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Einen Fellachen am Nilufer gesehen, wie er die Archimedische Schraube drehte. Und der war ganz sicher nicht vom Fremdenverkehrsamt dort hingesetzt worden. Aber einen zweiten mit dem Gerät fand ich nicht. Nie mehr auf der ganzen langen Nilfahrt. Die geniale Erfindung des alten Griechen hatte ja auch einen gravierenden Nachteil: Man mußte arbeiten. Mit Dieselmotoren das Wasser auf die Felder hochzuhieven, ist viel bequemer. So tacker-tuckerte das neue Ägypten uns tagein und tagaus seine Begleitmusik zur Reise in die Vergangenheit.

Von heute statt von vorvorgestern waren auch die Passagiere. Die aus den anderen Gruppen waren darin nicht anders als meine. Oh Gott, auf dem Oberdeck zum Mithörer werden zu müssen. Das Schwyzerdütsch einer peinlich enthusiasmisierten Dame. Aus zwanzig Metern Entfernung war es ohne all die kurios anmutenden Kehllaute und bestand nur noch aus einer fröhlichen Aneinanderreihung von Vokalen. Beinahe wie Vogellaut, nur lauter. Und mit einem Husch-Husch ließ es sich nicht beenden. Und der Mann im Korbsessel, mit den Füßen auf der Reeling. Den Kopf ließ er dauernd hin und her wackeln, mit geschlossenen Augen. Wohl eine Art Kreuzfahrt-Hospitalitis. Manchmal wäre ich am liebsten mit geschlossenen Augen und Ohren herumgelaufen.

Ganz anders der Anblick der Einheimischen am Ufer. Einige aus meiner Gruppe sprachen von den Eingeborenen. Warum hätte ich das korrigieren sollen? Unser MS Nil Monarch fuhr nicht nur strahlendweiß und fünfsternig protzig an ihnen vorüber, es fuhr auch durch ihre Augen. Wie diese Männer dastanden. So monumental in ihren Galabijas, die sich leicht im Dauerwind bewegten. Die einzige Bewegung, die sie zeigten, während wir durch ihre Köpfe dieselten. Reise durchs Unbekannte.

Da war der Verkehr in Kairo für uns schon nur noch eine schaurige Erinnerung. Wo jeder herrisch hupte und niemand darauf reagierte. War ja auch unmöglich, zu orten, woher welches Hupen gerade kam. Ein Straßen und Ohren verstopfender Autoverkehr, der in derselben Weise ablief, wie der Fußgängerverkehr auf der Hohestraße in Köln: Völlig ungeregelt und sehr langsam, aber reibungslos. Macho-Stolz an Macho-Stolz wie Kot-Flügel an Kot-Flügel. Oder am Hosenbein. Jeder weiß, daß der andere es im allerletzten Moment doch noch vermeidet, ihn zu berühren. Deshalb dreht man sich nicht einmal als Fußgänger auf der Straße nach den Hupvehikeln um. Nur weg hier, hatte ich mir immer wieder gesagt.

Der Nil dagegen mit seinem unendlich gemächlichen Dahinziehen. Das ließ keinen aus der Gruppe unbeeindruckt. Immer nur der Fluß. Und wenn dann auch noch die Wolkendecke darüber in derselben Weise immer gleich bleibt, die Wolken im Fluß und der Fluß wie die Wolken, dann wird beim Blick zum Ufer hinüber das bißchen Grün zum dünnen Strich, wie zur Mittellinie einer Spielkarte, die ich umdrehen kann, beliebig umdrehen: Wasser über Wasser und nichts sonst, - und kein Tropfen fällt herunter.

So schnell konnte Sightseeing in Liveseeing umschlagen: Der einzelne Fellache am Ufer auf seinem Esel. Hinter ihm eine Frau mit einer großen Last auf dem Kopf, zwei kleine Kinder neben sich. Da hielt der Mann seinen Esel an, und sein Gefolge stoppte fast gleichzeitig hinter ihm. Als der Mann es sich einfallen ließ weiterzureiten, recht eilig auf einmal, mußten die Frau mit der Last und die Kinder rennen, um geziemend dicht hinter ihm zu bleiben.

Unser ägyptischer Führer Khaled sollte uns während der ganzen Reise begleiten. Das ließ die ägyptische Partnerfirma sich nicht nehmen. Warum hätte ich mich dagegen wehren sollen? Der Mann akzeptierte mich als Kollegen. Und wie. Gleich am zweiten Tag überzog er mich mit seinem besonderen Vertrauen: Ist ja nicht viel Prächtiges an Frauen, was du mitgebracht hast. Nur die eine mit dem kurzen dunklen Haar, die könnte brauchbar sein. Hast du gesehen, was die in der Bluse hat? Und die hat eine Einzelkabine gebucht. Das sagt doch schon alles. - Da hatte ich mir gesagt: Die mußt du retten.- Oder ist das nur eine nachgeschobene Erklärung? - Jedenfalls hat er mich damit Penni aufgedrängt. Dabei brauchte ich die späten Abende in meiner Kabine für die Vorbereitung der Besichtigungen des nächsten Tages. Ich mußte doch immer noch etwas mehr zu sagen haben als der ägyptische Führer. Die Karten und Brochüren und Pläne auf dem nicht benutzten zweiten Bett ausgebreitet, die wichtigsten Zahlen und Namen herausgepickt und mir eingeprägt, ein paar weiterführende Gedanken kurz angedacht: Das Kurzzeitgedächtnis bestückt. Nachher, als mir dazu die frühen Nachtstunden fehlten, wegen Penni, mußte Khaled bei den Führungen um so mehr bringen: Die Strafe für seinen Appetit anregenden Hinweis auf Penni.

Das Schiff hatte angelegt. Zwei Taue zum Land hin und ein Balken, der auf Abstand hielt, dazu ein schmaler Steg von der breiten Eingangstür des Schiffes geradewegs in die Gemüsefelder. Das war Beni Hassan. Der Vollmond stand hoch. Trotzdem absolute Schwärze um den Lichtprotz Schiff herum. Wir waren zu hell, um den Mond richtig zur Geltung kommen zu lassen. Wer sich selbst übertrieben illuminiert, sieht rundum nichts mehr. Vielleicht sollte ich mir das merken. Ach, Unsinn. Runter vom Schiff und ein Stück am Ufer entlang, hatte ich mir gesagt. Einmal allein, ins tiefdunkle Land hinein. Und langsam, ganz allmählich wurde mir der Vollmond zu einer Mitternachtssonne. Die zwei großen Himmelslichter, einander so ähnlich und doch so verschieden, die Zwillinge, die schon immer die Menschen in Erstaunen versetzt haben, nur zu verständlich, daß sie ihnen zu Göttern wurden. In der Ferne, dort, wo den Tag über das begleitende Gebirge war, sah ich einzelne Lichter. Auf der anderen Seite des Stromes sogar noch mehr. Und von drüben kam auch Gebell von einem Hund. Das waren meine Orientierungspunkte für den Weg zurück. Am nächsten Morgen habe ich überrascht festgestellt: Der Mond hat in der Nacht die Seiten gewechselt, die fernen Lichter sind erloschen. Ein Esel begrüßte den neuen Tag - oder was auch immer - mit seinem klassisch kuriosen Feldgeschrei. Sei mir gegrüßt, Platino. Da und dort weiße Kuhreiher im Grün, längst nicht mehr auf der Suche nach einem Krokodil, längst ohne jede Ahnung wohl, daß ihre Vorfahren sich so besonders gut mit denen verstanden haben, die jetzt verschwunden sind. Aber wie schwer wird es einem auch gemacht, sich in die Lebensweise seiner Vorfahren hineinzuversetzen. Das Geschrei der Esel gilt halt immer dem neuen Tag.

Nur nichts gegen die grauen Freunde. Nichts eleganteres als die Eselgangart. Wenn sie gehen dürfen. Und auch wollen. Ja, da zeigt sich wahre Eleganz, wenigstens was die Vorderbeine angeht. Dieses delikat zerbrechliche Abknicken und graziöse Ausgreifen. Die Arbeit der Hinterbeine dagegen ist wie bei den meisten Menschen: Ein Dahinstaken bloß, ein belangloses.

Belanglos wie die Videovorführung in der Schiffsbar: Ägypten zeigte sich in seiner vollen Größe. Viertausend Jahre Geschichte in Stein, auf einem kleinen Fernseher manifestiert für circa neunzig Kulturtouristen. Ein Kommentartext wie von Bronzetafeln abgelesen. Und darunter gelegt, manchmal leider auch darüber, eine wagnerianische Gewaltschwallmusik. Da halfen nur ein paar Fetzen vom Papiertaschentuch, schnell in die Ohren gestopft. Und die Augen zu. Ich brauche nur hinzuschauen, wußte ich bald, wenn es besonders laut wird. Das heißt: Achtung, der nächste Höhepunkt. Tusch, langwallender. Voller Einsatz: Alles Blech, dabei sah ich nur Sand und Steine. Etliche von uns saßen so ungünstig seitlich vom Fernseher, daß sie nur lange Gesichter sehen konnten, auch lange Gesichter machten, lauter Echnatons. So verdreht dasitzend wie die Figuren auf den Wandbildern vor der Phase der realistischen Darstellung, die dieser Pharao ausgelöst haben soll. Eine Ägyptenreise prägt halt.

Plötzlich ein Ruck durch das Schiff. Das kam nicht vom nächsten Tusch, das kam von einer Sandbank, wurde mir klar. Wir hatten aufgesetzt. Das war seit Tagen schon zu erwarten. Immer mal wieder hatte der Schiffsführer den Motor gedrosselt, sich nur ganz langsam durch das seichte Wasser vorwärtsgewagt, wie mit spitzem Bug den Weg ertastend. Ein geschicktes Schlingern in dem breiten Flußbett. Dabei den Mäander in den Nil gezeichnet. Die Fahrrinne, diese imaginäre Schiene, er hat sie schließlich doch verloren. Aber dann nur ein wenig Ruckeln hin und her, ein Aufdröhnen der Maschine, danach waren wir offenbar wieder frei.

Auf dieser Reise hatte ich oft Gelegenheit, meine Gedanken von der Leine zu lassen. Und meine Augen. Ob man durch die letzten staubigen Ecken eines Landes streicht oder ob man beinah alles über dieses Land und seine Leute Geschriebene liest, genauso gut kann man ja das Flechtwerk eines Korbsessels betrachten, mit Erobererblick jedem gebogenen Stöckchen nachgehen, an jedem Halteband entlangtasten, das sinnvolle Hin und Her ablesen, das handwerkliche Geschick abschätzen, die jahrhundetealte Erfahrung aufsaugen, die geheiligte Tradition - und auch den schon beginnenden Niedergang, die Auflösung, unübersehbar, nicht reparierbar, da und da und dort: Das Vergehen. Der Korbsessel als die Signatur des Lebens.

Peinlich, bei meinen Kurzvorträgen immer wieder die Erklärung geben zu müssen: Das steht heute in London, in Paris, in Turin, in Berlin. Immer mit einem vorwurfsvollen Unterton, pflichtschuldigst, weil ein Ägypter dabei ist, der deutsch versteht. Und nicht sagen dürfen: Ja, wären nicht die meisten Kunstschätze Ägyptens im vorigen Jahrhundert geraubt worden, vor allem von Franzosen, Engländern und Italienern, würden dann wohl heute so viele Europäer hierhin reisen, in den Dreck, die Hitze, das Durcheinander und Geschrei?

Die vom Schiffspersonal, die jede Gelegenheit und auch etwas mehr wahrnahmen, um auf der schmalen Außenkante des Schiffes herumzulaufen, sie revanchierten sich für die Neugier, mit der die Touristen ihr Land und ihr Leben ausspähten. Sie warfen mehr schnelle als scheue Blicke in die großen Fenster der Kabinen. Immer in der Hoffnung, einmal doch ... Kinderaugen vor dem Aquarium: Wie kriegen die Fische ihre Kinder? So lehrreich sie sind, auch Studienreisen haben immer eine Doppelfunktion. Und auch das gehört zu dem Problematischen an diesem Treiben.

Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman

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