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3.

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Das scheint Prinzip zu sein: Neun Stunden Flug haben im Fluge zu vergehen. Fast könnte man den alten Ausdruck deshalb von der Fliegerei herzuleiten versucht sein. Es wäre das ja nicht das erste Mal, daß eine dichterische Formel zur platten Realität wird. Happy dachte an die Reisenden, die auch den Flug als solchen erleben wollten. Er wußte, das soll nicht sein. Dafür wurde nicht gezahlt, sondern bloß für den Transport. Auch wenn wir nur um des Reisens willen reisen, ist doch niemals der Weg das Ziel. Der Flieger muß immer schneller fliegen, der Zug immer mehr rapido sein. Und pünktlich starten und pünktlich ankommen müssen sie. Statt des Flugerlebnisses die totale Ablenkung: Erst Zeitungen, Zeitschriften, dann Getränke, Kekse, danach schon bald richtiges Essen und Trinken. Und immer mal wieder Durchsagen, immer mal wieder Blinkhinweise, Klangsignale. Und die Stewardessen mit ihren Wägelchen, wie sie sich durch die engen Gänge drängen, da an eine Schulter stoßen, hier einen Fuß anfahren. Kopfhörerverteilung, Kopfhöreraufsetzen, Kopfhörergedröhne, Senderwahl, Lautstärkewahl, ungeschicktes Herumspielen mit den Fingern im Klappaschenbecher. Und an der Kippvorrichtung des Sessels. Schon gleich nach dem Start das Ausfahren des Projektors, der Werbefilm der Fluggesellschaft. Ein chinoiser Olympiawerbefilm. Und endlich der Spielfilm.

Endlich? Wieso das? Es gab kein Ende. Trotz Weggucken, trotz Weglegen des Kopfhörers, trotz aller Bereitschaft einzuschlafen. Erfolgloses Bemühen. Nur ein zeitvergessenes Dösen. Und schon wieder Wägelchen in den Gängen. Sie schieben die vor sich her, die austreten müssen oder sich einfach nur die Beine vertreten wollen. Dann die Landung. Und damit neun Stunden älter. Jeder und jede. Neun Stunden, die keine Spur hinterlassen haben, nicht in uns und nicht auf dem langen Weg um die halbe Erdkugel. Der Flug vergangen und wir so wie er. Und die Tageszeitung, ungelesen, längst auf dem Boden, unter die untätig unruhigen Füße geraten. Zeitungen vergilben im Fluge doppelt schnell: in der Zeit- wie in der Raumdimension total deplaziert. Wer immer noch glaubt, mit dem Fliegen Zeit zu gewinnen, dem ist nicht zu helfen. Flugzeit ist verlorene Zeit. Und wer nicht versteht, die Lücke, die der Flugplan aufreißt, mit Träumen zu füllen, mit schönen Erinnerungen, der muß mit dieser Leerstelle in seinem Leben weiterleben.

Während des ganzen Fluges kein Wort mit Penni gesprochen, auch unmittelbar vor dem Start nicht, außer der üblichen freundlichen Begrüßung jedes einzelnen Gastes. In neun Stunden kaum mal ein heimlicher Blick zu ihr zurück - sie saß zwei Reihen hinter ihm -, von ihr kaum merklich beantwortet: übervorsichtig.

Als Happy seine Armbanduhr auf die vom Flugkapitän zusammen mit guten Wünschen durchgegebene Ortszeit von Peking umstellen wollte, hatte er die Krone lose zwischen den Fingerspitzen. Meine Uhr macht nicht mit bei diesem Zeitbetrug, na gut. Es geht wohl auch ohne. - Aber, wenn das nur kein böses Omen ist, überlegte er, als er die Krone in sein Portemonnaie steckte. Wenn Zeus' Vater Kronos sich so deutlich verärgert zeigt, dann ist von der nächsten Zeit nichts Gutes zu erwarten.

Über Peking Wolken. Nichts zu sehen. Unter den Wolken gleich der Flugplatz. Und auf dem Flugplatz Smog. Und dann auch bei der Fahrt in die Stadt ringsum nur grauer Dunst und Staub. Da waren die Taxis - Personenwagen und Kleinbusse - eine wohltuende Unterbrechung fürs Auge. „Quittejelb und einfach überall“, wunderte sich eine seiner Reisenden. Das klang unüberhörbar nach Köln. Noch gar nicht lange gebe es die Taxis, aber nun seien bereits rund fünfundsechzigtausend auf den Straßen Pekings unterwegs, erklärte der örtliche Reiseführer, ein Chinese, in bestem Deutsch. Sein Name sei Li, so hatte er sich vorgestellt. Der Einsatz dieser örtlichen Führer, so hatte Happy seine Leute noch vor Fahrtbeginn informiert, sei in China überall Pflicht, hier viel strenger gehandhabt als in anderen Ländern. Mit einem deutlich hörbaren Leider in der Stimme. Die Freude über die Zwangspausen ist meine Sache, hatte er sich gesagt. So komme ich wenigstens mal dazu, einen Gedanken zu fassen.

Tust du das sonst nicht?

Doch, schon, aber man verausgabt sich schnell, wenn man dauernd reden muß. Hin und wieder die Dinge einfach so für sich sprechen zu lassen - und auch mal einen anderen, das ist ein ganz anderes Erlebnis.

Soll denn ich das Erlebnis haben oder nicht eigentlich die Gruppe?

Zugegeben, ich bin dazu da, diesen Touristenhorden was zu bieten, aber letztlich tue ich doch alles, was ich tue, für mich. Damit müssen die Leutchen sich halt abfinden. Und damit basta!

"Die meisten sind staatlich, ja, nur wenige sind privat", war Herr Li immer noch beim selben Thema. "Aber alles perfekt organisiert. Wenn Sie genau hinschauen, sehen Sie: Auf den Seitenfenstern steht jeweils der Kilometerpreis: 1 Yuan oder aber 1,6 Yuan, das ist dann mit Klimatisierung, oder sogar 2 Yuan in einem Fahrzeug der Luxusklasse. Ein Yuan, das ist für Sie nicht viel Geld, umgerechnet im Moment nur etwa 30 Pfennige. Aber für einen Chinesen ist das viel Geld, mindestens so viel, wie für Sie eine Mark ist."

Genug Beispiele vor und neben und hinter ihrem Bus. Fünf, sechs und sieben Taxen hintereinander. Gelb die beherrschende Farbe im Straßenbild, weil außer Taxen und Lastwagen zwischen den Unmengen von Radfahrern kaum andere Fahrzeuge zu sehen sind. "Die Pekinger", so der chinesische Führer, "sagen Sie übrigens bitte nie die Pekinesen." Auch er mit gekonnter Lachpausentechnik. "Die Pekinger sprechen bei dieser Taxiflut von der gelben Gefahr. Schon mal gehört, nicht wahr? Für die Pekinger ist das die gelbe Gefahr, weil die Taxifahrer meist viel zu viele Stunden hinter dem Steuer sitzen und deshalb viele Unfälle machen." Das kam an. So werden historische dumme Sprüche aktuell - und gleichzeitig entschärft, resümierte Happy für sich.

Gleich darauf eine andere Farbe: ein sattes Blau. Das Blau, die Farbe des Himmels, wenn auch nicht mehr über dem heutigen Peking, mußte der Führer zugeben. "Tiefblau wie der Himmel von früher sind die Ziegel auf den Dächern des Himmelstempels", erklärte er, was jeder sehen konnte. Die erste Besichtigung schon gleich nach der Ankunft in Peking. Aha, um dem Personal im Hotel Zeit zu lassen, die Zimmer zu machen, verstand Happy. Der Führer begründete diesen Schnellstart mit der Überfülle an Sehenswürdigkeiten, die Beijing zu bieten habe.

Die unausgeschlafenen Touristen sahen sich überrascht an und um. Noch kannte man sich nicht, da war man schon im Zentrum des alten kaiserlichen China, da erfuhr man, daß das Gelb dem Kaiser vorbehalten war, weswegen die glasierten Dachziegel hier nicht gelb, sondern blau sein mußten. Gab es denn keine anderen Farben? Aber man könnte doch nicht so eine dumme Frage stellen, wo man sich noch so fremd war. Nur die Namen der anderen kannte man. Die standen ja auf der Teilnehmerliste. Aber welche Namen zu welchen Leuten gehörten, das war die Frage. Ein Puzzlespiel. Da die Familie mit den beiden Kindern, klar. Und das da sind die beiden alleinreisenden Herren. Das ist die eine der beiden alleinreisenden Damen, das die andere, viel jünger. Doch die anderen, meist Paare, blieben austauschbar. Verschwanden jetzt auch schon in der Menge von Chinesen, die dem Himmelstempel einen Besuch abstatteten. Nicht allzu ehrfürchtig. Ein wunderliches Gedränge und ein sonderbares Gebrüll.

Von Sehenswürdigkeiten hatte der örtliche Führer gesprochen, doch die eigentliche Attraktion wurden die chinesischen Ausflügler. Da, in der Mitte dieses großen runden Podiums aus weißem Marmor, des Himmelsaltars, auf dem man gerade stehe, erklärte der Führer, sei ein einzelner Stein, der bei der Zahlenmystik, die hier alles bestimmt habe, übriggeblieben sei. Wenn man auf diesem Stein stehe und etwas rufe, dann werde das von allen Seiten von der Balustrade zurückgeworfen. Die Chinesen wissen das, sinnierte Happy. Denn da schiebt sich jeder zur Mitte vor, dicht umdrängt von anderen Besuchern. Und jeder, der meint, in der Mitte zu stehen, brüllt was fürs Echo, das sich vor lauter Gebrüll die Ohren zuhält. Ein Aha-Erlebnis, das so eigentlich nicht vorgesehen war: Daß auf den einzelnen Stein ein einzelner Mensch gehört, mit einem einzelnen Ausruf, das ist in diesem Ameisenstaat offenbar nicht vorstellbar.

Da erlaubst du es dir als westlicher Besucher, stolz auf deinen Individualismus, den Kopf zu schütteln?

Ja, selbstverständlich.

Siehst du, das ist genauso sinnlos.

Irgendwo muß ein Stand sein, an dem man seine Kinder nicht vorbeizerren kann, ohne ihnen eine von diesen Entenhandpuppen zu kaufen, die einen lauten Quietschton machen und dabei die Zunge lang herausstrecken. Ente, daheim im Chinarestaurant immer das beste Gericht. Hier das beste Geschäft: Pro Qietschente eine Familie auf dem Gelände des Himmelstempels.

Weiter in den nächsten Hof, wo sich die Menge an die runde Umwallung drückte wie an die Klagemauer zu Jerusalem. Jeder sprach halblaut vor sich hin und genoß das Wissen, daß man sein Gerede noch an der Mauer gegenüber verstehen kann. Verstehen könnte, wenn es nicht so laut wäre in diesem Hof. Ein gesichertes Wissen, überlegte Happy, das offenbar sowenig auf eine Bestätigung durch Erfahrung angewiesen ist wie das Gerede selbst auf einen Zuhörer. Da darf man sich doch wohl die Frage stellen: Fehlt den Leuten hier der nötige Abstand zu den Dingen? Oder haben sie im Gegenteil schon zuviel Abstand genommen? Und fand für die zweite Antwort gleich die Bestätigung: Bei den Schreinen mit den Namen ihrer frühen Kaiser galt zwar ein striktes Fotografierverbot - als Zeichen der Hochachtung. Doch die Nachfahren der braven Untertanen standen da und schleckten ihr Eis, hatten Baseballkappen auf, manche auch schon Turnschuhe an den Füßen und redeten und knipsten und blitzten wild durcheinander. Und die lebensgroßen Puppenmandarine, die dort als Wächter standen, sahen ausdrucksvoll aufs Volk und wie durch diese ihnen fremden Menschen hindurch. Nur der große Ventilator in der Ecke schüttelte stellvertretend für die steifen Mandarine den Kopf, unermüdlich.

Der örtliche Führer bemühte sich, die Gruppe vor der Halle der Ernteopfer zusammenzutreiben. Um sie wortreich in frühere Jahrhunderte zu versetzen. Sie erleben zu lassen, wie der Kaiser zweimal im Jahr von seinem Palast, der sogenannten Verbotenen Stadt, in farbenprächtiger Prozession, begleitet von rund tausend Hofleuten - Ministern, Beamten und Eunuchen - zum Himmelstempel zog, um dort die Opferzeremonien durchzuführen. Ein Ritus, der für die Bitte um eine gute Ernte wie für den Erntedank vorgeschrieben war. Auf diese wichtige Amtshandlung bereitete der Kaiser sich jeweils eine Nacht lang im Palast der Enthaltsamkeit vor, ohne Speise und ohne seine Frauen.

Gerade war es Penni gelungen, im Gewühl wie zufällig einmal an Happys Seite zu kommen und heimlich seine Hand zu drücken, mit herabhängenden Armen beide. Und dabei ihr geflüstertes: "Guten Morgen!" Und sein ebenso leises: "Guten Abend wär‘ mir lieber."

Der Führer wurde dann aber schnell prosaischer: "Neununddreißig Meter hoch ist die Halle der Ernteopfer, ein wunderschöner Holzbau, der ohne einen einzigen Nagel gebaut wurde." Derweil schlugen die chinesischen Besucher vor dem spitzmützigen Gebäude die Hände überm Kopf zusammen. Allerdings auch wieder nur des Echos wegen. Noch so ein Brauch, den hier jeder kennt, verstanden die Neuankömmlinge. Doch Echo, eindeutig der Gott dieser Lokalität, stellte Happy amüsiert fest, läßt sich nicht hören.

Als sie vom Flughafen losgefahren waren, hatte Happy das Mikrophon genommen und den einheimischen Führer sowie den Fahrer vorgestellt. "Bei der Gelegenheit", hatte er gesagt, "einen guten Rat: Denken Sie immer daran, daß Sie gerade nur soviel von ihren Reiseerlebnissen haben, wie Sie selbst investiert haben. Und damit meine ich nicht das Geld, das Sie bezahlt haben. Auch nicht die Zeit, die Sie dafür aufbringen. Nein, Sie müssen schon mehr investieren, um was davon zu haben, daß Sie jetzt durch China reisen. Man kann sich beispielsweise das Außergewöhnliche klarmachen, daß man selbst gerade hier ist. Wie Goethes sich selbst bestaunender Ausspruch: Auch ich in Arkadien! Das ist eine Art des Genießens. Eine stark ichorientierte, zugegeben. Eine andere Art ist, sich in das Lebensgefühl der Menschen in dem fremden Land zu versetzen, sich hineinzufühlen in diese Gesellschaft. All die Länder und Städte mit den exotischen Namen, sie haben ja nur für uns was Exotisches. Das müssen wir uns immer wieder klarmachen. Für die jeweiligen Einheimischen sind sie Alltag, sind sie Arbeit, lebenslanges Sichabplacken, Krankheit und Not, also Trivialität. Daneben aber sind die für uns fremdartigen Namen für die Chinesen Heimat, sind glückliche Erinnerung und Wehmut und Anhänglichkeit, Geborgenheit - Selbstverständlichkeit. Am besten, Sie versuchen, wo Sie stehen und gehen, sich als einer der Chinesen zu sehen und wie sie zu fühlen. Zufällig hier geboren, hier aufgewachsen und ohne jede Chance, jemals rauszukommen aus diesem Land. Riskieren Sie den lchaustausch. Keine Angst, davon kriegen Sie keine Schlitzaugen."

Und als das prompte Gelächter versiegt war: "Ganz im Ernst. Da gibt es einen einfachen Trick: Im Hotel nicht in den Spiegel schauen, nie mehr, statt dessen den Einheimischen intensiv ins Gesicht. Sie werden überrascht sein, wie schnell Sie sich als einer von ihnen empfinden können. Und schon sagen Ihnen die Dinge, die Sie auf dieser Reise zu sehen kriegen, viel mehr."

Das war für den einheimischen Führer offensichtlich schon etwas zuviel Eingriff in seine Funktion. Mit chinesisch freundlichem Lächeln zwar, aber auch mit betonter Selbstverständlichkeit hatte er Happy das Mikrophon aus der Hand genommen, "Relaxen Sie!" zu ihm gesagt und seine Führung begonnen. Wohinein sollte ich auch sprechen, hatte er sich damit abgefunden. Selbst wenn ich das Mikrophon noch hätte, bei diesen Leuten, kaum gelandet, gibt es schon keinen Zugang mehr, so groß wie ihre Kameras die Augen aufreißen.

Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman

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