Gewebes. Sobald sich eine „Kommunikation” zwischen beiden Händen aufgebaut hat, kann man annehmen, dass tatsächlich noch eine Kommunikation für den inneren vitalen Flüssigkeitszyklus zwischen dem spinalen Segment und seinem peripheren Ausläufer möglich ist.

Bis dato wurde die zu untersuchende Physiologie besprochen, also die Möglichkeit der Beobachtung sowie einige Vorschläge hinsichtlich der Schlussfolgerungen, die man aus ihnen ziehen könnte. Nun muss aber noch erwähnt werden, wie das alles auszuführen ist. Über den Unterricht der Palpationstechnik gibt es bislang wenig Material in der Literatur. Daher hoffe ich, dass Sie die Gedanken, die hier vorgestellt werden, kritisch hinterfragen, nachprüfen, mit ihnen experimentieren und dann konstruktive Vorschläge zu ihrer Verbesserung anbieten.

Da zu diesem Thema keine Informationen in der osteopathischen Literatur zu finden waren, beziehe ich mich hier auf die Schriften eines Mannes, für den die Kunst der Berührung zu einer hoch spezialisierten und unverzichtbaren Qualität im Laufe seines beruflichen Werdeganges wurde. Dieser Mann, Tobias Matthay, kann als Vater der modernen Technik des Klavierspielens angesehen werden. Er hat ausführlich und detailliert über die Technik der Berührung, die Physiologie des Berührens und über den Berührungssinn geschrieben. Darüber hinaus hat er ein System für den Unterricht entwickelt, mit dem er seine Kunst Studenten jeden Alters vermitteln kann. Lassen Sie uns einige seiner Kommentare und Empfehlungen genau prüfen und deren Anwendbarkeit auf unser eigenes Gebiet erforschen.7

In seiner Einleitung zu The Visible and Invisible in Piano Technique betonte er die Aussage, „dass über gewisse relativ einfache Verallgemeinerungen hinaus die versuchte Vergegenwärtigung der präzisen Lokalisierung einzelner betroffener Muskeln nicht nur vergebens ist, sondern dazu führt, den Fortschritt des Lernenden zu behindern, da er dabei zwangsläufig seine Aufmerksamkeit von den Punkten wegnehmen muss, wo sie direkt gebraucht wird.“ „Jedenfalls“, so fährt er fort, „ist es sinnlos, da es sowohl physiologisch als auch psychologisch für uns tatsächlich unmöglich ist, die Aktivität eines einzelnen Muskels unmittelbar zu beeinflussen oder anzuregen – so intensiv wir es auch versuchen mögen. Kein Muskel reagiert auf diese Weise. Und angenommen ein solcher Versuch sei dennoch möglich, wäre es in der Tat hoffnungslos, den Versuch zu unternehmen, die korrekten Spielabläufe so zu vermitteln oder zu erwerben, da es zu bedenken gilt, dass selbst die einfachsten Handlungen unserer Extremitäten eine Komplexität an muskulärem Zusammenspiel erfordern, welche eine derartige Anforderung sofort undenkbar machen.“

„Was wir lernen können und unterrichten sollten, könnte man wohl eher als allgemeine Muskelmechanik der benutzten Extremitäten bezeichnen. Wir sind in der Lage zu lernen, welcher Abschnitt der Extremität zunächst beansprucht und welcher entspannt bleiben sollte. Will man dann, dass die gewünschte Extremität aktiv wird, werden komplexe Muskelkoordinationen zwar indirekt, aber dennoch mit Sicherheit zu einer Handlungsreaktion führen.“

Das ist auch für den osteopathischen Ansatz eine ausgezeichnete Aussage. W. G. Sutherland nutzte beim Unterricht seiner Studenten im Hinblick auf die Kontaktaufnahme mit dem Schädel im Rahmen der Untersuchung, Diagnosestellung und Behandlung gerne die Analogie eines Vogels, der auf einem Zweig landet und ihn dann festhält. Diese einfache Analogie umschreibt den gesamten Themenkomplex: Studieren Sie einen Vogel und seine Gewohnheiten: Beobachten Sie, wie er auf einem Zweig landet und beobachten Sie wieder und wieder seine Technik. Eines Tages wird offensichtlich, wie Sie das Beobachtete anwenden und umsetzen können und dann werden Sie es ebenso unbewusst ausführen wie das Gehen.

Für Dr. Rollin Becker ist es von großer Bedeutung, von einem Fulkrum aus zu operieren, das eine Region der Extremität stabilisiert, um die zu untersuchende Region zu entlasten.

Beide Ansätze sollten in Betracht gezogen und Tag für Tag bis zum vollkommenen Erkennen der tieferen Bedeutung und ihrer Umsetzung angewandt werden. Technik ist keine vage oder zufällige Leistung, sie muss unaufhörlich und gewissenhaft verfolgt werden, bis sie Ihnen zu eigen wird.

T. Matthay betont, dass der Musiker „niemals eine einzige Note ohne ein bestimmtes musikalisches Ziel erklingen lassen sollte. Das impliziert bei jeder Note eine definierte rhythmische Absicht zu verfolgen.” Das Ziel einer osteopathischen Palpation muss genau so deutlich definiert werden und ist ebenso so wenig von einer nützlichen, informativen und produktiven Palpation zu trennen. Die entsprechenden Ziele wurden zuvor bereits aufgezählt.

Unsere Aufgabe ist es jetzt, unser Wissen über die Methode, mit welcher derartige Intentionen und Ziele erfüllt werden können, in die Köpfe der Studenten zu bekommen. Zu Beginn treten hier Schwierigkeiten auf, bei denen es wichtig ist, das korrekte muskuläre „Handeln” erfolgreich zu analysieren um seine wahren Prinzipien entdecken zu können. In einigen Fällen trat die Tendenz auf, eine Technik durch Beobachtung von Bewegungen zu erlernen, die von erfolgreichen Behandlern ausgeführt wurden. Unglücklicherweise ist diese Methode nicht nur sehr gefährlich, sondern oft auch sehr irreführend, da die eine Bewegungen begleitende Palpation nur wenig (oder gar illusionäre oder irreführende) Hinweise auf die versteckten und unsichtbaren Spannungsverhältnisse – Kraftanstrengungen und Entspannungen – jener Extremität geben, welche die eigentliche Ursache der gewünschten oder ungewünschten Resultate sind. Die korrekte Nachahmung sichtbarer Bewegung ist daher keine Garantie, wie auch immer die korrekten und verfügbaren Handlungen aussehen mögen.

Berührung kann nicht durch das Auge analysiert werden.

Des Weiteren ist es uns weder durch Denken noch durch Wünschen, noch durch Wollen physiologisch oder psychologisch möglich, die Aktivität eines einzelnen Muskels direkt zu provozieren oder anzuregen – egal wie sehr wir uns dabei anstrengen. Muskeln können nur indirekt zur Aktivität provoziert werden, indem wir eine bestimmte Betätigung oder Bewegung der Extremität initiieren.

Aber seien Sie getröstet, korrekte Beanspruchungen der Extremitäten können erlernt werden. T. Matthay liefert dazu einige passende Kommentare:

„Wir müssen und wir sind in der Lage zu wissen, welche spezifischen Anspannungen und Entspannungen für die verschiedenen Regionen unserer zum Spielen benötigten Extremität erforderlich sind, welche Bereiche der Extremität beansprucht werden müssen und welche passiv bleiben sollten. Dieses Wissen ist erlernbar und ebenso augenblicklich wie unmittelbar hilfreich. Solche Kenntnisse sind jedoch nicht von außen zugänglich, weder durch Augenscheinlichkeit noch durch anatomische Spekulation. Es kann nur durch Analyse von innen heraus – durch die Analyse der selbst erfahrenen Empfindungen, während gleichzeitig die richtigen Ergebnisse erzielt werden – und nicht auf irgendeine andere Weise erworben werden. Nur über derartige Gefühlserfahrungen vermögen wir zu erkennen, welcher Einsatz der Extremität sowohl zu einem guten als auch zu einem schlechten Klavierspiel beiträgt. Indem wir diese Empfindungen auslösen oder wiederholen, sind wir in der Lage, die Ergebnisse zu reproduzieren und uns die korrekten Gewohnheiten anzueignen. Und wir sind in der Lage anderen beizubringen, wie sie sie erwerben können.”

Beim Erlernen und Unterrichten der Palpation ist es auch unser Ziel, die „selbst erfahrenen Empfindungen, während gleichzeitig die richtigen Ergebnisse erzielt werden”, zu analysieren. Palpation ist in Wirklichkeit ein Schlüssel zur Behandlung und die osteopathische Technik, die Präzision eines nicht-invasiven Chirurgen, ist solange unmöglich zu beherrschen, bis wir von innen her die Information analysieren können, die wir über unsere palpierenden Finger gewinnen.

Praktische Übungen: Zielsetzungen

1 Eine Studie der Anatomie durch den sensorischen Apparat der Hände, nicht über den der Augen.

2 Ein analytischer Ansatz zur Palpation, mit dem Ziel, herauszufinden, wie man die Extremitäten kontrollieren kann, um eine Beziehung zur Physiologie des Patienten herzustellen.

Praxis

1 Palpieren und beschreiben Sie mit verbundenen Augen einen Schädelknochen bis ins Detail und beachten Sie insbesondere dessen Gelenkausformungen. Sobald er mit der Anatomie des Schädels vertraut ist, sollte der Student in der Lage sein, nicht nur die individuellen Merkmale eines Knochens aufzuzählen, sondern er muss ihn auch positionieren können. Für jemanden, der nicht mit der Schädelanatomie vertraut ist, ist diese Übung eine wertvolle Einführung in die Form der Schädelknochen. (Es ist hilfreich, dafür Knochen zu nehmen, die unmittelbar von der Schädelaußenseite her palpierbar sind.)

2 Studieren Sie mit verbundenen Augen den gleichen Knochen in situ am lebenden Kopf: Beschreiben Sie die Konturen Suturen Resilienz (elastische Rückverformung) Bewegung – Initiieren Sie dabei keine Bewegung, hier geht es nur um Beobachtung.

3 Palpieren Sie die rhythmische Bewegung innerhalb des Körpers. Legen Sie anschließend eine Hand auf diejenige Region der Wirbelsäule, die das neurologische Versorgungsgebiet der von der anderen Hand untersuchten Region repräsentiert. Möglicherweise baut sich dabei eine fluidale Welle zwischen den beiden Händen auf.

Schlussfolgerung

Palpieren Sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Je mehr Sie üben, desto sensitiver werden Sie werden.

Teil II

„Technik ist eher eine Sache der Bewusstheit als eine Aufgabe der Finger. Um Extremitäten bei ihrer Tätigkeit so zu lenken, damit deren Ziel akkurat erfüllt wird, ist es notwendig, die Kraft der Muskeln mental zu erfassen. Das erste wichtige Element ist, physisch (etwa mental) zu lernen, wie ausschließlich die erforderlichen Beanspruchungen der Extremität unterstützt werden können, ohne dass unerwünschte Reaktionen den Prozess beeinflussen.“8

Die erste Lektion bestand darin, einen disartikulierten Schädelknochen palpatorisch zu untersuchen. Analysieren wir jetzt diese Methode.

Erstens: Durch das Fühlen der leichten Berührung hat sich der Student vergewissert, dass das Objekt in der Hand tatsächlich ein Knochen ist – ein toter Knochen. Hätte man ihn von einer Plastikimitation unterscheiden können? Der Unterschied zwischen beiden ist subtil, aber da Knochen im lebenden Zustand aus zwei Platten mit dazwischen liegender Diploe besteht und auch nach der Verarbeitung weiterhin ein Maschenwerk an Knochen bestehen bleibt, entsteht das unverwechselbare Gefühl einer geringfügigen Resilienz des Knochens, ein Gefühl von Leichtigkeit, das ihn von festen Imitationen unterscheidet. Darüber hinaus war bislang kein Stück Plastik erfolgreich darin, die für die Schädelknochen typischen feinen Verzahnungen zu imitieren. Hätte der Knochen von einem anderen ähnlich harten Material unterschieden werden können? Ja. Durch langjährige Erfahrung hat jeder von uns die Unterscheidungsmerkmale von Holz, Metall, Plastik usw. kennengelernt. Wir sammeln diese Eigenschaften automatisch mental, sodass sie integriert und gespeichert werden, um die bewusste Wahrnehmung der Natur einer Substanz zu ermöglichen. Wird eine bestimmte Stelle des Zentralnervensystems geschädigt, so geht diese Fähigkeit verloren und der Patient ist nicht mehr in der Lage, Metall von Holz oder Seide von Wolle zu unterscheiden.

Zweitens: Die einzelnen Knochen wurden durch Palpation voneinander unterschieden, etwa ein Os temporale, ein Os occipitale, ein Os frontale usw. Darüber hinaus war es häufig möglich, den Knochen zu positionieren. Um dies auszuführen zu können, muss zunächst eine Kenntnis der allgemeinen Anatomie des Kopfes vorhanden sein und die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Knochenform. Das Studium der Form eines Objektes wiederum erfordert Bewegung, die Bewegung der untersuchenden Finger. Dieses durch die Finger laufende Bewegungsmuster, wird über den Weg der Propriozeptoren ins Bewusstsein übertragen, wobei diese dabei das Konzept der Form vermitteln. Es wurde festgestellt, dass man zum Erlangen der schärfsten Formwahrnehmung den Arm auf einer fixierten Unterlage ruhen ließ, sodass die Finger sich vom Gewicht des Armes unbeeinflusst und unbehindert bewegen konnten.

Nachdem der disartikulierte, tote Knochen erforscht war, wurde der gleiche Knochen in situ am lebenden Menschen untersucht. Ähnlichkeiten wurden festgestellt, aber keiner konnte leugnen, dass auf dem Weg der Palpation deutliche Unterschiede beobachtet werden konnten. Können Sie diese Unterschiede definieren und beschreiben?

An keiner Stelle des Körpers ist es möglich den Knochen direkt zu palpieren, er ist immer von unterschiedlich dicken Schichten Haut, subkutanem Gewebe, Faszien, muköser Membranen und Periost sowie in den meisten Regionen von Muskeln umgeben. Gleichermaßen wurde auch der isoliert palpierte Knochen zuvor von einer Hülle lebender Gewebe eingewickelt, die ihrerseits wiederum besondere Eigenschaften besitzen. Darüber hinaus werden die Qualitäten dieser Gewebe vom Knochen selbst modifiziert. Denken Sie etwa an die Veränderungen der Weichteile im Gebiet um eine osteopathische Läsion herum.

Bei der Palpation des lebenden Knochens, muss also Bindegewebe von Knochen unterschieden werden und genauso müssen eventuell die verschiedenen Zustände und Qualitäten des Bindegewebes, bishin zum Knochen wahrgenommen werden. Darüberhinaus, muss zusätzlich zu all den bisher erwähnten Qualitäten, der notwendige Unterschied, der Charakter von lebendem Gewebe hinzugefügt werden, nämlich Bewegung.

Fassen wir nun auch die weiteren Ergebnisse zusammen: Beim Palpieren des lebenden Knochens nimmt der Wahrnehmungsapparat des Untersuchers Eigenschaften wie Temperatur, Feuchtigkeit, Turgor und Spannung auf und er wird mittels Propriozeption Form und Bewegung feststellen. Wird ein sensitives elektronisches Aufzeichnungsgerät am Kopf angebracht, können drei Bewegungen gleichzeitig aufgezeichnet werden: Puls, Atmung und eine rhythmische Bewegung, die langsamer ist als die anderen. Modifiziert man den Druck des Kontakts auf dem Kopf, intensiviert dies ein Signal, während ein anderes reduziert wird. Die menschliche Hand führt derartige Adjustierungen aus, um die Bewegungsarten unabhängig voneinander zu beobachten. Dies geschieht jedoch so automatisch, dass es sehr schwer ist, einem Studenten beizubringen, wie man das macht. Lassen Sie mich zum Vergleich ein Beispiel nennen. Eine Patientin wird wegen eines Knotens in der Brust untersucht. Sie liegt auf dem Rücken, ihre Arme liegen über dem Kopf. Sie ist vollkommen entspannt und in Ruhe. Bei der Untersuchung sind die verschiedenen Charakteristika der oberflächlich liegenden sowie der subkutanen und tieferen Gewebe feststellbar. Der Knoten lässt sich aufgrund seiner besonderen Eigenschaften, die sich von denen der benachbarten Gewebe unterscheiden, exakt vom eigentlichen Brustgewebe differenzieren. Darüber hinaus ist der Knoten fassbar und seine Mobilität und Verschieblichkeit lässt sich im Vergleich zu dem ihn umgebenden und darunter liegenden Gewebe testen. Während der gesamten Untersuchung hat sich der Knoten in rhythmischen Bewegungszyklen bewegt, denen der Untersucher wahrscheinlich wenig oder gar keine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Es handelt sich dabei um die Atemzyklen sowie Zyklen, die synchron mit dem Kraniosakralen Rhythmus verlaufen. Es eignet sich gut, an dieser Stelle inne zu halten und sich die Frage zu stellen, warum der Untersucher diese Bewegungen nicht bemerkt. Die Antwort lautet natürlich, dass der Behandelnde bei dieser speziellen Untersuchung nicht an ihnen interessiert ist. Die automatische Selektionsinstanz in seinem Bewusstsein vernachlässigt daher diese Beobachtungen und schenkt nur denjenigen Aufmerksamkeit, die sie aus Erfahrung seinem Ziel gemäß als notwendig erachtet. Unsere Herausforderung besteht dann darin, die automatischen Kontrollen im Selektionssystem des Zentralen Nervensystems so zu adjustieren, dass es für uns genauso leicht ist, uns auf diese rhythmischen Bewegungen einzustimmen, wie es bei der Gewebetemperatur, Spannung usw. der Fall ist.

Beschäftigen wir uns noch einmal mit dem Brusttumor. Welche Veränderung ist notwendig, um die menschliche Wahrnehmung von der Gewebestruktur auf die Gewebebewegung zu lenken? Ist ein Wechsel von einer Wahrnehmung zu einer anderen notwendig? Können Sie nicht beide simultan wahrgenommen werden? Sie können nacheinander wahrgenommen werden und mit der Erfahrung kann dieses Aufeinanderfolgen automatisch ablaufen, aber ich werde Ihnen zeigen, dass es unmöglich ist, Form und Bewegung gleichzeitig zu untersuchen. Um die Bewegung der Brustwand zu beobachten, werden die Beobachtungen der Gewebespannung etc. temporär vernachlässigt. Darüber hinaus ist eine Bewegung innerhalb der Bewegung zu beobachten. Wenn die zuvor beschriebene Patientin sich etwa für den Wechsel in die Seitenlage entscheidet, sind Sie in der Lage, die Atembewegungen wahrzunehmen, während sie sich gerade dreht? Das ist sehr schwierig, ausgenommen, ihre Hand hat die Drehbewegung aufgenommen und bewegt sich mit der Patientin mit, als ein Teil von ihr. Sie haben auf diese Weise die relative Bewegung im Raum zwischen der Brustwand und der Hand eliminiert und sind daher immer noch in Kontakt mit der inhärenten Bewegung der Brustwand. Hier könnte eine weitere Analogie sinnvoll sein: Ein Fahrzeug beginnt sich zu bewegen. Sie stehen auf der Straße und entscheiden sich, ins Auto einzusteigen. Sie beginnen zu laufen, um Ihre Geschwindigkeit der des Autos anzupassen. Sie springen ins rollende Fahrzeug. Falls der automatische Adjustor gut funktioniert, werden Sie Ihre Geschwindigkeit schnell auf die des Fahrzeugs einstellen und sie werden mitfahren können. In ihm sitzend, werden Sie seine inhärente Bewegung fühlen, wenn es um die Kurven fährt, sie werden seine Spannungen spüren, wenn es einen steilen Berg erklimmt, oder den Spannungsabfall, wenn es den Berg hinunterrast. Die Bewegung ist im Insassen genauso aktiv wie im Fahrzeug. Woher wissen wir das? Und falls das Auto plötzlich stoppt, was passiert dann mit den Insassen? Sie werden mit der gleichen Geschwindigkeit nach vorne geworfen, die sie von der Bewegung des Fahrzeugs übernommen haben. Bei Ihnen kommt keine Bremse zum Einsatz, also bewegen Sie sich weiter wie zuvor, bis sich Ihnen ein mechanisches Hindernis in den Weg stellt oder der Bewegungsimpuls aufgehoben wird.

Folglich geht es um die Wahrnehmung der Bewegung im menschlichen Körper. Wir müssen „aufspringen” und uns auf den inhärenten Bewegungsimpuls des Körpers einstellen, mit ihm fahren und Teil von ihm werden. Die Bewegung ist wie die Ewigkeit, sie hat keinen Anfang und kein Ende: Sie ist so permanent wie die Gezeiten eines Ozeans. Muster, Amplitude und Intensität können sich ändern, sie können von einer Richtung in eine andere umgelenkt werden, aber die Bewegung kann solange wie das Leben weitergeht niemals aufhören. Wie bei einem Ozean kann während eines bestimmten Zeitpunktes mehr als nur eine Bewegung stattfinden. Die Wellen steigen und fallen, rhythmisch bewegen sie sich voran und weichen zurück über und unter dem viel langsameren aber gleichwertigen rhythmischen Gezeitenzyklus von Ebbe und Flut. Übertragen Sie das auf die Lungenatmung und das Zwerchfell, die sehr schnell auf den Sauerstoffbedarf des Körpers reagieren sowie auf den relativ unveränderten Zyklus des Primären Respiratorischen Mechanismus.

Perzeption ist unser Ziel: Wie kann sie entwickelt werden?

1 Da wir danach streben, uns die Wahrnehmungen der Finger bewusst zu machen, ist es wichtig, alle anderen Faktoren so weit wie möglich zu eliminieren, die eine solche Wahrnehmung beeinträchtigen können, etwa die Kleidung. Palpieren sie Gewebe wann immer möglich direkt. An und für sich sollte es uns lächerlich erscheinen, einen Patienten mit wollenen Handschuhen zu palpieren, dennoch ist es eine übliche Praxis, den Körper durch mehrere Lagen an Kleidung hindurch zu palpieren. Die Wahrnehmung wird sich verbessern, wenn die Finger Kontakt mit der Haut aufnehmen oder wenn sich nur eine Lage dünner Baumwolle dazwischen befindet.

2 Kultivieren Sie die Kunst der Entspannung. Entspannung impliziert a) die Vermeidung aller unnötigen Anstrengungen, b) das Justieren der benötigten Impulse im richtigen Moment und c) einen Gewichts-Release, respektive das Aufheben der Unterstützung der Extremitäten um Gewichtsmanifestationen besser zu spüren, wo und wann immer es nötig ist. Die Kunst der Entspannung ist von vorrangiger Bedeutung. Spannungen blockieren die Wahrnehmung.

3 Lassen Sie uns den Anwendungssinn entwickeln. Damit meine ich, sich der notwendigen Menge an Gewichts-Release bewusst zu sein, um Kontakt mit der gewünschten, zu untersuchenden Ebene aufzunehmen. Sie müssen sich langsam bis zu diesem Punkt „durchfühlen”, an dem Sie auf die Gewebeebene eingestimmt sind, an der sie in diesem Moment interessiert sind. An diesem Punkt haben Sie Kontakt mit dem Gewebe oder den inneren Flüssigkeitsspannungen – oder Sie sind mit der inneren Bewegung in Einklang. Durch Ihre Propriozeption können Sie den Gewebewiderstand erfassen. Es handelt sich nicht bloß um einen Kontaktsinn, einen Berührungssinn. Es ist ein Gefühl, das sich vorrangig von der Muskelarbeit ableitet. Das ist Propriozeption im eigentlichen Sinn.

Solange Sie nicht auf der selbstkritischen Beurteilung jeglicher palpatorischer Erfahrung beharren, werden Sie keine wahre praktische Fähigkeit in der nicht schneidenden operativen Behandlung entwickeln. Ohne die Übung dieser Beurteilung wird es zu einer lediglich zufälligen Leistung. Eine kurze Redewendung fasst das alles zusammen und bringt es auf den Punkt: die Entwicklung der Finger, die fühlen, sehen, denken und wissen. Denn die Finger sind lediglich Verlängerungen der sensorischen Neurone im Gyrus postcentralis des Gehirns, mit nur ein oder zwei dazwischen geschalteten Umschaltstationen.

Praktische Übungen:

1 Palpieren Sie mit verbundenen Augen unterschiedliche Knochen.

2 Sind die Augen des Studenten verbunden, bringt der Dozent eine Hand des Studenten mit verschiedenen Objekten in Berührung. Der Student wird dann nicht nur die Natur des Materials, aus dem das jeweilige Objekt besteht, identifizieren, sondern auch alle Eigenschaften beschreiben, die es von allen anderen unterscheidet – Modellierton, Knöpfe, tote Knochen, eine Puppe.

3 Arbeit in Zweier-Gruppen. Nehmen Sie sich viel Zeit. Analysieren Sie jede ausgeführte Bewegung, jede erhaltene Antwort. Nehmen Sie sich dazu einen kleinen Ausschnitt des Körpers vor und gehen Sie auf Entdeckungsreise, indem Sie alle Ebenen der Gewebe palpieren.

Notieren Sie Ihre Beobachtungen auf einem Blatt Papier, ohne dass Sie sich mit Ihrem Übungspartner austauschen. Jeder sollte für sich arbeiten. Es ist weitaus wichtiger, selbst zu schauen und zu finden, was da ist, als etwas zu erwarten und zu finden, was da sein sollte. Der Dozent wird sich anschließend die Körperregion und die schriftlichen Aufzeichnungen ansehen. Eventuell wird er Ihre Aufmerksamkeit auf etwas lenken, das übersehen wurde. Wenn noch Zeit bleibt, untersuchen Sie eine zweite, unterschiedliche Region und verfahren Sie auf gleiche Weise.

Im Anschluss daran versammelt jeder Dozent seine Studenten um sich und führt eine offene Diskussion mit allen Beteiligten über die verschiedenen Beobachtungen, damit eine Identifizierung des lebenden Gewebes im Vergleich zu anderen begutachteten Materialien möglich wird. Können Sie inzwischen lebende Gewebe von toten Geweben unterscheiden? Das Unterscheidungsmerkmal ist Bewegung.

Teil III

„Die erste und wichtigste physische (d. h. mentale) Lektion besteht darin, lediglich die erforderlichen Dinge zu tun, ohne sich dabei von unnötigen beeinträchtigen zu lassen.“9

Bei den Palpations-Workshops wird die bewusste Förderung der Entwicklung unterscheidungsfähiger, palpatorischer Instrumente anhand lebloser Substanzen geübt; zunächst durch das Studium anatomischer Objekte ohne Zuhilfenahme der Augen, dann durch das Studium der gleichen anatomischen Objekte am lebenden Körper und schließlich durch das Erforschen der Qualitäten, die lebende Objekte von allem Anderen unterscheiden. Nachdem das lebende Gewebe untersucht ist, werden entsprechende Schlussfolgerungen gezogen. Zusätzlich zu Temperatur, Feuchtigkeit, Textur, Turgor, Spannung, strukturellen Beziehungen und Konturen kann festgestellt werden, dass Bewegung eine besondere und inhärente Eigenschaft eines jeden lebenden Gewebes ist.

Nun wird die Bewegung detaillierter untersucht. Bewegung, ein Bewegungszustand, kann in zwei Hauptkategorien unterteilt werden.

Die erste Kategorie ist die Bewegung eines Teils in Relation zum Raum, mit der eine Änderung der Beziehungen zu seinen benachbarten Teilen einhergeht. Das kann weiter in a) aktive und b) passive Bewegung unterteilt werden. Mit aktiver Bewegung ist die Bewegung eines Teils des Körpers in Relation zu einem anderen Teil durch bewusste Muskelaktivität gemeint: Es handelt sich um eine willkürliche Bewegung. Daher hängt sie ab von

1 effizienter mechanischer Struktur der beteiligten Gelenke;

2 effizienter Ausstattung mit Muskeln, die an den verschiedenen, zu bewegenden Regionen ansetzen;

3 intakten, kommunizierenden Nervenbahnen zu und von unbewussten Arealen des Zentralen Nervensystems zu den Muskeln, die an der erforderlichen Bewegung beteiligt sind;

4 intakten, kommunizierenden Nervenbahnen zu und von unbewussten Arealen des Zentralen Nervensystems, um nötige Kreislauf-, Lymph- und Tonusänderungen in den agonistischen und antagonistischen Muskeln, die mit dieser Handlung in Beziehung stehen, zu bewirken;

5 intaktem Bewusstsein und intaktem Gehirn zur Erzeugung notwendiger Befehle, welche die gewünschte Bewegung hervorbringen.

Diese gezielte, wohl durchdachte, aktive Muskelbewegung ist eine komplexe Lebensfunktion, an der viele physiologische Aktivitäten beteiligt sind.

Passive Bewegung ist andererseits nichts weiter als die Bewegung eines Körperteils in Relation zum Raum durch eine äußere Krafteinwirkung. Damit das gesamte Spektrum zur Verfügung steht, bedarf es lediglich einer intakten Struktur der betroffenen Gelenke und die Absenz eines überhöhten Muskeltonus. Es sind weder Nervenbahnen noch irgendeine bewusste oder unbewusste Kommunikation mit dem Zentralen Nervensystem erforderlich. Passive Bewegung ist in der Tat lediglich für den Diagnostiker von gewissem Wert, hat aber kaum Bedeutung bei der Erfüllung der Lebensbedürfnisse.

Die zweite Hauptklassifikation von Bewegung ist die innere, inhärente Bewegung, die Bewegung der Elektronen und Protonen innerhalb des Atoms, die Bewegung der Atome innerhalb des Moleküls, die Bewegung der Moleküle innerhalb der Zellen, die Bewegung der Zellen innerhalb der Gewebe, der Gewebe innerhalb der Organe, die Bewegung der Gestirne innerhalb des Universums und schließlich die Bewegung der Bestandteile innerhalb des großen Ganzen. Diese Bewegung ist keine bewusst ausgelöste Bewegung, die von Nervenimpulsen initiiert wird und mithin ohne sie ausgeführt wird. Es ist eine vollkommen unbewusste und bis jetzt unkontrollierbare Aktivität, die von innen generiert wird.

Sie bezeichnet auch die Kraft, welche die Homöostase aufrechterhält, welche die Schutzfunktion der Bindegewebe bewirkt. Sie stellt die „unfehlbare Potency“ innerhalb des menschlichen Körpers dar, die von Dr. Sutherland beschrieben wurde. Diese „unfehlbare Potency” bewirkt eine inhärente Motilität. Während das menschliche Instrument die Wahrnehmung der „Potency” und dieser inhärenten Motilität entwickelt, wird es graduell dessen gesamte Eigenschaften bewusst machen. Dr. Sutherland hat spezifische Anleitungen hinterlassen: Es ist notwendig „Finger mit Gehirnzellen in den Fingerspitzen, Finger, die in der Lage sind, zu fühlen, zu denken und zu sehen” zu entwickeln. Zeigen Sie daher zuerst den Fingern, wie sie fühlen, wie sie denken, wie sie sehen können, und berühren Sie erst danach.”10 Folglich muss es ein Finger-Gefühl, ein Finger-Denken, ein Finger-Sehen geben, mit denen man die Funktionen und Dysfunktionen des Körpers erkennen kann. Die Kräfte, welche die Elektronen innerhalb des Atoms oder die Zellen innerhalb der Organe bewegen, liegen jenseits des Beschreibbaren: Mangels einer spezifischeren Erklärung bezeichnen wir sie als inhärente Qualität der Materie. Es ist die Lebenskraft, die Vitalkraft dieses Moleküls, dieser Zelle, dieses Organs oder Universums.

Folgendes ist demnach unser Ziel: den Fingern zu zeigen, wie sie fühlen, wie sie denken, wie sie sehen. Wenden wir uns noch einmal T. Matthay zu, „da auch der Musiker die Empfindungen kennen lernen muss, die zu einer korrekten Beanspruchung oder Bewegung der Extremitäten gehört, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen”.11 Wenn Sie Ihren eigenen Wahrnehmungsapparat entwickeln möchten, der die verschiedenen inneren Aktivitäten wahrnehmen, unterscheiden und analysieren kann, werden sie von nun an anerkennen, dass jeder Patient Ihr Lehrer sein wird.

Lassen Sie uns gemeinsam einen Weg zur Umsetzung finden. Streben wir danach, uns die beteiligten, automatischen Belastungen und Justierungen der Extremitäten bewusst zu machen. „Verwechseln Sie Beanspruchung und Bewegung einer Extremität nicht miteinander, es ist nicht das Gleiche. Es handelt sich um zwei vollkommen verschiedene Dinge. Es ist möglich, eine Bewegung ohne Anstrengung auszuführen, etwa wenn Sie Ihre Hand oder Ihren Arm durch sein eigenes Gewicht nach unten fallen lassen. Genau so ist es möglich, dass Sie eine Körperregion beanspruchen, ohne dass eine Bewegung im Außen sichtbar ist, etwa wenn Sie etwas fest in Ihrer Hand halten – das kann mitunter eine beträchtliche Beanspruchung bedeuten – und dennoch ist diese nicht ersichtlich erkennbar.“ T. Matthay stellt eine weitere Behauptung auf, die so treffend auf die osteopathische Technik angewandt werden kann, dass ich ihn hier vollständig zitieren möchte. Er bezieht sich hier auf den alten Trugschluss der „reinen Finger-Berührung”, die, so sagt er, „vom törichten Versuch stammt, den Vorgang des Klavierspiels durch Beobachtung der Fingerbewegungen zu diagnostizieren” und „kaum einen Hinweis darauf gibt, was wirklich geschieht – keinen Hinweis auf die ständigen Veränderungen bei der Beanspruchung und Entspannung der Extremitätenmuskulatur (ohne eine beGleitbewegung und nicht entschlüsselbar) und welche Bedingungen und Zustände einer Extremität die wahre Ursache einer jeden Technik darstellen, sowohl damals als auch jetzt und in Zukunft. Es ist essenziell, diesen Punkt von Anfang an zu meistern.” Er betont weiterhin, dass „es daher außerordentlich wichtig ist, dass Sie die radikale Unterscheidung zwischen Zustand und Bewegung verstehen – der Zustand Ihres Fingers, Ihrer Hand und Ihres Armes während des Berührens, und die Bewegungen, die derartige muskuläre Zustandsveränderungen optional begleiten – und meistens sind diese zuletzt Genannten relativ unsichtbar … Bis diese Unterscheidung klar erfasst werden kann, können Sie sich nicht erhoffen, sich den Berührungsvorgang oder die Technik rational vorzustellen (oder vernunftmäßig zu erklären).” Ich bezweifle, dass die ersten osteopathischen Lehrer in der Lage waren, dies besser zu erklären.

In vorangegangenen Abschnitten wurde bereits auf die Notwendigkeit hingewiesen, auf den besagten beständig aktiven menschlichen Mechanismus ”aufzuspringen” und sich auf das uns im jeweiligen Moment interessierende Studienobjekt „einzustimmen”. Ich möchte Ihnen ein paar weitere Gedanken dieses großen und glänzenden Lehrers mit auf den Weg geben, bevor ich einen spezifischen Zusammenhang seiner Prinzipien mit unserer Arbeit herstelle. „Es ist jetzt wichtig, zu realisieren, dass Aktion und Reaktion immer gleichwertig sind. Sobald Sie also Ihre Fingerspitzen gegen die Taste nach unten belasten, entsteht eine gleichwertige Reaktion (oder ein Recoil) am anderen Ende dieses Fingerhebels, dementsprechend am Knöchelgelenk nach oben. Dieser unsichtbaren nach oben gerichteten Reaktion (oder Recoil) am Knöchel muss wiederum am Knöchel etwas entgegengesetzt werden, etwa indem eine ausreichend stabile Basis (oder ein Untergrund) für die gewünschte Handlung der Finger zur Verfügung gestellt wird.”

„Kurz gesagt, der beanspruchte Finger benötigt eine Basis am Knöchelgelenk, die der Kraft entspricht, welche gegenüber der Taste aufgebracht werden muss. Die Beanspruchung der Hand – am Knöchelgelenk – muss zeitlich präzise mit der Beanspruchung des eigentlichen Fingers übereinstimmen. Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal, dass keine Bewegung der Hand sichtbar sein muss – wie deutlich die Beanspruchung des Fingers „dahinter” auch ausfällt. Auch hier benötigt die Hand ihren eigenen angemessenen Bezugspunkt bzw. eine entsprechende Basis – sonst würde das Handgelenk durch die Reaktion oder den Recoil überbeansprucht und die Kraft und Genauigkeit … wäre dahin. Nun, zuletzt, muss die Basis für die Beanspruchung der Hand vom Arm selbst gewährleistet werden.“

Hierin liegt das Geheimnis der Wahrnehmung und des therapeutischen Einsatzes der „Potency” und der manifesten inhärenten Motilität des menschlichen Körpers. Es geht um das Erkennen der Gleichwertigkeit von Aktion und Reaktion und das Einstellen des Mechanismus innerhalb der Finger, der Hand und des Arms auf die inneren Kräfte des Patienten.

Betrachten Sie einen Moment lang diesen Kräfteausgleich und seinen Einsatz im Alltag. Wie testen Sie etwa den Reifegrad einer weichen Frucht? Übersteigt die von Ihren Fingern ausgeübte Kraft jene innerhalb des Fruchtgewebes, wird das Fleisch je nach Grad der Überbelastung eingedellt, verletzt oder zerrissen. Andererseits werden Sie, wenn die Kräfte innerhalb einer unreifen Frucht die Kräfte einer sehr schüchternen, untersuchenden Hand übersteigen, keine Informationen über den Zustand dieser Frucht bekommen. Justieren Sie jedoch vorsichtig die Kräfte Ihrer Hand mit den Kräften innerhalb der Frucht, werden Sie sich ihrer Textur und Reife bewusst, ohne sie dabei in irgendeiner Form zu beschädigen. Wie viele Menschen können eine gute reife Cantaloupe-Melone, eine saftige Orange und eine reife Birne mit Gewissheit auswählen?

Eine ähnliche automatische Justierung geschieht beim Autofahren – über die Hände am Lenkrad realisiert der Fahrer den Reibungsgrad der Straßenoberfläche und steuert sein Auto dementsprechend. Ich schlage nicht vor, dass Sie die Augen schließen, während Sie die Gültigkeit dieser Behauptung testen, möchte aber, dass Sie zumindest den Kräften Aufmerksamkeit schenken, die über das Lenkrad Ihre Hände erreichen, und dass Sie die unsichtbaren Justierungen beachten, die Ihr Mechanismus daraufhin ständig ausführt. Ähnliche sensitive Justierungen bei Spannungsänderungen unterscheiden den geschickten Reiter vom Amateur. Er hält über die zum Maul des Pferdes laufenden Zügel ein sehr feines Spannungsgleichgewicht aufrecht und exakt dieses Spannungsgleichgewicht ist das Kommunikationssystem zwischen Reiter und Pferd. Genau so sollte es beim Osteopathen sein. Seine Hände stehen über das sehr feine Spannungsgleichgewicht der Gewebe mit den so genannten „Hauptquartieren” der Vitalität des Patienten in unmittelbarer Kommunikation. Das Pferd, die Zügel und der Reiter werden zu einer Arbeitseinheit; genau so werden Patient, Gewebe und Osteopath zu einer Funktionseinheit.

Praktische Übung

Hauptziel dieser Übung ist, das Instrumentarium auf das Objekt einzustellen und die Fähigkeit zu entwickeln, diese funktionelle Osteopath-Patient-Einheit zu diagnostischen und therapeutischen Zwecken zu etablieren.

Der erste Schritt in diese Richtung ist die Untersuchung eines direkt zugänglichen anatomischen Objektes, etwa des Unterarmes.

Der Student sitzt bequem seinem Partner gegenüber, der seinen Unterarm mit der Beugeseite nach oben vollkommen entspannt und bequem auf den Tisch legt. Der Student legt seine Hand auf den Unterarm und konzentriert sich mit maximaler Aufmerksamkeit auf die Palmarflächen seiner Finger. Seine andere Hand legt er simultan auf die Tischoberfläche und palpiert diese mit den Flächen seiner Finger. Die Ellbogen des Studenten ruhen auf dem Tisch und sein Körper sollte bequem und entspannt sein. Der Student richtet seine Konzentration und Aufmerksamkeit mit geschlossenen Augen durch die Finger hindurch, um sich selbst auf die Oberfläche des Arms des Untersuchten einzustellen. Nach und nach lenkt er das „palpatorische Auge” auf die Gewebeschichten der Oberflächen, dann der Weichteile und schließlich der Knochen. Er wendet sich von Gedanken an Strukturen ab und ist bestrebt, sich selbst auf die innere Funktion einzustellen. Variieren Sie die Intensität der Palpation, achten Sie aber immer darauf, dass die Finger ins Gewebe des Untersuchten „eingestimmt“ sind.

Mit dem Schließen der Augen werden äußere, ablenkende Stimuli reduziert und es ist einfacher, die erforderliche intensive Konzentration aufzubringen. Halten Sie diese Konzentration für mindestens fünf Minuten aufrecht und erforschen Sie die innere Funktion der Extremität unter Ihrer Hand. Erinnern Sie sich, dass bei dem Untersuchten keine nach außen hin sichtbare Bewegung der Arme auftritt. Während Sie die inneren Aktivitäten untersuchen, achten Sie hin und wieder auf die Aktivität in Ihrer eigenen Hand, im Handgelenk, Unterarm und Schulter. Beeilen Sie sich bei dieser Wahrnehmungsübung nicht. Braucht das Einstimmen schon seine Zeit, erfordert die Wahrnehmung und das Analysieren noch bedeutend länger.

Warum liegt die inaktive Hand auf dem Tisch? Zum Vergleich. Sie hilft dem Studenten, eine Region mit Bewegung von einer bewegungslosen Region zu unterscheiden.

Im zweiten Schritt wird das Sakrum untersucht. Der Patient befindet sich in Rückenlage, entspannt und bequem. Der Student lässt seine rechte Hand unter das Sakrum gleiten, die Fingerspitzen an der Sakrumbasis, der Daumen und kleine Finger jeweils über dem linken und rechten Iliosakralgelenk, das Steißbein ruht im Handballen. Unterarm und Ellbogen des Studenten ruhen bequem auf der Liege. Ist der untersuchende Student groß wird er entspannter sein, wenn er seitlich neben der Liege sitzt. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und machen Sie es sich in Ihrer Position bequem. Schließen Sie die Augen und konzentrieren Sie sich auf die Empfindungen Ihrer Hand. Spüren Sie irgendeine Aktivität an bzw. in ihr? Gibt es irgendeine Bewegung im Zusammenhang mit der Atmung? Falls ja, bitten Sie den Patienten, den Atem anzuhalten und beobachten Sie mit Ihrer Hand, was passiert. Die wahrzunehmende Bewegung bei angehaltener Atmung wurde mit dem sanften Rollen eines verankerten Bootes auf ruhiger See verglichen. Können Sie, wenn der Patient wieder und weiter atmet, die zwei festgestellten Bewegungen unterscheiden? Welche Veränderungen geschehen in der Muskulatur in Hand und Arm des Untersuchers, um die eine oder andere Bewegung wahrnehmen zu können? Nehmen Sie sich, wie bei der ersten Übung, auch für diese viel Zeit. Sowohl Dr. Still als auch Dr. Sutherland haben sich häufig länger mit der tiefgehenden Untersuchung der Gewebe eines Patienten beschäftigt. Was brauchen wir noch, um auf die Gewebe eingehen zu können und bis wir das, was sie uns mitteilen, verstehen?

Zusätzlich zu den beiden in diesem Kapitel beschriebenen praktischen Übungen sollte jede Übungseinheit eine Phase enthalten, in der frühere Übungen wieder aufgegriffen werden. Dazu zählt insbesondere die Palpation eines exartikulierten Knochens mit verbundenen Augen, des gleichen Knochen in situ am lebenden Menschen, mehrerer unbelebter Objekte verschiedener Textur, Form etc. und verschiedene Regionen am lebenden Organismus.

(Falls sich die Gelegenheit ergibt, palpieren Sie Gewebe von Tieren und stellen Sie Unterschiede zu den menschlichen Geweben fest.)

Diese Übungen sind ein äußerst wichtiger Auftakt für das Studium der Kunst der Osteopathie. Sie wurden zur Ausbildung der Instrumentarien entwickelt, die für den osteopathischen Wissenschaftler und Künstler unverzichtbar sind.

Teil IV

„Das Gefühl der Gewebe sticht wie ein Leuchtfeuer hervor, vorausgesetzt wir haben den taktilen Sinn gründlich entwickelt und wissen die Befunde zu interpretieren. Diese Befunde sind genauso Teil der Realität wie objektive Manifestationen, etwa individuelle Symptome oder Laborergebnisse.“ (Carl P. McConnell12)

Im Verlauf der Palpationsuntersuchungen wird ein Fortschritt deutlich, von der palpatorischen Differenzierung, bei der eine unbelebte Substanz von einer anderen unterschieden wird, über die dimensionale Differenzierung mittels Palpation, bei der eine Form von einer anderen unterschieden wird, bis hin zur palpatorischen Wahrnehmung der Motilität, welche die physiologischen Qualitäten eines lebenden Organismus von einem anderen unterscheidet.

Jetzt ist es unser Ziel, uns tiefer mit den physiologischen Manifestationen zu beschäftigen und zu beleuchten, wie sie mit der trainierten, sensitiven Palpation erforscht werden können. In keinem Bereich menschlichen Bestrebens ist das alte Kindheitsaxiom wichtiger „Übung macht den Meister!“ McConnell schrieb 1924: „Hierin liegt die mögliche Finesse ätiologischer, pathologischer, diagnostischer, prognostischer und therapeutischer Befunde, der man sich allgemein nicht mit einer anderen Methode, Messung oder einer Methodenkombination nähern kann. Und immer noch ist jeder und sind alle von uns noch weit, sehr weit vom Anfang entfernt, selbst das meiste herauszuholen.“13

H. V. Hoover versuchte bei seiner Darstellung der Funktionellen Technik den Osteopathen mit den inhärenten dynamischen Qualitäten des menschlichen Mechanismus vertraut zu machen.14 Rollin Becker beschrieb in seiner Studie über Schleudertraumata die Reaktionen dieses dynamischen Mechanismus auf die Verletzungen von außen und wies darauf hin, was zur Wiederherstellung der normalen physiologischen Aktivität dieses Mechanismus getan werden muss.15 In ihrer Publikation The Expanding Osteopathic Concept16 stellte die Cranial Academy die physiologischen Mechanismen und deren strukturelle Basis einzeln dar, bevor sie Beispiele der komplexen Störungen lieferte, die sie kollektiv beeinflussen und simultan mehrere klinische Manifestationen auslösen.

Es ist wichtig, intellektuell zu verstehen, wie diese physiologischen Funktionen wirken und was passieren kann, wenn sie durcheinander geraten. Allerdings ist es jedoch etwas vollkommen anderes, selbst in der Lage zu sein, die Hände auf den Patienten zu legen, die Natur und das Ausmaß der Desorganisation zu analysieren und zu wissen, was getan werden kann, um die normale, unbehinderte, rhythmische Physiologie wieder herzustellen. Unsere Aufgabe besteht zunächst darin, zu wissen, was den Geweben unter unseren Händen passiert ist und passieren wird, daraufhin zu wissen, was dafür getan werden kann und schließlich, die entsprechenden Maßnahmen durchzuführen.

Für die weitere Erörterung dieser tiefgehenden Thematik wird das Thema in drei Abschnitte geteilt. Jeder Teil steht mit den anderen beiden in Verbindung und jeder ist tatsächlich ein integraler Bestandteil des Ganzen. Im letzten Kapitel wurde die vom menschlichen Wahrnehmungsapparat durchgeführte Selektivität beschrieben und die Aufmerksamkeit auf die Unfähigkeit des Bewusstseins gelenkt, mehr als eine Manifestation auf einmal zu untersuchen. So verhält es sich auch bei dem Studium der inneren Rhythmen.

Die Unterteilungen sind:

A. Inhärente innere Motilität

B. Spontane äußere Bewegung

C. Im Inneren eingeschlossene Kräfte und ihr Release

A. Inhärente innere Motilität

Die inhärente Motilität der Herzmuskulatur, genauer gesagt deren Kontraktilität, die einen rhythmischen Kontraktions- und Entspannungszyklus ausführt, solange wie der Mensch lebt, ist ein allgemein akzeptiertes physiologisches Konzept. Die rein muskulären rhythmischen Kontraktionen sind in der vierten Woche der Fötalentwicklung feststellbar.17 Die inhärente Motilität der Gastrointestinalmuskulatur ist ein weiteres, allgemein akzeptiertes, physiologisches Konzept. Die inhärente Motilität des Zentralen Nervensystems ist uns weniger vertraut, da sie der direkten Beobachtung weniger zugänglich ist. Sie wurde jedoch beobachtet und deren strukturelle Basis wurde vor Kurzem enthüllt.18 Gehirn und Rückenmark stehen über Nervenbahnen mit fortschreitend feinerem Durchmesser in unmittelbarer Kommunikation mit den äußersten Grenzen des Körpers. Gehirn und Rückenmark werden von der Zerebrospinalen Flüssigkeit umgeben, umspült und ernährt, die über die perineuralen Lymphbahnen und Kollagentubuli des Bindegewebesystems in engem fluidem Kontakt mit jeder Zelle im Körper steht.19 Die rhythmische Bewegung, die im Unterarm und in der Schaukelbewegung des Sakrum zu fühlen waren, sind nur Projektionen der inhärenten Motilität des Zentralen Nervensystems und der Fluktuation der Zerebrospinalen Flüssigkeit in ihm und um es herum.

Bei dieser Beschreibung wurden die physiologischen Erklärungen auf ein Minimum reduziert, aber die sorgfältige Durchforstung der Bibliografie wird Ihnen einen umfassenden Hintergrund des Konzeptes vermitteln.

Die beschriebene Bewegung wurde bereits im Unterarm beobachtet. Mit was für einer Technik kann dieses Phänomen bewusst erfasst werden? Die untersuchende Hand stellt einen sicheren Kontakt mit dem zu untersuchenden Gewebe her. Achten Sie auf den Ausdruck „dem zu untersuchenden Gewebe“. Hier könnte ein Fragezeichen auftauchen und behauptet werden, dass die untersuchende Hand ja nur in Kontakt mit der Haut gebracht werden kann. Vergleichen Sie diese Untersuchung einen Moment lang mit der Untersuchung eines Patienten, der Kleidung trägt. Falls die Finger tatsächlich nur in der Lage sind, den Stoff an der Oberfläche zu berühren, wie kann der Untersucher sich dann des Zustands des jeweiligen Gewebes des Patienten bewusst sein? Es handelt sich dabei in der Tat um einen komplexen Mechanismus, wobei man sich das fokussierte Gewebe durch mehrere Schichten hindurch mit derartiger Konzentration und Genauigkeit bewusst machen kann, dass die für die aktuelle Untersuchung bedeutungslosen Schichten kaum bemerkt werden.

Für eine informative Palpation ist eine Analyse der beteiligten Techniken erstrebenswert. Der Untersucher muss gleichwertige und gegensätzliche Kräfte zu denjenigen des Gewebes aufbringen, das untersucht werden soll. Der Druck im Augapfel kann etwa geschätzt werden, indem ein Gleichgewicht zwischen dem untersuchenden Finger und dem intraokularen Druck erreicht wird. Der Entwicklungsgrad eines Abszesses kann auf gleiche Weise eingeschätzt werden. Aktion und Reaktion müssen sich entsprechen. Das gleiche Prinzip gilt für die Untersuchung eines jeden anderen Körpergewebes. Um sich auf ein spezifisches Gewebe einzustimmen, muss der eingesetzte Druck auf das Gewebe abgestimmt werden.

Bis hierhin wurden in die Beschreibung lediglich natürliche und statische Gewebe einbezogen. Bevor wir uns der inhärenten Gewebsmotilität zuwenden, kann eine kritische Untersuchung der Technik zur Evaluation des Radialispulses sehr hilfreich sein. Stellen wir uns einen Patienten mit einem systolischen Blutdruck von 120 mm Hg vor. Übt der untersuchende Finger einen höheren Druck als 120 mm Hg aus, wird der Impuls obliteriert. Ist der eingesetzte Druck sehr leicht, vielleicht 10 mm Hg, wird ein schwaches „Murmeln“ eines Impulses feststellbar sein. Er kann tatsächlich beinahe übersehen werden. Wird jedoch der Druck graduell erhöht, sind verschiedene Qualitäten festzustellen, bis der Druck eventuell stark genug ist, um den Impuls zu unterdrücken. Das ist die ursprüngliche Methode der Blutdruckmessung, bevor das Blutdruckmessgerät zur Standardausrüstung zählte.

Kehren wir nun aber wieder zur inhärenten Motilität zurück. Die im Kopf festzustellende Motilität wurde Kranialer Rhythmischer Impuls genannt. Er kann als rhythmische fluktuierende Bewegung definiert werden, die normalerweise 10 - 14 Mal pro Minute auftritt und in jeder Region des Kraniosakralen Mechanismus als Anstieg und Abfallen palpierbar ist, ähnlich, aber nicht genau gleich wie die rhythmische Bewegung der Brustwand bei der Atmung. Der Kontakt muss sicher sein, sanft aber bestimmt, wahrnehmend und nicht obliterierend. Das wird am Besten mit den Palmarflächen der Finger erreicht.

Der erforderliche Druck kann sowohl von Patient zu Patient als auch von Ort zu Ort am selben Kopf variieren. Er liegt etwa bei 60 - 120 Gramm. Die Wahrnehmung dieser Bewegung ist jedoch mehr als eine Frage des Drucks. Es ist eine Frage des „Einstimmens“ in einen Mechanismus, der immer in Bewegung ist. Bei der Pulsuntersuchung konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf einen eingeschränkten Bewegungsbereich, der einen begrenzten Einflussbereich für den untersuchenden Finger darstellt. Nun hingegen muss ein Kontakt mit der Gesamtheit aller Bewegungen hergestellt werden, die unter diesen anderen örtlich begrenzten Bewegungen wie Puls und thorakaler Atmung liegt. Dies entspricht den Gezeitenbewegungen, die unter den lokal begrenzten Aktivitäten der Ozeanwellen liegt. Die Gesamtheit der Bewegungen wird von der ganzen untersuchenden Hand wahrgenommen.

Neurologen haben bei den ersten Untersuchungen des Zentralen Nervensystems entdeckt, dass Temperaturänderungen nur von spezialisierten hitze- bzw. kältesensitiven Nervenendigungen festgestellt werden. Bei Licht sind spezialisierte licht-sensitive Nervenendigungen erforderlich und so weiter. Das gilt für alle Formen von Empfindungen. Keineswegs überraschend ist es daher, zu erfahren, dass der besagte rhythmische Impuls vom bewegungssensitiven Anteil des Zentralen Nervensystems entdeckt werden muss, insbesondere den Propriozeptoren. Zuvor wurden die Propriozeptoren primär genutzt, den Reflexmechanismus des Körpers über die Position der verschiedenen mechanischen Körperteile und deren Bereitschaft zur Aktivität zu informieren. Jetzt ist es notwendig, sie zur Informationsweitergabe über den Bewegungszustand der Struktur, mit der der Kontakt hergestellt wurde, zu trainieren. So müssen die Propriozeptoren, die zuvor mit der inneren Umgebung des strukturellen Mechanismus beschäftigt waren, jetzt dazu erzogen werden, Berichte über die Änderungen der dynamischen inneren Umweltfaktoren eines externen Organismus weiterzuleiten, die entstehen, wenn der Mechanismus des Untersuchers auf den des Patienten eingestimmt wird.

B. Spontane Bewegung

Hippokrates lehrte vor über 400 Jahren vor Christus, dass innerhalb des menschlichen Körpers zur Korrektur bereite Instanzen existieren, die aktiv werden, wenn der normale Zustand eines Organismus durcheinander gebracht wird.iv Verhielte es sich anders, zeigte sich der menschliche Körper entstellt, deformiert und desorganisiert. Im 20. Jahrhundert nach Christus wurde der Begriff Homöostase verwendet, um einen Zustand zu beschreiben, der zwar variieren kann, aber innerhalb eines engen Spektrums durch die koordinierten physiologischen Prozesse aufrechterhalten wird, die jedes Körpergewebe interagierend involvieren. Mechanische, fluide, chemische, elektrische und magnetische Änderungen finden kontinuierlich statt, um die Homöostase aufrecht zu erhalten. Im vorliegenden Diskurs geht es allerdings nur um die mechanische Phase. Diese mechanische Homöostase kann jedoch als eine Art Generalschlüssel für die Homöostase des gesamten Mechanismus beschrieben werden. Das effiziente Funktionieren aller anderen Phasen der automatischen Stabilisation hängen von ihr ab. „Mit dieser anerzogenen Taktilität hält der Osteopath den Schlüssel zu den Laboratorien in der Hand, die den Körper nähren.“ (Dr. Sutherland)

Die inhärente rhythmische Bewegung des Zentralen Nervensystems, der fluktuierende Rhythmus von Zerebrospinaler Flüssigkeit, Lymphe, Inter- und Intrazellularflüssigkeiten und die rhythmischen Bewegungen des Kraniosakralen Mechanismus wurden als Bewegungen beschrieben, die persistieren, bis das Leben aus dem Menschen weicht. Ihre Frequenz, Rhythmus, Amplitude, Form oder Kraft können sich ändern, aber sie müssen weiter bestehen. Ist die Behinderung der Bewegung groß genug, wird der Körper sie mit äußeren Bewegungen kompensieren, wie etwa bei einem Baby mit einem unbeweglichen Sakrum, das seinen Kopf anschlägt, wenn es schlafen sollte, oder beim post-traumatischen Syndrom, bei dem der Patient mit einem blockierten Sakrum die Bewegung von Kopf und Nacken spürt, sobald er im Bett liegt. Die homöostatischen Kräfte streben konstant danach, die normale Physiologie wiederherzustellen und wenn dass sie behindernde Hindernis entfernt werden kann, wird die Normalisierung eintreten können.

Eine sehr einfache Analogie dafür ist das verwickelte Telefonkabel. Während der Hörer aufliegt, können sich die Verwicklungen nicht verändern; jeder Versuch ihn mittels „direkter Handlung” zu entwirrenv, erscheint sinnlos. Zwar wird das akribische Entwirren Drehung für Drehung zumindest teilweise zum Erfolg führen, aber es ist äußerst mühsam, arbeitsintensiv und zeitaufwendig. Eine einfachere Methode besteht darin, den Hörer vom Apparat zu nehmen und ihn hängen und ausbaumeln zu lassen. Während das proximale Ende des Anschlusskabels festgehalten wird, entwirren die normalisierenden inneren Kräfte das Kabel, bis es den Neutralpunkt durchläuft. Dann wird es sich in entgegengesetzter Richtung entwirren, um den Neutralpunkt erneut zu passieren, dieses Mal zu einem geringeren Ausmaß. Das wiederholt sich einige Male, bis letztendlich der Prozess der Entwirrung stoppt und der Hörer ruht. Die Rotation, positiv oder negativ, wird nicht aufhören, bis alle „unphysiologischen” Muster beseitigt sind. Kommt die Bewegung an ihr Ende, wird das Kabel entwirrt sein. Das ist das gleiche Prinzip, mit dem der menschliche Körper auch seine mechanischen Störungen korrigieren will.

Der menschliche Körper besitzt eine feine integrierte, dynamische Struktur, bei der jede Einheit sich in enger Beziehung mit jeder anderen bewegt und ebenso funktioniert. Obwohl sich die mechanischen Störungen des menschlichen Körpers daher sehr komplex gestalten, ist das Behandlungsprinzip so einfach wie der Umgang mit dem verwickelten Telefonkabel. Ein Beispiel mag das veranschaulichen: Ein Patient ist aus einer Höhe von ca. 3,5 m mit solcher Kraft auf Beton gestürzt, dass am rechten Fuß mehrere Fußwurzelknochen gebrochen waren. Die Brüche wurden zunächst von fachkundigen Orthopäden versorgt und nach gebührender Zeit berichtete der Radiologe, dass Heilung und Ausrichtung gut verliefen. Dennoch war es für den Patienten einfach weiterhin viel zu schmerzvoll, den Fuß zu belasten. Schambein, Iliosakral- und Lumbosakralgelenke wurden „korrigiert”, aber der Patient konnte immer noch nicht gehen. Eine Osteopathin übte mit ihren Händen einen ganz sanften Zug auf den Fuß aus. Innerhalb weniger Sekunden rotierte und entwirrte sich der Fuß, kurz darauf folgten der Unterschenkel im Kniebereich und schließlich das gesamte Bein ab dem Hüftgelenk. Schließlich beruhigte sich das Bein nach einem bemerkenswerten Spektrum spontaner Bewegungen. Eine ähnlich spontane Entwirrung trat auch in der anderen unteren Extremität auf, bis auch dieses sich beruhigte. Seit dieser Erfahrung im Jahre 1957 geht der Patient schmerzfrei. Diese Art von Aktivität ist die Basis für eine akkurate strukturelle Korrektur der artikulären, membranösen, ligamentären und Faszien-Strains, an welcher Stelle sie auch auftreten mögen. Die Korrektur ist akkurat, da die Veränderung, der Normalisierungsprozess, von den inneren Kräften her erzielt wird und nicht durch äußere Kraftanwendungen geschieht. Solange irgendein Strain besteht, werden diese Kräfte sich weiterhin in Form von Bewegung manifestieren, ebenso wie sich das verwickelte Telefonkabel solange entwirrt, bis eine perfekte Balance vorliegt.

Es gibt zwei Ausdrucksformen für diese spontane Bewegung. Während sie von außen her relativ unterschiedlich erscheinen, kann man bei näherer Untersuchung feststellen, dass sie sich grundsätzlich entsprechen. Wir haben bereits die sichtbare Bewegung einer Extremität erwähnt. Diese Art der Entwirrung kann bei jedem Gelenk oder allen Gelenkgruppen stattfinden, etwa an Kopf und Nacken, Regionen oder Segmenten der Wirbelsäule, Phalangealgelenken oder einer Extremität und sogar am gesamten Körper. In allen Fällen liegen die Vermittlungsstrukturen für Bewegung, die Muskeln, Ligamente und Faszien, an der Außenseite der ossären Strukturen. Die zweite Manifestation dieser spontanen Bewegung geschieht innerhalb des Kraniosakralen Mechanismus. Diese Bewegung ist nicht als aktive Bewegung eines Teils in Relation zu einem anderen sichtbar, von einem geübten Osteopathen dennoch leicht zu palpieren. Sie repräsentiert eine Bewegung, die von inneren membranösen Systemen angetrieben wird, etwa der Falx cerebri, dem Tentorium, der Falx cerebelli, der spinalen Dura mater mit ihren verschiedenen Ausläufern. Nun bestehen aber Verbindungen zwischen den inneren und den äußeren Vermittlungsstrukturen, sodass häufig nach außen hin sichtbare Bewegungen in der Peripherie produziert werden, während im Innen der Release der Strain-Muster stattfindet.

Die Technik, um diese Kraft nutzbar zu machen und sie zum Einsatz bringen, ist für alle Körperregionen grundlegend die gleiche. Der Behandler sollte sich zunächst auf den Patienten einstimmen, sodass die inhärente innere Motilität des Patienten untersucht und analysiert werden kann. Anschließend sollte er diese Bewegung in Richtung der Barriere begleiten, in die es sich am leichtesten bewegt und dort sanft, aber bestimmt einschränken. Nach und nach wird die Motivation einer anderen Bewegungsrichtung spürbar, ein innerer Impetus, sich in eine bestimmte Richtung zu bewegen. Der Maschinist geht mit ihm mit, ohne ihn einzuschränken bzw. zu lenken. Dies kann in Abhängigkeit von der Komplexität des beteiligten Läsionsmusters von ein paar Sekunden bis zu 15 Minuten oder sogar darüber hinaus weitergehen. Nicht selten wird ein Teil des Körpers durch ein Bewegungsspektrum hindurchgetragen, das weit über das Spektrum der freiwillig ausgeführten Bewegung hinausgeht. Die Bewegung kann einen schmerzvollen Bogen erreichen, aber die Bewegung wird weitergehen, insofern der Patient in der Lage ist eine freiwillige Muskelspannung zu inhibieren, bis hin zu einer inneren Balance bei dem die inhärenten Kräfte wieder durch einem einfachen, sanften Rhythmus, ohne irgendeine Dominanz einer direktionalen Kraft über eine andere repräsentiert werden. Diese Bewegung kann sowohl innerhalb des Kranialen Mechanismus als auch in distalen Körperregionen beobachtet werden. Die Bewegung innerhalb des Kranium kann spontane Bewegungen in anderen Körperregionen aktivieren und beide werden solange weiterlaufen, bis der besagte Balancepunkt bzw. eine „Balancierte Spannung“ aufgebaut ist. Derartige Bewegungen können selbst bei gelähmten Extremitäten eines Hemiplegikers nach Apoplex auftreten. Sie entstehen nicht in einer aufgrund Poliomyelitis gelähmten Extremität. Derartige Beobachtungen werfen viele Fragen auf, welche die Autorin an dieser Stelle nicht beantworten kann. Wie Dr. Sutherland feststellte, kann man sagen, dass die innere „unfehlbare Potency” eine inhärente Motilität bewirkt, um eine mechanische Homöostase einzurichten und aufrechtzuerhalten.

Die Begriffe „Balancierte Spannung“ und „Balance“ implizieren nicht notwendigerweise Normalität oder die Vervollständigung des Korrekturprozesses. Sie weisen jedoch auf eine Vervollständigung dieser speziellen Phase des Prozesses hin. In der darauf folgenden Phase wird das Gesamtmuster des Körpers die stattgefundene Veränderung reflektieren. „Ausbalancierte Membranspannung” kann als „der präzise Punkt im Bewegungsspektrum der kranialen Gelenkmechanismen, an dem die einwirkende Spannung in alle Richtungen ausbalanciert wird“ beschrieben. Die Definition kann erweitert werden, um alle Anhänge der Dura mater und die Strukturen der Faszien im gesamten Körper einzuschließen. Dieses Funktionskontinuum der membranösen und faszialen Schichten ermöglicht dem Osteopath die Untersuchung einer Körperregion, um sich Gewissheit darüber zu verschaffen, in welchem dynamischen Zustand sich der gesamte Mechanismus befindet. Darüber hinaus kann der Osteopath durch Aktivierung der inneren Kräfte dem Mechanismus ermöglichen, einen Zustand von Harmonie, Rhythmus und Balance herzustellen.

C. Inhärente Kräfte und deren Release

Der Kraniale Rhythmische Impuls repräsentiert einen sehr feinen Indikator der Vitalität bzw. die Fähigkeit des Patienten zur Regeneration. Der Begriff „Vitalität“ wird bewusst gewählt.

Zwar fehlt eine physiologische Definition für ihn, dennoch ist es ein spezifischer Begriff bezogen auf die Lebensfähigkeit innerhalb eines bestimmten Organismus. Er sollte nicht mit der Messung einer organischen Erkrankung oder Schädigung verwechselt werden. In der Tat kann die Vitalität stark sein, wenn eine organische Erkrankung komplex ist, oder sie kann sich auf dem Tiefpunkt befinden, wenn eine geringe oder gar keine organische Erkrankung festgestellt wird. Dies könnte es erklären, warum es diejenigen gibt, die einerseits unter kleineren Verletzungen leiden, wohingegen andere ein schweres Trauma überleben. Ein Beispiel dafür liefert ein 17-jähriges Mädchen, das durch Zerebralparese teilweise verkrüppelt ist und sich dennoch hoch intelligent, sensitiv, bewusst und fleißig zeigt. Die Situation zu Hause ist etwas unglücklich, der Vater ist tyrannisch, gleichzeitig unaufmerksam, überfürsorglich und dennoch ohne Verständnis für die ehrgeizigen Bestrebungen und den inneren Antrieb seiner Tochter. Eine lebenslange Prädisposition zu Atemwegs-Infektionen führt bei ihr häufig zu Verschlimmerungen, insbesondere unter emotionalem oder mentalem Stress. Geht emotionaler Stress einem solchen physischen Zusammenbruch voraus, liegt meist ein schwacher schwer feststellbarer rhythmischer Impuls vor. Der Wert ändert sich nicht signifikant, aber der Untersucher fühlt diese Bewegung in erster Linie als eine nach außen gehende Bewegung anstatt der normalen schwankenden Bewegung. Bei dieser speziellen Patientin kann der schwache rhythmische Impuls mehrere Tage festgestellt werden, bevor sich körperliche Symptome manifestieren. Andererseits wurde während einiger ernsthafter Lungeninfektionen ein starker selbsterhaltender, rhythmischer Impuls festgestellt und der Erholungsprozess schritt rasch voran.

Dabei handelt es sich um keinen Einzelfall. Die Erfahrung hat gezeigt, dass bei einem energetisch schwachen Befund ein nach außen gehender rhythmischer Impuls als Warnung betrachtet werden kann. Sobald die Bewegung umgedreht wird und das Energiedepot „wieder aufgeladen” ist, kann sehr bald eine drastische Verbesserung festgestellt werden.

Traumatische Erfahrungen, die unter dem Sammelbegriff „Schleudertrauma“ zusammengefasst werden, bringen ebenso tiefe Änderungen der inneren Energiemuster mit sich. R. E. Becker20 beschreibt in seiner Darstellung des Schleudertraumas die Wirkungen plötzlicher Änderungen des Momentums, dem der Körper unterliegt, wenn bei einem Verkehrsunfall ein Auto von hinten, vorne oder seitlich beschädigt wird. Die Geschwindigkeit des sich bewegenden Fahrzeugs während des Aufpralls liefert jene Energiemenge, die dem Körper plötzlich zugeführt wurde. Darüber hinaus „wirkte bei diesen Menschen ein Kraftbogen auf deren Gesamtmechanismus, Faszienschichten, spinale und kraniale Mechanismen, Sakrum und Viszera ein. Jeder dieser Faktoren trägt zu den Einschränkungen des Patienten bei, aber gleichzeitig müssen sie in ihrer Gesamtheit zusammen mit dem hinzugefügten Kraftbogen betrachtet werden. Es ist als wäre das komplette Muster ein eingeprägtes oder verfestigtes Bild einer Schleudertraumaverletzung”.

Untersucht man bei diesen Patienten den Kranialen Rhythmischen Impuls, ist es in vielen Fällen möglich, die Kraftrichtung der verantwortlichen Verletzung zu unterscheiden. Hier sei ein Beispiel angeführt. Eine Frau mittleren Alters stellte sich mit einer langen allgemeinmedizinischen Vorgeschichte einschließlich Verdauungsproblemen, chronischer Müdigkeit, Kopfschmerzen, Colitis, Bursitis, Sinusitis und Allergien vor. Kurz gesagt, es handelte sich um die Anamnese einer über dreißig Jahre lang chronisch Erkrankten. Bei der Befragung nach Traumata zeigte sich, dass sie als junges Mädchen zwei Treppenabsätze hinuntergefallen war, mit der Folge einer leichten Gehirnerschütterung. Bei der Untersuchung des Kranialen Rhythmischen Impulses hatte der Untersucher das Gefühl, als ob der Impuls stark zum rechten Pektoralgürtel und nach außen in die Schulter zog. Die Richtung konnte modifiziert werden, aber es stellte sich immer wieder das gleiche Muster ein. Die Patientin wurde gefragt, ob sie sich an einen Unfall erinnert, bei dem eine Kraft auf ihre rechte Seite einwirkte. Einige Wochen später erinnerte sie sich an den Unfall. Im Alter von 8 Jahren fiel ein viel schwereres Mädchen auf sie, als sich versehentlich ein Wagen in Bewegung gesetzt hatte. Sie landete mit ihrem rechten Arm und der Schulter unter dem Mädchen. Das Energiemuster wurde beim ersten Besuch verändert und als sie wiederkam, sagte sie, dass sie sich „besser als die Jahre zuvor fühle”, obwohl immer noch etliche Beschwerden weiter bestünden. Sie erschien energiegeladener und war viel fröhlicher und philosophischer. Als die Behandlung weiterging und die strukturellen Muster korrigiert wurden, stellte sich ein Gesundheitszustand ein, den sie nie zuvor erlebt hatte. Was dies ermöglichte, war jedoch der Release des Energiemusters.

In diesem Kapitel wurde der innere inhärente Rhythmus untersucht, diejenige spontane Bewegung, welche die Balancierte Membranspannung und die Wahrnehmung der Kräftemuster bewirkt, die sich infolge von Traumata in den Körper prägen. Demjenigen, der den Unterschied zwischen den Farben Gelb, Rot und Orange noch nicht einschätzen kann, ist schwer mit Worten zu vermitteln, was mit diesen drei Farben gemeint ist. Ähnlich verhält es sich bei den beschriebenen Bewegungen und Kräften innerhalb des menschlichen Körpers. Zwar stehen sie in vergleichbar enger Beziehung zueinander, dennoch handelt es sich um genauso verschiedene Modulationen der palpatorischen Empfindung wie gelb, rot und orange verschiedene Modulationen der visuellen Empfindung sind. Verfolgen wir diesen Vergleich noch etwas weiter. Farbe ist die Manifestation von Lichtwellen einer bestimmten Wellenlänge. Alle Farben sind Teile des Lichts. Sobald Licht beim Durchtritt durch ein Prisma aufgesplittet wird, manifestieren sich die Farben, aus denen es besteht. Wird das Prisma entfernt, verschwinden die Farben und es bleibt reines Licht als Manifestation einer bestimmten Energieform übrig. Die drei Bewegungsarten, die in diesem Kapitel beschrieben wurden, könnten auch als drei Phasen einer Energieform beschrieben werden.

Das kindliche Auge hat Schwierigkeiten nah verwandte Farben auseinander zu halten. Durch kontinuierliche Beobachtung reift es und lernt den Unterschied zwischen gelb und orange sowie orange und rot zu erkennen. Mit weiterer Übung wächst es heran, um feinste Variationen von Schattierungen der speziellen Farben auseinander zu halten. Der Osteopathie-Student muss am Anfang seiner Ausbildung praktisch lernen, wie er Knochen, Muskeln oder Viszera palpiert, nach und nach lernt er zwischen einem gesundem, einem verspannten oder einem schlaffen Muskel zu unterscheiden; graduell lernt er, dass sich ein harter maligner Tumor und ein fester, gutartiger Tumor unterschiedlich anfühlen. Er lernt auch, die Bewegung der Brustwand zu palpieren, Ungleichmäßigkeiten in der Bewegung des Thorax zu erfühlen und das feine Schwirren oder Vibrieren eines Bronchial- oder Vokalfremitus wahrzunehmen. Im Laufe seines weitergehenden Studiums des menschlichen Körpers wird er die inhärente rhythmische Bewegung und ihre Abweichungen wahrnehmen, er wird die dynamische Mechanik der Homöostase erkennen und er wird in die Bewegung bis hin zu den Energiefaktoren eindringen, die möglicherweise von außen auferlegt wurden.

Palpation kann nicht über Lesen oder Zuhören erlernt werden, sie kann nur durch Palpation erlernt werden. Dazu werden wir jetzt eine wahrnehmende, erforschende Palpation entwickeln. Lassen Sie uns schauen, was wir unter unseren Händen finden, anstatt das zu suchen, was dem Lehrbuch nach dort sein sollte. Jeder einzelne Patient ist bei jedem einzelnen Besuch ein neues Territorium, das es zu erforschen gilt. Selbst die beste Anamnese ist unvollständig. Häufig vergessen Patienten traumatische Erlebnisse oder sie beschließen, sich nicht daran zu erinnern. Aber der menschliche Körper führt ein Notizbuch über signifikante Verletzungen, das der Osteopath lesen kann – insofern er die Sprache der Gewebe versteht. Solange die Erkrankung unterdrückt anstatt geheilt wird, gilt es behindernde Narben zu entstören. Man muss sie erkennen und verstehen. Ebenso hinterlassen tiefer emotionaler Schock, Sorge oder Ärger ihre innere Prägung. Sensitive wahrnehmende Hände können deren Auswirkungen mit fortwährendem Nutzen für den Patienten finden und beeinflussen.

Darin besteht die Kunst und Wissenschaft der Osteopathie. Obwohl schon über 63 Jahre vergangen sind, kann ich immer noch mit Dr. Stills Worten sagen, ”die Osteopathie steckt noch in ihren Kinderschuhen, es ist ein großes neu entdecktes Meer und bis jetzt sind wir nur mit den Gezeiten an der Küste vertraut.”21

Lassen Sie keinen Tag vergehen, ohne einen Schritt weiter zu forschen.

Die gesammelten Schriften von Viola M. Frymann, DO

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