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5.

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Am Abend trafen sich etliche der deutschen Touristen in der sogenannten Hotelbar, einer hohen Halle mit ein paar Sitzen um viel Leere herum. Mit einem weißen Flügel als Zentrum, auf beifallheischendem Podest pathetisch aufgeklappt, als wollte er davonfliegen. Aber mit einem Schwarzbefrakten vor ihm, der ihn beidhändig festhielt. Nur ein Vögelchen, das aus Versehen hereingekommen war, flatterte aufgeregt über den Köpfen der wenigen Gäste. Hoch oben, wo die Zigarettenrauchkringel nicht mehr hinkamen, wo ihm nur noch die höchsten Töne der drei chinesischen Sänger in die Quere kamen bei der verzweifelten Suche nach einem Schlupfloch. Nur raus, raus!

Dabei war das ein veritables Opernkonzert, was die abwechselnd auftretenden Sänger boten. Alle drei mit wunderbar vollen Stimmen: Ein schwerer Bariton, ein beinahe schon tenoröser Bariton und ein massiver Baß.

Schade, daß der Beifall so dünn ist, dachte Happy. Sie hätten mehr verdient. Doch mußten die Sänger sich die Aufmerksamkeit des spärlichen Publikums im üblichen Geplapper immer wieder neu erkämpfen. Als dann die ersten Klagen kamen über den heftigen Wind, den die Klimatisierung mache, zog er sich schnell auf sein Zimmer zurück. - Zunächst auf seins. Sollen sie sich doch bedeckt halten. Sollen sie doch ihre Hütchen und Mützchen aufsetzen, wenn sie in der Bar sitzen, diesen blödpraktischen Putz, den sie sich nur ferieninkognito erlauben, immerhin das schönste an diesen Köpfen. Ihr ahnungslosen Leutchen, ihr werdet euch noch wundern. Das bißchen Luftzug ist erst der Anfang. Über den Häuptern der Menschen hier, die sich so amerikanisch international wie unmöglich geben, toben immer noch die alten Götter ihre Kämpfe aus, machen die Dämonen einen Wind, daß einem die Haare zu Berge stehen.

Wie ein Dämon fühlte er sich, als er zu Penni hinüberschlich. Die schon im Bett gelegen hatte. Nur schnell zur Türe gehuscht zum Öffnen und wieder zurück unter die Decke.

"Mein Odysseus."

"Meine Penni."

Happy ruck-zuck aus den Kleidern und als ein böser Dämon ihr die Zudecke weggerissen, sich breitbeinig über ihr aufgebaut. Sie mit seinem rotglotzenden Protz anstarrend. Sie anraunend: "Kennst du das größte der sieben Weltwunder?"

Und sie griff gleich zu: "Na klar, den Leuchtturm von Pharos." Und zog den Protz zu sich herab: "Komm, so komm doch schon, du Weltwunder! Du sollst nur für mich leuchten. Im dunklen, dunklen Wald." Und nahm ihn auf in ihr Gewölle. Das er erst am Abend zuvor als den deutschen Wald bejubelt hatte, dieses unheimlich-düstere Phänomen, von den Deutschen mit Inbrunst besungen, atavistisch geliebt, als einzige Heimat ersehnt und als ewige Überraschung gefürchtet, mutterweich, klafterweise Wärme, märchenhafte Fremde ... Was ihm dazu alles an Unsinn eingefallen war. Jetzt nahm ihm Penni die Luft und damit jedes Wort, wie sie ihn umklammerte. So konnten sie beide nicht feststellen, ob er ihn wirklich erhellte, der Weltwunderleuchtturm den dunkeldeutschen Wald. Aber dieses Leuchten in ihren Augen, das verbuchte Happy machoselbstverständlich für sich.

Als er wieder sprechen konnte, gestand er ihr, es leid zu sein. Penni erschrocken: "Was bist du leid?" Er habe längst jedes Interesse an fremden Ländern verloren, erklärte er schnell. Von einer Begeisterung fürs Reisen ganz zu schweigen.

"Die Namen all der Länder und Städte, die für mich Zauberklang hatten, seit meiner Kindheit mich faszinierten, bei dieser Herumreiserei werden sie zu schlichten Bezeichnungen auf dem Ablaufplan. Ich bin ein Herumirrender, von fremder Hand gesteuert. Wie von den Göttern verflucht. Allem Schönen, das die Welt zu bieten hat, reiße ich mit meinen Kurzbesuchen die Dekoration herunter, doch ehe ich noch dahinterschauen kann, ehe ich was vom fremden Leben mitkriege, bin ich schon wieder weg, schon wieder weiter. Bei der nächsten Destruktionsarbeit. Ein Städte- und Länderzerstörer."

„Aber …“, versuchte Penni ihn zu stoppen. Vergebens.

„Ja, aber, das ist richtig. Aber, muß ich sagen, vielleicht ist ja darin der Sinn des Reisens zu sehen: Daß man Erinnerungen sammelt, daß man wie eine läufige Festplatte hinter allem Neuen her ist, daß man alles abspeichert, abspeichert, damit man irgendwann, in einer leer-lahmen Stunde, etwas hat, das man sich auf den inneren Bildschirm holen kann. Und sei es bloß als Ablenkung. Vielleicht als alter Opa im Schaukelstuhl, beim Blick auf die Geranien auf dem Fenstersims, die wieder dringend Wasser brauchten. Aber man ist zu lahm zum Aufstehen, kommt nicht mehr hoch mit dem Arsch. Dann kann ich den welkenden Blumen von längst verwelkten Reisenden erzählen."

"Ach, Odysseus, so ein Gejammere, das wundert mich. Du warst doch immer so begeistert von der Reiseleiterei."

"Ja, aber allmählich erkennt man, in jedem von uns ist ein Troja zerstört worden. Wir alle kommen aus rauchenden Trümmern. Doch wir holen uns mit unserem blinden Tapsen um die Welt, mit unserem Grapschen nach dem Glück keine Helena zurück."

"Aber warum machst du dann weiter diesen Job?"

Und als Happy auf diesen allzu prosaischen Einwurf nicht gleich antworten konnte, hakte sie schnell nach: "Ein Job, der dich doch nur davon abhält, endlich deine Dissertation fertigzumachen und dich anschließend um eine Position mit guter Bezahlung zu bemühen. Du bist jetzt Mitte dreißig, Odysseus, wie lange willst ..."

"Nein, mit solchem Gerede, Penni, darfst du mir nicht kommen, so gut wie wir uns verstehen. So nicht." Wenn das Bett nicht so schmal gewesen wäre, in dem Moment wäre er demonstrativ von ihr abgerückt.

"Ich versuche ja, dich zu verstehen, Odysseus. Und das ist nicht immer ganz einfach. Aber vielleicht erklärst du mir mal, warum du immer noch weiter Reiseleiter spielst."

"Ich muß reisen. Ich bin einfach lieber unterwegs als daheim."

"Das geht mir auch so."

"Aber mir geht es anders. Nenn‘ es Verrücktheit, nenn‘ es einen Fluch: Nicht, daß ich reisen will, nicht, daß ich reisen möchte, nein, ich muß reisen. Du hast ja so recht mit dem Namen Odysseus. Ich glaube, mir zürnt irgend so ein Poseidon, weil ich den Leuten die Augen öffne in der Art, wie ich ihnen fremde Länder und Städte zeige. Und das, von Poseidon verfolgt zu sein oder auch als ein fliegender Holländer unterwegs sein zu müssen oder als ein Ahasver, das ist ein Fluch."

"Ein Fluch? Ach was. Ich finde, die Sache ist ganz einfach so: Je länger du herumfährst, um Geld zu verdienen, um so länger zieht es sich hin, bis du endlich deinen Doktor hast und eine Position finden kannst, die dir entspricht. Das ist der Teufelskreis, in dem du dich bewegst."

"Viel zu simpel gesehen." Kalt dahingesagt und dabei nun doch ein wenig von ihr abgerückt.

"Das nennst du simpel?“

„Ja, supersimpel!“

„Das enttäuscht mich, Odysseus. Ich wollte dir gerade vorschlagen, daß wir zusammenziehen. Was brauchen wir zwei Wohnungen? Viel zu teuer. Und fürs erste kämen wir beide mit einem einzigen Gehalt aus. Mit meinem. Damit wärst du ausgebrochen aus dem Teufelskreis und könntest endlich ..."

"München als mein Ithaka? - Ach Penni, die Wahrheit ist: Ich kann einfach nicht irgendwo zuhause sein, kann nicht Tag für Tag die Zeitung lesen, die Tagesschau sehen und es hinnehmen, wie ich verarscht werde. Diese totale Wehrlosigkeit gegenüber den Institutionen, gegenüber den Politikern, den Presseleuten. Das könnte ich nicht ertragen. Ich müßte gewalttätig werden, wenn ich das immer mitansehen und hören müßte: Wie die Politiker in aller Welt die Volksgruppen sich gegenseitig abschlachten lassen und dabei was für ihr Prestige tun und nebenher damit ihr Geschäft machen. Wie die Vertreter von Religionsgemeinschaften immer noch glauben, die Menschen in Konflikte und Kriege hetzen zu dürfen. Wie Spitzenverdiener sich mehr um kleinste finanzielle Vorteile kümmern als um notwendige Reformen. Wie der Waffenhandel und der Buchhandel zu angeblich neutralem Marktgeschehen erklärt werden. Wie die Medienherren das Volk mit Gewalttätigkeiten in jeder Form füttern und darüber jammern, es müsse eine neue Moral her. Wie sogenannte Honoratioren sich vergeblich abmühen, ihre feisten Gesichter in Falten zu legen, wenn sie den Leuten raten, den Gürtel enger zu schnallen. Wie sie Weihnachtsreden raunen und Neujahrslügen hecheln. Immer diese schönen Worte, so gestenschwer und inhaltsleer."

"Nun hör‘ aber auf mit dem Geschimpfe, Odysseus. Mein Odysseus. - So lieb, wie du sein kannst." Penni wieder ganz der Wattebausch.

"Ja, du hast ja recht, ich kann ruhig aufhören zu schimpfen. Daß die Politiker und die Geldleute das Gemeinwohl nicht im Auge haben, sondern auf den Lippen, ja, ist dieser kleine Ausrutscher denn ein Wunder bei den verfetteten Gesichtern?"

"Ach, Odysseus, kannst du nicht einmal einen Moment sachlich bleiben?"

"Sachlich? - Ich weiß, daß du genau das Gegenteil meinst. Aber egal. Also ganz sachlich: Aus unserer pluralistischen Gesellschaft ist klammheimlich eine dualistische gemacht worden: Auf der einen Seite die Manipulanten, nämlich Geldleute, Politiker und Publizisten, auf der anderen Seite die Manipulierten, nämlich die Fernseher und Überhaupt-Konsumenten. Auf eine kurze Formel gebracht: Wir sind ein Volk der Lenker und Abgelenkten geworden. - Und in so einer Gesellschaft soll ich Karriere machen? Da bleibe ich doch lieber gleich im Bett. Am liebsten natürlich mit einer Frau wie dir." Womit sie sich endlich wieder einig waren.

Die erste Aufgabe: Die Gruppe in den Griff kriegen. Das heißt zunächst einmal: Sie in den Kopf kriegen. Beim Anflug und noch bei den Besichtigungen am ersten Tag, da waren es nur die Gesichter und bestimmte Auffälligkeiten in der Kleidung, die Happy erkennen ließen: Die gehört zu mir, der gehört zu mir. Nach dem ersten Zusammensitzen war das Gruppenbild ausgemalt, mit wenigen kräftigen Strichen zwar nur, aber doch mit genügend deutlichen Farbklatschen. Die Namen, gut, die hatte er auf der Liste, und die hatten sie ihm auch gesagt beim ersten Händeschütteln. Aber sich sofort die Namen zu merken, davon war Happy längst abgekommen. Ein paar würden sich ihm ganz von selbst schnell einprägen. Weil sie von den anderen öfter genannt werden. Die letzten konnte er meist erst am Ende der Reise mit Namen ansprechen. Schließlich doch noch gelernt, wenn auch nur, um sie sofort wieder zu vergessen. Weil ihm schon die nächste Gruppe bevorstand. Wozu auch die Namen? Wahrhaftig Schall und Rauch. Was sagen Namen über den Menschen aus? Nichts. Und trotzdem ist dem einzelnen Menschen sein Name das Allerwichtigste, sein Allerheiligstes. Wo gibt es wohl etwas mit einer ähnlich großen Diskrepanz zwischen der eigenen Bewertung und der durch andere.

Für Happy stand fest: Die Funktion ist viel aufschlußreicher als der Name, weil sie den Menschen geformt hat, weil sie beinahe alles an ihm erklärbar macht. Nicht alles, nein, nur beinahe alles. Da bleibt ein Rest, der nichts mit der Funktion, mit dem gewählten Beruf zu tun hat. Und das ist wahrscheinlich genau der Teil des Menschen, der ihn für diesen Beruf eigentlich untauglich sein ließ. Was er ein Leben lang zu überspielen gezwungen war.

Zum Beispiel der pensionierte Richter mit seiner Frau. Zwei Menschen in betont konventioneller, schon übertrieben solider Kleidung. Für die beiden stand bereits am zweiten Abend fest: Das größte Peking-Erlebnis war das Opernkonzert in der Hotelbar. Wie sie dagesessen hatten, als hätten sie ein Abonnement für die erste Reihe der Met. Sonntäglich feingemacht. Die Beine gewollt weltmännisch übereinandergeschlagen. Beide. Die Hände im Schoß. Beide. Die Gesichter auf genießerisch geschaltet, bei beiden. Und vier Lippen murmelten jeden Text mit, natürlich auf italienisch.

Ganz anders der Mathematiklehrer aus München, sportlich salopp. Er hatte dauernd damit zu tun, die Redebegeisterung seiner Frau, sportlich schick, zu minimieren. Ihre permanente Kaufseligkeit zu stoppen hatte er offenbar längst aufgegeben. Er verstaute brav in seinem Rucksäckchen allen Klimbim, den sie mit freudigem Aufschrei entdeckt und sofort erworben hatte. Ein vorbildlicher Ehemann. Ruhig und aufmerksam sein, höchste Tugenden dessen, der lernen will, hatte er gesagt. Sie hätten ja noch so viel kennenzulernen. Dabei waren sie schon fast überall, konnten im Gespräch beiläufig Nepal mit Tasmanien und Teheran mit Rio verknüpfen und die Sixtinische Kapelle neben den Kreml stellen, zum gefälligen Vergleich. Sein Fach sei ja so herrlich international, hatte er gesagt, die Mathematik sei überall gleich - und überall nicht zu gebrauchen. Deshalb reisten sie so gern überallhin. Und all das Überall in Superacht festgehalten, selbst geschnitten und kommentiert, jederzeit zugreifbar archiviert. Die ganze Welt auf bayerisch.

Mit seiner alten Schmalfilmkamera konnte er genaugenommen neben dem Computermann aus Schwaben, der mit großer Videoausrüstung auftrat wie ein Kameramann vom Fernsehen, kaum bestehen. Unübersehbar ein Freizeit-Profi. Groß und massig, immer im durchgeschwitzten Hemd, aber die schützende Windbluse genauso immer dabei. Die Rechte permanent nach hinten abgeknickt an der Schulter, weil sie die schwere Kamera hielt. Denn das Gesetz, unter dem er angetreten war, hieß: Immer die Augen offenhalten für den reizvollen, den ganz typischen Take. Den Mund auch, weil er immer was zu sagen wußte. Und dabei ein Ohr für den Sänger in der Bar, den örtlichen Reiseführer oder wen auch immer und eins für seine Frau, die genauso mitteilsam war wie er - im übrigen betont lieb in ihrem Gänseliesellook. Sie habe in ihrer Kleinstadt ein Obst- und Blumenlädchen, erfuhren ihre Mitreisenden. Mit fester Stammkundschaft. Und wie sie das sagte. Man glaubte, den Duft der Blüten und Früchte wahrnehmen zu können.

Die beiden älteren Damen, die zusammen ein Doppelzimmer gebucht hatten, ergaben noch kein klares Bild. Die üblichen kleinen, grauen Schwundmenschen, die ihre Rente verleben. In der Unterhaltung beschränkten sie sich auf die gängigen Höflichkeitsformeln. Sie belästigten nicht mit Privatdingen, und sie stellten keine Fragen. Und beides gekonnt. Ohne die Mitreisenden damit vor den Kopf zu stoßen. Was jahrzehntelange Übung in guten Umgangsformen doch ausmacht. Die beiden Damen hatten den Benimm zu so was wie Tarnkappen ausgebaut. Oder geht das Bild zu weit? Vielleicht könnte man eher von Kaffeewärmern sprechen, sorgsam über die beiden bauchigen Kannen mit dem lauwarmen Rest Muckefuck gestülpt.

Die Familie - Vater, Mutter, Söhnchen von vielleicht zehn und Töchterchen von vielleicht dreizehn Jahren - fiel auf, weil sie die einzige Familie war. Wer eine aus der Mode gekommene Lebensform vorführt, kann noch so leise auftreten, er fällt auf. Die beiden Kinder machten vor allem dadurch auf sich aufmerksam, daß sie keinen Ton von sich gaben, ihre Eltern dadurch, daß sie darin auf die Vorbildfunktion setzten. Die Familie trat als Die Vier Adretten auf.

Dann waren da noch die beiden einzelnen Herren von vielleicht Mitte dreißig, der eine grau in grau auf konservativ getrimmt, mit dezenter Krawatte und goldener Krawattennadel, der andere mit Schnäuzer und auch sonst betont modisch aufgemacht. Beide besonders morgens sehr penetrant duftend. Sie taten zwar so, als wären sie sich fremd. Aber wie der eine tänzelnd zu gehen pflegte, der andere bemüht staksig, und wie sie sich ansahen, manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlten, das schien Happy doch eine intimere Bekanntschaft zu verraten.

Dann gab es da noch ein paar weitere Pärchen, bisher konturlos geblieben. Nur eines von ihnen hatte sich wenigstens schon dadurch bemerkbar gemacht, daß der Mann kein S sprechen konnte und seine Frau überhaupt nicht sprach. Das typische Bild einer schönen Frau, bei der man leider nur fünfzehn Jahre zu spät kommt, fiel Happy sofort auf. Wir sind schon unverschämt, wir Männer. Tun einfach so, als ginge es bei einer Frau immer nur um die Restsüße, wie bei einem Wein. Nun gehört sie diesem Lispelmann. Radiomoderator sei er, hatte er gleich am ersten Tag gesagt. Sein Name sei ihnen ja sicher geläufig. Und seine Zuhörer mußten dieses Wörtchen -icher mit dem nur angehauchten S erst mal als sicher identifizieren. Und dann sich das Lachen verbeißen bei dieser affektierten Sprechweise. Das S sei der Todfeind des Mikrophons, hatte er gesagt. "De-halb mu- e- auch in der Alltag--prache augerottet werden." Den Namen des Radiomannes würde er sich nie merken, war Happy klar. So was lief bei ihm unter Gedächtnishygiene.

Zur Gruppe gehörte auch noch eine einzelne ältere Reisende, eine große Erscheinung. Zwar verkargt wie ein Abreißkalender im November, aber mit wachen Augen und so elegant gekleidet und mit designergestyltem Schmuck veredelt, daß man sie nur als eine Dame der besseren Gesellschaft bezeichnen konnte. Was Happy insgeheim auch gleich tat. Sie hatte, nicht zu übersehen, die teuersten Gepäckstücke. Ihr halbkölscher Ausruf „Quittejelb“ bei den Pekinger Taxis war ihm aufgefallen. Im übrigen zählte sie zu denen, die noch nicht über den Status als bloße Namen auf seiner Liste hinausgewachsen waren. Die einzige alleinreisende jüngere Teilnehmerin dagegen schon. Ja, Penni. Und ob. Aber das war eine andere Geschichte.

Am deutlichsten ins Bild gesetzt hatte sich gleich am ersten Abend ein untersetzter, wenn nicht sogar kleiner Mann mittleren Alters, geschmacklos praktisch gekleidet, Cargohose und Anorak, dazu schlecht rasiert, als er hinter seinen Koffern her war. In berechtigter Empörung. Nun hatte man sich schon den ganzen Tag in der Stadt herumgetrieben, während die Koffer gleich zum Hotel transportiert worden waren. Aber auf den Zimmern waren sie am frühen Abend immer noch nicht. Schließlich will man sich doch mal frischmachen und umziehen. Ein paar passende Worte zu den Mädchen, die herumstanden. Die natürlich nichts verstanden. Dann laut nach dem Manager verlangt. Und dem Mann mit seinen leider nur drei Brocken Englisch sehr laut soviel zur Erweiterung seines Wortschatzes serviert, bis hin zu Flüchen und Injurien, wie sie nur Insider kennen, daß der Manager für diesen Nachhilfeunterricht eigentlich hätte dankbar sein müssen, aber nur völlig hilflos war. Die zugehörige Frau, groß, hager und weit weg von ihrem nicht einmal mehr zu vermutenden Blühen, bemühte sich hinterher vor der Gruppe, den Rauhbeineindruck glattzupolieren: "Mein Mann war zwei Jahrzehnte in Afrika, wissen Sie, und da lernt man sich durchsetzen. Da wird man etwas lauter. Man kann die Bimbos nicht anders ansprechen, das kommt bei denen gar nicht an." Und erzählte von Ostafrika, wo ihr Mann als Schiffsingenieur gearbeitet habe. Und jeder hörte ihr höflich zu. Vorsichtshalber kommentarlos. Wenn der Mann schon nicht gemerkt hatte, daß Chinesen keine Bimbos sind, wer weiß, ob er bei den mit ihm reisenden Mitteleuropäern klarer sieht.

„Wenn der Mann nur nicht so fürchterlich sprechen würde. Genau wie Ulbricht“, hatte Penni am Abend gesagt, als Happy auf ihrem Zimmer war. Als sie Wichtigeres schon hinter sich hatten, sich wieder wie erwachsene Leute unterhalten konnten. Daß diese Sprache fürchterlich sei, das konnte Happy so nicht stehenlassen.

„Das ist sächsisch. Die Leute kommen von drüben. Vermutlich hat der Mann in Ostafrika für eine der sozialistischen Regierungen als eine Art Entwicklungshelfer gearbeitet, hat geholfen ein Flottenprogramm zu verwirklichen. Vielleicht hat er auch nur Polizeiboote repariert. Oder er hat Kanus rot angestrichen und mit Hammer und Sichel bemalt. Jedenfalls muß er ein strammer Kommunist gewesen sein, bei dem nicht die Gefahr bestand, daß er abhaut; sonst hätte man ihn nicht ins Ausland geschickt.“

„Eine schreckliche Art zu sprechen. Nicht anzuhören.“

„Das ist halt der Dialekt der Leute dort.“

„Ein scheußlicher Dialekt.“

„Das kann man doch so nicht sagen, Penni. Du sprichst ja auch Dialekt.“

„Aber einen schöneren.“

Happy lachte über diese naive Äußerung, die ihm wieder so typisch Penni schien: Ungeschützt ehrlich dahingesagt, was sich vorwitzig auf die Zunge drängt.

„Du mußt dir nur einmal vorstellen, Penni, du wärest zufällig nicht in Bayern auf die Welt gekommen, sondern in Sachsen. Nein, unterbrich mich nicht! Dann hätten deine Eltern sächsisch gesprochen und dir sächsisch beigebracht und nicht bayerisch.“

„Wie schrecklich.“

„Dann würdest du heute sagen: Sächsisch ist ein schönerer Dialekt als bayerisch.“

„Niemals, das glaube ich nicht.“

„Ach, Penni, aller Dialekt ist Mutterlaut, ist weich und voller Wärme, ist anheimelnd, und ist damit dem Hochdeutschen unbedingt überlegen. Und Mutter ist Mutter, da wie dort. Deshalb kann man Dialekte nicht in schöner und weniger schön einteilen.“

„Das mit dem Mutterlaut, das hast du schön gesagt, Odysseus. Das kann ich mir gut vorstellen. – Und trotzdem, wenn dieser Hallodri aus Sachsen lospoltert, also das als Mutterlaut zu bezeichnen, ich weiß nicht.“

Happy verzichtete auf weitere Erklärungen, dachte nur bei sich: Wie soll da wieder zusammenwachsen, was zusammengehört, wie die Politiker so schön sagen? Und mußte sich zugeben, daß er selbst auch gleich Vorbehalte gespürt hatte, als das Ehepaar aus Sachsen sich ihm vorstellte. Aber nicht wegen der Sprache. Das wäre doch zu albern. Weswegen dann das spontane Gefühl der Ablehnung? Weil ich nicht weiß, was die Leute da drüben alles angestellt haben. Wen sie denunziert haben. Ob der Mann nicht einer der Folterknechte war. Oder einer, der Demonstranten niedergeknüppelt, bei der Postzensur Westwaren unterschlagen, bei den Grenztruppen einen Kameraden, der fliehen wollte, niedergeschossen hat. Wo sind sie denn alle geblieben, die zigtausend Täter? Sie leben doch jetzt unter uns, mimen die braven Bürger, beziehen von uns eine Rente oder demonstrieren mit dem Gewerkschaftsfähnchen in der Hand für höhere Löhne. Mein Gott, jetzt bin ich schon bei der Methode der Pauschalverdächtigung angelangt, wie sie die Israelis gegenüber unserer Vätergeneration anwenden. Die keinen deutschen Mann einreisen lassen, der vor 1930 geboren wurde. Oder war es vor 1933? Jedenfalls nur nach Sonderantrag und Sonderprüfung. Nun ja, man kann den Leuten nur immer vor den Kopf sehen. Was da alles drin ist, wer weiß das. Und drehte sich vorsichtig von Penni weg, deren gleichmäßiges Atmen ihm signalisierte, daß sie schon in die Tiefschlafphase gefallen war. Bei ihr ist das anders. Was in diesem putzigen Köpfchen drinsteckt und vor sich geht, das bleibt kein Geheimnis, das gibt sie gerne preis. Dabei schlüpfte er aus dem Bett, fast ohne es in Bewegung zu bringen. Auch jetzt ist das Gehirn unter dem schwarzen Struwwelhaar noch rastlos tätig. Hoffentlich hat sie schöne Träume. Klar, sie wird ja von mir träumen. Ich werde sie morgen fragen, ob sie brav war und die richtigen Träume geträumt hat. Dann wird sie mich wieder so verwirrt anschauen. Dabei zog er sich möglichst geräuschlos an. Ich muß mich noch etwas vorbereiten für morgen, mir ein paar Fakten einprägen, damit ich neben dem Herrn Li nicht ganz so dumm dastehe, dachte er, als er ihre Tür behutsam hinter sich zuzog.

Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman

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