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13.

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Tell el Amarna, das heißt heute nur noch Bonzengräber. Waagerecht in die Felsen des Gebirgszuges hineingetrieben, in den Kalkstein, der uns auf der Ostseite des Flusses begleitet hatte. Aton, die Sonnenscheibe mit ihren Strahlenhändchen, mit der ganzen Pharaonenfamilie, dazu die Höflinge und die Soldaten, alle so überraschend realistisch in den Stein gehämmert. Fast schon zu realistisch, beinahe wie Karikaturen in ihren wilden Bewegungen, mit ihren dicken Wohlstandsbäuchen. Vielleicht waren diese Bilder tatsächlich witzig gemeint. Ein Herrscher, der es fertigbringt, seinem Volk eine neue Religion überzustülpen, dem ist zuzutrauen, daß er die Menschen nur als Karikaturen sehen kann. Diese flachen Reliefs. Eigentlich blöde, daß ich die übliche Erklärung kolportiert habe, die Handwerker hätten nicht soviel Zeit gehabt, tiefer zu arbeiten. Wegen der kurzen Regierungszeit ihres Herrschers. Heute würde ich das anders deuten: Die Flachreliefs zeugen von einer Hoch- und Spätkultur, die sich bereits selbst überlebt hatte. Nur noch ein schnellstreifender Blick für die anderen Menschen, weil man voll mit sich selbst beschäftigt ist. Kein tiefergehendes Interesse mehr an den Mitmenschen. Modern times. Wenn auch längst vermodert.

Geht es mir denn anders? Ich kann mir kein Vollplastischwerdenlassen der Figuren um mich herum leisten, habe ich Penni erklärt. Und es hat mir besonderen Spaß gemacht, sie mit diesem Bandwurmwort zu erschrecken. Das war irgendwann gegen Ende der Reise. Als sie sich wunderte, wie oberflächlich ich mit den Leuten umging. Viel zuviel Zeitaufwand, viel zuviel Gedanken- und Gefühlsverschwendung, habe ich gesagt. Ich liebe die Leute eindimensional. Nur bei dir ist das was anderes. Bei der Gelegenheit muß ich das mit dem Sexdimensionalen gebracht haben. Was ihr gefallen hat. Da kam keine Widerrede mehr, als ich sagte, für mich seien die Leute rundum nur Folien meines lchs. Sie sollen lachen, wenn ich einen Scherz mache, und staunen, wenn ich sie vor eine Sehenswürdigkeit stelle, und mir abnehmen, was ich ihnen erkläre. Mehr nicht. Denn eine Welt voll runder Charaktere, wo bliebe dann ich? Ja, ich bin ein typischer Vertreter unserer Spät- und Bachrunterkultur. Ich kultiviere den Slim-line-Kontakt. Das ist die Beziehung unserer Zeit. Wir kommunizieren ja noch, aber am liebsten so, daß wir dabei unser Gegenüber am ausgestreckten Arm aus dem Fenster halten. Je mehr Distanz, um so besser. Telefon, Telegraf, Telefax, Television und gesamttellurisches E-Mailing: alles in einem grotesk vertraulichen Tele-Pathos. Wie Penni einen anstaunen kann. Alle Löcher aufgerissen, als wollte sie den bewunderten Mann gleich inhalieren.

Unten im Tal der breite Streifen Nichts, der aus der Nähe gesehen doch was war. Nämlich das Übliche: Sand und Geröll. Und dann hart am Rand des Grünstreifens: Der Palast der Königin Nofretete. Da mußte man allerdings beide Augen zudrücken und nach innen schauen. Weil da nichts mehr war außer einem großen Rechteck mit Resten von Lehmziegelmauern. Ein paar Steinkonsolen dazwischen, auf denen einmal Säulen gestanden haben müssen. Mit einem Stacheldrahtzaun um das Ganze. Das war alles. Wenn man Zeit hätte, am Zaun stehen zu bleiben, kam mir damals in den Sinn, man könnte zusehen, wie die bloß in der Sonne gebackenen Ziegel unaufhaltsam weiter zu Nilschlamm zerfließen. Aber der Fahrer hupte ungeduldig, das Schiff wartete. Leben nach Fahrplan.

Wieder auf den offenen Anhänger hinter dem Traktor geklettert. Unser Geschichtsshuttle. Die schreiende Kinderschar blieb um uns herum, auf nackten Füßen genauso schnell wie der Traktor. Sie hielten aus Schilf geflochtene flache Körbchen hoch, ein wilder Konkurrenzkampf um die kaufunlustigen Touristen. Unsere unausgesprochene Frage: Was soll ich damit anfangen? Gegen ihre unausgesprochene Frage: Warum seid ihr so reich und wir so arm? Schließlich lege ich einem Mädchen ein Bonbon in das angebotene Körbchen. Ein in buntes Papier eingepacktes, schönes großes Bonbon. Das Mädchen, vielleicht zehn oder elf Jahre alt erst, es bleibt stehen, plötzlich ruhig, schaut mich an mit diesen walddunklen Augen, die noch nie einen Wald gesehen haben, schaut den fremden Mann an, der es herausgehoben hat aus der Schar der anderen, bleibt zurück und winkt mir nach. Und ich winke zurück und bilde mir für einen kitzelnden Augenblick ein, einen Menschen glücklich gemacht zu haben. Um mich danach immer wieder fragen zu müssen: Warum nur habe ich ihr nicht das Körbchen abgekauft? Ob ich es brauchen konnte oder nicht, das war doch kein Gesichtspunkt. Sie brauchte das Geld. Für ihre Familie. Und ich hätte das bißchen Geld gut entbehren können. Ja, ich habe mich diesem Mädchen gegenüber schofel benommen. Unentschuldbar schofel. Und dabei zu denken, daß dieses kleine Erlebnis für sie möglicherweise eines von den Erlebnissen gewesen ist, die ein Leben lang im Gedächtnis bleiben. Immer dieser fremde Mann auf dem Anhänger hinter dem Traktor, der sie auswählt aus der ganzen Schar von Kindern, der ihr in die Augen schaut und ihr ein Geschenk macht. Im Laufe der Jahre wird das Geschenk immer größer, der Blick in ihre Augen immer vielsagender, und eines Tages werde ich schuld daran sein, wenn sie unglücklich ist mit ihrem Mann: Weil der ihr nicht die Aufmerksamkeit schenkt, die der Fremde ihr geschenkt hatte. Damals.

Muß ich mir das vorwerfen? Was kann ich dazu, daß ich so vielen Frauen besser gefalle als andere? Weil ich ein Strohfeuer bin? Nein, nein, das ist es nicht. Weil ich halt besser bin als andere. Deshalb. Und daß sie durch mich zu anspruchsvoll werden, zwangsläufig, daß sie niemals mehr etwas ähnlich Gutes finden wie mich, ihr Pech. Denn ich bin einmalig.

"Halt dich zurück, Odysseus!"

Was ist das? Das kannst nur du sein, Penni. Nur du nennst mich Odysseus. Aber wieso kannst du mit mir sprechen, Penni? Einige Reihen weit weg von mir, zur Tarnung.

"Ich bin nicht Penni, nein."

Ist das die Stimme der göttlichen Athene, die mir stets hilfreich zur Seite tritt, wenn ich in Gefahr bin?

"Nein, Odysseus, da bist du auf dem falschen Dampfer."

Aber wer ist denn da und spricht mit mir, ohne sich mir zu zeigen? Daß es mir eiskalt um den Kopf faßt. Vielleicht die Frischluftdüse da oben, die nicht richtig zugedreht ist. Das werden wir gleich haben.

"Dein Schöpfer spricht mir dir, Odysseus."

Mein Schöpfer? - Also du selbst, Zeus oder wie immer ich dich nennen soll?

"Nein, nicht Zeus ist es, der dich zur Ordnung ruft, Odysseus. Sondern der Autor, der dich geschaffen hat, sagt dir: Hüte dich vor der Selbstüberschätzung! Laß dich nicht dadurch täuschen, daß ich mir so viel Mühe mache mit dir. Wie leicht könnte ich dein Innerstes nach außen kehren und zeigen, daß du im Grunde genommen nicht anders bist als alle anderen."

Hm.

Die vielen unterschiedlichen Gesichtspunkte einer Ägyptenreise. Und täglich wurden es mehr. Wer hatte da von einer Renaissance des Islam gesprochen? Die drei heiligen Geräusche des Islam, sie waren doch nicht mehr auf die Reihe zu kriegen. Das Plätschern des Wassers, ja, das gab es noch, wenn auch das Wasser mit Motorlärm auf die Felder hochgehoben wurde; auch das Lachen der Frauen mochte es noch geben, für den Fremden leider nicht zu hören; aber das Klimpern des Geldes? Nichts ging mehr. Seit etwa zwei Jahren, so mußte ich meinen Leuten erklären, ist die Inflation so dramatisch, daß es kein Kleingeld mehr gibt. Nicht eine einzige Münze kriegte man in die Hand. Dafür dreckige Geldscheine bis hinab zu 25 - mein Gott, was hatten die denn dort? Nein, nicht Yuan. - Peseten, Rappen, Dinare, Pfund, Kopeken? Nein, lauter Irrwisch-Assoziationen. Es ging um Piaster. Besser gesagt: Früher war es mal um Piaster gegangen. Eine längst zu klein gewordene Einheit. Denn die Piaster, sie entsprachen nach offiziellem Wechselkurs nur noch halben Pfennigen. Jetzt habe ich dreimal an sie gedacht, das ist fast schon so gut wie eine Mumifizierung: So kann auch die schwächste Schwundwährung auf ein Fortleben in einer besseren Welt hoffen.

Der runde Achtertisch im Speisesaal des MS Nil Monarch, an dem ich saß, wurde schon bald zur Arena. Weil wir in sogenannter bunter Reihe saßen und die Kellner - oder richtiger: Servierjungen - uns beim Servieren mehrmals tänzelnd umrundeten, um den Ansprüchen der Courtoisie gerecht zu werden, erst die Damen, dann die Herren, zuerst die älteren, dann die jüngeren. Darüber wurde das Essen regelmäßig kalt, ehe alle acht alles auf dem Teller hatten, was ihnen zustand. Kein Vergleich mit der genialen chinesischen Sitte, alle Platten und Schüsseln auf das Karussel zu stellen, auf diese große runde Scheibe, von der sich jeder nimmt, was er braucht. Bei Spaghetti Bolognese kam es zum Aufstand: Der alte Anwalt beklagte sich, daß er schon wieder als letzter bedient werde: Ich fühle mich ungerecht behandelt, jammerte er. Der immer etwas zu großartig auftretende Kleinverleger mit dem Spitzbauch ließ alles wieder zurückgehen, schrie: Kalt! Bis ich den Servierknaben klarmachte, sie sollten vergessen, was sie gelernt haben, und einfach der Reihe nach das Essen auftragen, weil das wesentlich schneller gehe. Diese verständnislosen Blicke. Schon stand ich da als derjenige, der nicht weiß, was sich gehört. Im übrigen war der Effekt der Neuerung, daß nun stets bei dem kleinen Dicken angefangen wurde, damit der nicht wieder schreit: Kalt! Und bei mir oder bei dem alten Anwalt schloß sich der Kreis. Die Methode, sich rabiat durchzusetzen, die der Kleinverleger anwendete, hatte eindeutig den Sieg davongetragen, über das weinerliche Verlangen des Anwalts nach Gerechtigkeit wie auch über meine praktische Konzilianz. Ich sah uns wieder feststecken, meine Zeitgenossen und mich, in dem allgemeinen Dilemma mit den unterschiedlichen Maßstäben für das alltägliche Verhalten, die wir von unseren Vorgängern geerbt haben. Da ging Courtoisie gegen Gerechtigkeitsempfinden, Durchsetzungsvermögen gegen Konzilianz. Relikte überkommener Herrenmoral und Christenethik, vermischt mit Aufklärerischem und ungeniert modernem Egoismus. Eine Schlammschlacht.

Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman

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