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Regen - der Gleichmacher. Ob der Blick dahin ging oder dorthin: Die Stadt glänzte in allen Grautönen. Und selbst der Himmel, der ein helleres Grau zeigte als die Straße und die Hauswände, so zu glänzen wie sie, das schaffte er nicht. Die tausend Fahrräder rundum, sie waren unterwegs genau wie gestern. Aber nun trugen sie Zipfelmützen in grün oder weiß, rot oder grau. Auch in kaiserlichem Gelb und in himmlischem Blau. Sogar die gestern noch so frühlingshaft schick dahergefahren waren, die Mädchen und jungen Frauen, auch sie waren durch ihre Regenumhänge zu Dreiecken mit Zipfelmützen geworden. Darunter nackte Beine und Sandaletten. Und nirgendwo mehr eine Lenkstange zu sehen, weil der Umhang bis über die Hände reichte.

"Viele Pekinger", erklärte der örtliche Führer, "haben zwei Fahrräder. Mit dem einen fahren sie von daheim bis zur U-Bahn-Station und lassen es dort stehen, mit dem anderen fahren sie von einer anderen U-Bahn-Station zu ihrer Arbeitsstelle. Das sind natürlich nur alte Fahrräder, die so abgestellt werden. Gute und neue Fahrräder würden schnell gestohlen." Und zeigte seinen Gästen die Riesenpulks von abgestellten Rädern. Und die freuten sich, daß sie endlich eine Erklärung dafür hatten, warum sie so selten ein modernes Rad mit Schaltung sahen.

Happy fiel auf, daß er viel mehr Beschriftungen in englischer Sprache sah als bei seinem letzten Besuch in China. Auf den riesigen Werbeplakaten draußen wie auch im Hotel. Ausgerechnet die Sprache der Nation, die ihnen am meisten angetan hat, ausgerechnet die machen sie zur zweiten Landessprache. Und dachte an die beiden Opiumkriege Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als England das ganze Land mit Opium verseucht hatte und sich bei diesem barbarischlukrativen Geschäft nicht vom chinesischen Kaiser behindern lassen wollte. Wenn der Rauschgifthandel vom Staat selbst betrieben wird, dann gibt es keine Rettung. Mittelamerikanische Staaten machen das im Moment ja nach, wenn auch versteckter. Aber noch schicken sie keine Truppen aus, die ihren Absatzmarkt mit Gewalt offenhalten. Peking haben die Briten erobert, unterstützt von französischen Verbänden. Den wunderschönen Sommerpalast des Kaisers haben sie so gründlich zerstört, daß er nicht mehr aufgebaut werden konnte. Und jetzt lernen die Chinesen mit Eifer die Sprache ihrer Peiniger. Aber sie rächen sich auf eine sehr sublime Weise, fiel Happy auf. Oft schreiben sie ganze Sätze so, daß sie wie ein einziges Wort aussehen, fast schon gälisch wirken: myhomeismycastle.

Mir kann es ja gleich sein. Weil es einen neuen Sommerpalast gibt? Der steht jetzt auf dem Programm, das genügt. Von dem letzten richtigen Mann auf dem chinesischen Thron erbaut, von der berühmt-berüchtigten Kaiserinwitwe Cixi. Was für eine Frau. Als Konkubine dritten Ranges an den Hof gekommen, riß sie schließlich alle Macht an sich und führte nahezu fünfzig Jahre lang für ihr unmündiges Kind und dann für einen Kindkaiser dieses Riesenreich, das volkreichste der Welt. Erst im Jahre 1908 ist sie gestorben, also kürzlich, und doch lebte sie wie durch Jahrhunderte von uns getrennt. Da hängen alte Fotos in den fast leeren Räumen des neuen Sommerpalastes. Sie zeigen die Regentin Cixi stets in einer so steiffeierlichen Haltung, die Leute um sie herum müssen noch im heißesten Sommer gefroren haben. Daß der Fotograf die Aufnahmen nicht verwackelt hat vor Zittern, ist fast ein Wunder.

Ein Innenhof nach dem anderen, ein Holzbau mit schöngeschwungenem Dach nach dem anderen. Und der Regen machte die Besucher so gleich wie das Pflaster. In Regenhäuten und unter Schirmen huschten sie hierhin und dahin. Die Kameras gezückt. Dabei war nicht viel zu sehen. In der geräumigen Remise einige Kutschen und Sänften, die einmal größten Luxus signalisierten, so wenig bequem sie den Besuchern auch vorkommen mochten. Und dazwischen ein Auto, ein Benz. Der Führer erklärte: "Das was das erste Auto, das es in China gegeben hat. Es ist Jahrgang 1898, und es gehörte der Kaiserinwitwe Cixi. Sie hat auch einmal dringesessen, aber gefahren ist sie damit nie. Der Grund war: Sie legte Wert darauf, daß sie immer die Höchste war. Immerhin war sie ja die wichtigste Figur am Hofe. Vor ihr durfte man nur knien, aber nicht sitzen. Als der Fahrer sich ans Steuer setzen wollte, gab es ein Donnerwetter. Er sollte sich hinknien, und zwar ihr zugewandt. Damit war die erste Ausfahrt schon beendet und blieb auch die letzte."

Trotz der Absperrung versuchte Happy, sich in ihr breites Bett hineinzuversetzen, von dem aus sie den Opernvorführungen im gegenüberliegenden Theater zugeschaut und zugehört hatte. Ein pagodenartiger Bau, in dem auf drei offenen Bühnen übereinander gegen ihre Langeweile angespielt wurde. 384 Mann stark soll ihr Eunuchenensemble gewesen sein. Aber eine allmächtige Frau und Eunuchen, da bringt es auch die Menge nicht.

Wieso all die vielen Einheimischen hier herumspazieren könnten, wollte jemand aus der Gruppe wissen. Und der Führer verwies darauf, daß schließlich Sonntag sei. Sonntag als der Tag des Herrn, überlegte Happy, in einem ganz und gar unchristlichen Land ein wahres Kuriosum. Genau wie die Beschriftungen, die immer Zeitangaben vor Christus und nach Christus machen. Aber das mit dem Sonntag als arbeitsfreiem Tag gibt es ja erst seit der Gründung der Volksrepublik im Jahre 1949 - nach Christus. So hat Karl Marx diesen Menschen hier doch etwas Positives gebracht, ein typisches Mitbringsel aus seiner frommen Vaterstadt Trier. "Allerdings haben nicht mehr alle Leute am Sonntag frei", schränkte Herr Li ein. "Inzwischen wird der freie Tag der Woche immer mehr auf verschiedene Tage verlegt, damit nicht alle Leute gleichzeitig zur Arbeit fahren oder gleichzeitig in die Parks gehen." Und erklärte auf Nachfrage, daß in China die Sechs-Tage-Woche herrsche, aber schon ein bißchen verkürzt auf eine fast Fünfeinhalb-Tage-Woche. Und: "Nein, einen Urlaubsanspruch haben die meisten nicht, aber die Lehrer und Studenten doch und einige andere auch schon."

Penni sah mal wieder betont zufällig zu Happy herüber, und ihr Blick sagte unübersehbar: Nichts für meiner Mutter Tochter. Er nickte ihr zu. Doch viel mehr als die Arbeitsverhältnisse beeindruckten Happy wieder diese sonderbaren Steine. Überall zu Mauern und künstlichen Felsen zusammengefügt, oft auch als Einzelstücke aufgestellt. Immer so bizarr wie möglich, mit sonderbaren Auswaschungen.

"Fast möchte man von Auswüchsen sprechen", sagte er zu der adretten Familie, die zufällig neben ihm herging.

"Ja", meinte der Vater, "wenn ich nicht wüßte, daß es sich tatsächlich um Auswaschungen handelt. Weil sie die kuriosesten Felsbrocken systematisch gesucht und sie dann für einige Jahre in fließende Gewässer gelegt haben, damit sie Gestalt annehmen."

"Hier haben sie doch tatsächlich einzelne besonders wildzackige Steine auf steinerne Podeste gestellt. Und mitten in das Höfchen. Da diesen Riesenbrocken, den haben sie auf einen Sockel gesetzt, den sie kunstvoll mit stilisierten Wellen geschmückt haben. Jetzt schwimmt der Fels davon wie ein Ozeandampfer."

"Warum nur hat man den Stein so selten behauen? Marmor hatten sie doch auch zur Verfügung. Warum haben sie also nicht eine Kultur der Plastiken entwickelt wie die Griechen und Römer?" Der kunstinteressierte Vater.

"Ich nehme an, weil sie das nicht wollten." Seine Frau.

"Und warum wollten sie nicht?"

"Eine Kultur, die ihre Pracht in Stoffen und Holz und gebrannten Ziegeln vortrug, die hatte vielleicht zuviel Hochachtung vor dem gewachsenen Stein, vor der Natur."

"Aber ist das nicht zu sehr aus unserem heutigen Blickwinkel gesehen, vielleicht doch schon zu sehr mit Naturschutz und Umweltbewußtsein und so fort verkleistert", gab Happy zu bedenken.

"Immer dasselbe Problem bei der Würdigung der Leistungen früherer Generationen." So der pensionierte Richter, der sich ihnen angeschlossen hatte. "Meist ist das Bewundernswerte gerade das, was uns Heutigen selbstverständlich ist." So kauten sie auf den Steinen herum, die wortlos im Weg liegen blieben.

Regen wird im Sommerpalast erst schön. Wie ihn jedes Höfchen anders einfärbt. Wie seine strenge Schraffur umspielt wird von der leichtesten Architektur. Wie er in schlanken Bäumchen zerbröselt. Der gedeckte Rundgang hat ihn schon erwartet. Zum Drippeltrommeln. Auch der Teich, der jeden schweren Wassertropfen mit einem Aufspritzer belohnt. Ein Diamantgeglitzer. Und auf den Lotosblättern wiederholt es sich unzählbar: Die Blumenkelche, wie sie sich füllen, allmählich, und dann in sanfter Verneigung ihre Last abgeben, an die demütigen Blätter darunter und in die dankbaren Kelche. Regen, das allem aufgesprühte Finish, läßt die Bilder ringsum eine andere Sprache sprechen.

Dreiviertel Kilometer lang sei der gedeckte Gang die Seelinie entlang, erklärte der Führer. Und er führe zu dem großen Marmorboot, auf dem die Kaiserinwitwe Cixi mit Vorliebe ihren Tee getrunken habe. Die Gemälde über den Köpfen der hier entlang Wandelden zählten nach Tausenden. Alles Darstellungen aus der Geschichte und der Literatur Chinas. Wie das zusammengeht, wunderte Happy sich: Geschichte und Geschichten. Das ist wahre Überlegenheit. Ob erfunden oder erlitten, wo ist da der Unterschied, wenn es nur heftig empfunden werden kann. In dem Moment beeindruckte es ihn kaum noch, daß der See künstlich geschaffen war - Wasser gehört nun einmal zu einem chinesischen Park, genau wie Berge und Felsen. Und auch der vollendete Schwung der Siebzehn-Bogen-Brücke dort drüben, hinter den Kähnen und Booten voller Menschen mit bunten Regenschirmen, auch dieses steinerne Meisterwerk verblaßte für ihn hinter den Abbildungen über ihm. Die so wenig zeigten und doch so viel zu sagen hatten. Daß er plötzlich verstand: Bilder nur mit den Augen zu sehen ist zuwenig. Ich müßte wissen, um verstehen zu können - um sie richtig schätzen zu können.

Im Hotelshop hatte er eine deutschsprachige Broschüre gefunden, in der aus dem Leben der chinesischen Herrscher berichtet wurde. Da erzählte ein Liu Guilin auch einiges über die Kaiserinwitwe Cixi. Über diese Frau, die mit Raffinesse und Rabiatheit eine Bilderbuchkarriere am kaiserlichen Hof gemacht hatte und sich im Alter in der Kunst der Geldverschwendung von keinem übertreffen ließ. Bei den Palasteunuchen hatte sie wegen ihrer Strenge nur der alte Buddha geheißen. Aber so streng war sie sich selbst gegenüber nicht. Zwar betonte sie immer wieder: Solange ich noch da bin, wird es niemandem erlaubt sein, den Ausländern nachzueifern. Aber sich selbst gab sie gern Dispens von diesem Prinzip. Schon das erste Auto in China legt dafür Zeugnis ab. Ein anderes Zeugnis gehört heute zu den Beständen der Nationalgalerie in Washington, nämlich ein gemaltes Porträt der Kaiserinwitwe. Eine junge Amerikanerin namens Katherine Augusta Carl hat sie gemalt, und die Gelegenheit dazu hatte ihr die Frau des amerikanischen Botschafters in Peking verschafft. Dabei war Cixi zunächst entrüstet über den Vorschlag, sich malen zu lassen. War es doch seit jeher üblich, daß nur von verstorbenen Personen Porträts angefertigt wurden. Aber der Hinweis, daß das Bild in Amerika öffentlich ausgestellt werden sollte, reizte doch zu sehr. Sich dem ganzen amerikanischen Volk und damit der Welt draußen bekannt machen, warum nicht? Auch die große Kaiserinwitwe gehorchte ihrem kleinen Ich.

So ließ Cixi die junge Malerin zu sich in den Sommerpalast kommen, um sie kennenzulernen. Eine Begegnung, die wider Erwarten so glücklich verlief, daß die Malerin gleich mit der Arbeit beginnen konnte. Als Wohnung wurde ihr eine nahe beim Sommerpalast gelegene Villa samt Dienerschaft zur Verfügung gestellt. Das war im Jahre 1903. Die Kaiserinwitwe war damals schon fast siebzig. So ist es nicht erstaunlich, daß ihr die Sitzerei und das Stillhalten bald zuviel wurden. Erst recht die Zumutung, sich jedesmal dasselbe Kleid anziehen zu lassen. So mußten zwei Prinzessinnen abwechselnd für sie Modell sitzen, bis die Arbeit am Gesicht begann. Es dauerte und dauerte. Nach acht Monaten war Cixi die Sache leid, das Porträt aber noch längst nicht fertig. Da konnte sie ihre Zweifel an der künstlerischen Kompetenz der jungen Amerikanerin nicht länger für sich behalten. Gegenüber der Malerin blieb sie zwar freundlich, hinter ihrem Rücken aber tat Cixi sie als unfähig ab. Dafür gab es scheinbar handfeste Beweise: Wie die Malerin weiße Perlen gemalt hatte, einfach unmöglich: hellblau und rosa schimmernd. Der chinesische Realismus hatte halt noch nie die Wirkung der Lichtbrechung berücksichtigt. Und dann der Fehler, daß die eine Gesichtshälfte dunkler war als die andere. Die alte holländische Malerei war auch nicht nach China gekommen. Und daß Fräulein Carl zuletzt ihren Namen unter das Bild der Kaiserinwitwe gesetzt hatte, ihren profanen Namen unter das Porträt der Herrscherin im Land der Mitte, das war einfach unerhört. Da mußte einiges verbessert werden.

Die junge Malerin machte wunschgemäß einiges, was als Korrektur aufgefaßt werden konnte, verstand es im übrigen aber, mit einer solchen Verbindlichkeit über alle Schwierigkeiten hinwegzugehen, daß sie schließlich fast schon die Freundin der Kaiserinwitwe wurde. Immer wieder mit Geschenken verwöhnt und schließlich fürstlich belohnt, konnte sie das Jahr Arbeit in Peking als vollen Erfolg verbuchen. Cixi auch. Ist die ehemalige Konkubine doch in der Welt draußen die bekannteste Herrscherfigur Chinas geworden, bedeutender als alle vier Kaiser, die sie neben und über - und auch unter - sich akzeptieren mußte während ihrer fast fünfzigjährigen Herrschaft.

Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman

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