Читать книгу Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman - Walter Laufenberg - Страница 8
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ОглавлениеNach dem Abendessen sagte ihm seine Reiseleitererfahrung: Nur schnell verschwinden! Die List des Verlorengegangenseins am ersten Abend. Nur möglichst lange unauffindbar bleiben. Auch nicht per Zimmertelefon erreichbar. Für lästige Fragen, für kleinkarierte Kümmernisse, für Reisewehwehchen. Für die schlechte Stimmung nach dem ersten anstrengenden Tag. Und für die Neugierde der Leute. Für dieses lästige Sich-Abklopfen-Lassen. Ich habe mich ihnen vorgestellt. Das muß genügen. Wie alt oder jung, ob verheiratet oder nicht, welche Weltanschauung und so fort und wie's darinnen aussieht, wen geht das was an. Je länger ich ihnen in all diesen Beziehungen ein Geheimnis bleibe, um so besser. Denn um so länger bin ich noch für sie interessant, sind sie noch besonders freundlich zu mir. Aus Vorsicht, aus Unsicherheit, aus Berechnung - also letztlich auch wieder nur aus Neugier. Nur weg jetzt!
Das war kein Klopfen, das war eher ein leises Kratzen an ihrer Tür, dreimal kurz, wie verabredet. Und schon ging die Tür auf. Sie muß am Pfosten gestanden haben, dachte er noch, da war die Zimmertür schon wieder geschlossen und verriegelt. Und sie stand da, mitten im Raum, und er stand vor ihr und nahm sie in die Arme. "Penni, endlich!" Und sie antwortete mit einem „Pst“, flüsterte "Odysseus" und küßte ihm vorsichtshalber weg, was er noch sagen wollte, wieder viel zu laut sagen könnte.
Wie lange hatten sie auf diesen Augenblick gewartet. Sie fast ein Dreivierteljahr lang und er fast ein Dreivierteljahr lang. Und so war es ihnen auch vorgekommen: Beinahe wie anderthalb lange Jahre plus einem schier endlos langen Flug und einer nervtötend langen Besichtigungstour durch Peking. Nun mußte Happy erst einmal Abstand nehmen, einen Schritt zurücktreten und sie anschauen. Alles wiedererkennen. Ein besonders gescheites Kompliment schaffte er in der Situation nicht. Nur: "Wie süß du aussiehst." Sie hatte die dunklen, kurzen Haare offenbar frisch zurechtgezaust, sich nur wenig geschminkt, aber das Augen-Make-up erneuert und die Wimpern wieder neckisch hochgebogen. Mit dieser martialisch aussehenden Wimpernklemme, die er noch kannte, die ihm immer vorgekommen war wie eine Wolfsfalle en miniature. Und von der er sich doch nicht hatte abschrecken lassen.
Nun sah sie ihn wieder so stummscheu und doch auch vertrauensselig an, die Ein-Kopf-Distanz mit einem unverwandten Aufblick überbrückend, hellblau. Genau so hatte er sie in Erinnerung behalten. In weißer Bluse und buntem Rock. Und mit den schwarzen Riemchenschuhen, die ihm so gefallen hatten. Nicht flach und nicht hochhackig, einfach genau richtig.
Und wieder wie schon früher dieser Widersinn, daß ihm ihr Anblick so gefiel, wie sie da reglos vor ihm stand, wortlos, und sich betrachten ließ, daß er sich nicht zurückhalten konnte, das schöne Standbild zu demontieren. Daß er die Bluse öffnete, langsam, Knopf für Knopf, um sie von den Schultern und Armen zu streifen, sie mit Schwung wegzuwerfen. Daß er über den Büstenhalter fuhr, seine beiden Hände als Schalen um die Schalen legte, sie leicht anhebend - wie sie wiegend - und leicht drückend. Und daß er dann um die warm-weiche Statue herumgriff und die zwei Häkchen im Rücken ausklinkte, das störende Utensil einfach fallenließ und ihre Brüstepracht streichelte. Dieses nachgiebig Feste, Heiße. Um dann ganz schnell den Rockbund aufzuhaken, um sie im Höschen vor sich zu sehen. Dabei stieg sie schon aus den Schuhen und huschte ihm unter den Händen weg, ins Bett. Das Höschen, er erinnerte sich, zieht sie immer selbst runter und immer erst unter der Bettdecke.
Das Beijing International Hotel begeisterte seine Gäste. Happy sah und hörte es am nächsten Morgen mit Schaudern. Einer von diesen Kästen im internationalen Protzstil, die überall ein klein wenig anders und doch alle gleich aussehen. Wie gerade erst rübergeholt aus Los Angeles oder Johannisburg oder Sydney. Das einzig Besondere: Im Foyer und auf allen Fluren, einfach überall, die Mädchen, die herumstehen wie Statuetten. Wie zu Königinnen verkleidete Elfen in Habachtstellung. Feinmodellierte Gesichter aus Biskuitporzellan. Um die Augen diese überraschende Variationsidee der Natur, die raffinierte Vereinfachung. Um so ausdrucksstärker die dunklen Blicke der Mädchen. Sehr junge Mädchen, sehr grazil. Das gefällt den fülligen deutschen Gästen. Kein Gedanke daran, daß die Elfen nur hier herumstehen, weil es viel zu viele von ihnen gibt. Und daß ihnen zum Fettwerden das Futter fehlt. Der weitere Unterschied zur amerikanischen McDonald's-Kultur ist gerade nur noch, daß die übertriebene Dienstbereitschaft fehlt. Die Elfenköniginnen stehen halt nur dekorativ da in ihren langen, enganliegenden Kleidern im Hotellook, hochgeschlitzt. Wie von einem geschickten Dekorateur überall dort aufgestellt, wo die Architektur einen mit Öde und Kälte überfallen will. Mit diesem holden Lächeln und dem ewigen Good-Morning auf den Lippen. Die frappierende Sprachvirtuosität der Mädchen geht gelegentlich sogar bis zum Guten-Morgen. Mehr aber ist nicht mit ihnen anzufangen. Soll nur niemand versuchen, sie einmal etwas zu fragen. Ihre Ausbildung ist offenbar über einen Schminkkurs nicht hinausgekommen. Und wehe, wenn da so ein deutscher Hagestolz versucht, eins von den Mädchen zum persönlichen Gebrauch mit auf sein Zimmer zu nehmen. Die eiskalt sozialistische Prüderie ist beinahe das letzte, was hier vom Sozialismus übriggeblieben ist.
Hauptsache, die Reisenden sind zufrieden. Daß im Lift die Plakette eines deutschen Herstellers hing, wurde mit Wohlgefallen bemerkt. Daß das Zimmer, vor allem Bett und Bad, nicht deutsch sondern amerikanisch war, gefiel erst recht. Die gleiche positive Überraschung beim Frühstück. Aber dann gingen sie hin und drehten alles und jedes dreimal um, weil sie wissen mußten, wo es herkommt: Die Butter aus Neuseeland, die Marmelade aus der Schweiz, doch der Zucker verriet seine Abstammung nicht. Und Happy mußte schon am frühen Morgen erklären, erklären, erklären. Auch, daß den Chinesen Milch und Milchprodukte fremd sind. Schon ging das Gerede über Enzymunverträglichkeit los. Wie die Juden mit ihrem Schweinefleisch. Wie die Araber auch. Man kennt das ja: Immer gibt es mindestens einen in der Gruppe, der alles noch besser weiß. Daß die Wirtschaftsbeziehungen zum sozialistischen Bruderland Kuba noch bestehen, aber nicht mehr so intensiv sind, weil die Kubaner keine Devisen haben, servierte er ihnen zum Frühstückskaffee. Zuviel Zucker als Bezahlung macht halt jeden Handelspartner sauer. Kein Widerspruch. Offensichtlich niemand in der Gruppe, der die Reise aus marxistisch-leninistisch-maoistischer Überzeugung macht. Angenehm. Zwar hatte der Schiffsingenieur schon Luft geholt, um was zu sagen. Doch hatte ihn seine Frau mit einem bühnenreif kräftigen Ellbogenstoß in die Seite erfolgreich davon abgelenkt.
Man wartete noch auf den örtlichen Reiseführer. Also hatte Happy die Chance weiterzuerzählen. Daß Peking, der Regierungssitz, nur die zweitgrößte Stadt des Landes sei, rangmäßig erst nach Shanghai komme. Und daß die chinesische Hauptstadt genau so eine extreme Randlage aufweise wie Berlin. Wie übrigens auch Washington. Weitere Beispiele kamen aus der Gruppe. Dann trat der chinesische Führer mit einem fröhlichen Guten-Morgen auf und lud zur Stadtrundfahrt ein. Und schon wurden Happys Angaben ergänzt, schon wurde brav mit Staunlauten quittiert, daß es in Peking-Stadt nur sechs bis sieben Millionen Einwohner gebe, im Kreis Peking aber rund zwölf Millionen. Und daß die etwa acht Millionen Fahrräder bewegen.
Happy saß stumm hinter Herrn Li und beschäftigte sich damit, die Räder mit Gangschaltung zu zählen, und kam dabei nicht über ein Dutzend hinaus. Hier fährt man also noch mit Primitivrädern ohne jede Schalthilfe und sogar ohne Rücktritt. Und da redet man vom Land des Fahrrades. Kaum über das Laufrad des Freiherrn von Drais hinaus. Irgendwem fiel auf, daß die Fahrräder fast alle ohne Beleuchtungsanlage waren.
"Na und, bei uns haben alle Fahrräder Beleuchtung, und doch fahren die meisten im Dunkeln ohne, weil es sich so leichter fährt, so ein bißchen leichter", schimpfte einer der Reisenden los. "Dafür riskiert man bei uns gern sein Leben."
"Es sind ja zum Glück nur die Dümmsten, die bei uns ohne Licht fahren. Und wenn die dabei verunglücken, das ist dann natürliche Zuchtwahl", beruhigte ihn ein anderer.
Und Happy erinnerte sich, wie das mit den Fahrrädern ohne Beleuchtung einem seiner Reisenden in Nordnorwegen aufgefallen war. Die Erklärung eines Einheimischen hatte er nur zu gern weitergegeben: Im Sommer brauchen wir kein Licht am Fahrrad, weil es die ganze Nacht durch hell bleibt, und im Winter brauchen wir es nicht, weil das Fahrrad im Schuppen bleibt; denn draußen liegt der Schnee dann drei Meter hoch. Nun gut, das galt am Nördlichen Polarkreis. Aber hier, etwa dreißig Grad südlicher? Die Beleuchtung sei früher Pflicht gewesen, erklärte der örtliche Führer. "Aber eine Beleuchtung ist sehr teuer. Das war zuviel Aufwand für die einfachen Leute. Deshalb ist diese Pflicht bei der Kulturrevolution abgeschafft worden."
Aha, verstand und verschwieg Happy vorsichtshalber, manchmal bringt eine Revolution ja doch etwas für den kleinen Mann. Wenn auch nur eine klitzekleine Kleinigkeit. Wie war das noch bei der 1848er Revolution in Berlin? Fast das einzige, was die Leute erreicht haben, war, daß sie endlich auch auf der Straße rauchen durften. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.
"Bis etwa 1950", so erklärte Herr Li in bestem Deutsch weiter, "bestand Peking aus unzähligen ebenerdigen Häusern, die jeweils um einen rechteckigen Hof herumgebaut waren. Sogenannte Hofhäuser, jeweils von einer Familie bewohnt. In den fünfziger Jahren gab es dann eine große Veränderung." Wie dezent so ein staatlich geprüfter Führer sich ausdrücken kann: große Veränderung. Es lohnt sich schon, genauer hinzuhören, amüsierte Happy sich.
"Die Häuser wurden alle verstaatlicht, und schon bald mußten jeweils mehrere Familien in einem Hofhaus wohnen, in jedem Raum eine, weil es nicht genügend Häuser gab. Da war natürlich für manche Dinge kein Platz mehr. So gab es dann für mehrere solcher Hofhäuser mit ihren jeweils vier bis fünf Familien irgendwo abseits eine Gemeinschaftstoilette."
Das Thema gefiel den Reisenden. Zumal bei der Fahrt durch die Stadt da und dort noch Straßenfronten mit den niedrigen Hofhäusern zu sehen waren. Es gab zwar nur schmale Durchgänge, in die man nicht weit hineinschauen konnte. Doch wie bestellt ein Mann, der an eine Hauswand pinkelte. Da spielende Kinder, dort Frauen beim Gemüseputzen.
"In den letzten Jahren hat man mit dem planmäßigen Abriß dieser Quartiere begonnen. Auf den freiwerdenden Flächen werden Hochhäuser gebaut. Bis zum Ende dieses Jahrhunderts sollen alle Hofhäusersiedlungen aus Beijing verschwunden sein. Die Leute freuen sich, daß sie erstmals eine richtige kleine Wohnung für sich haben, mit eigenem Wasseranschluß und eigener Toilette."
Da wird eine Gesellschaft gewaltsam umgekrempelt, überlegte Happy, und dazu sagt der Mann: Die Leute freuen sich. Da werden die, die sich damit abfinden mußten, auf engstem Raum zusammmengepfercht zu sein, keinerlei Distanz mehr zu halten, keinen Intimbereich mehr zu haben, die gelernt hatten, aus Not friedlich zusammenzuleben, einfach auseinandergerissen und in irgendwo abseits stehende Hochhäuser verladen, übereinander gestapelt, Familie für Familie wie in eine Schublade geschoben. Tür zu und nichts mehr zu tun mit den anderen rundum. Und nicht nur denen aus dem sechsten Stock muß schwindelig werden, wenn sie aus dem Fenster schauen.
Herr Li sprach von der unausweichlichen Notwendigkeit dieser gigantischen Sanierungsaktion. Und er sagte kein Wort dazu, daß die Sanierung erst nötig geworden ist durch die vorausgegangene Verstaatlichung, die den Bau weiterer Hofhäuser gestoppt hatte, und durch die rücksichtslose Überbelegung mittels Zwangseinweisung von immer mehr Familien in die vorhandenen Hofhäuser. Schon war der einheimische Führer nur noch mit den neuen Hochhäusern beschäftigt. Daß es anfangs eine reine Verteilung der Wohnungen gegeben habe, seit einem Jahr aber nur noch den Verkauf. "Standard ist die Zwei-Zimmer-Wohnung. Nur selten werden größere gebaut. Sie hat durchweg etwa 45-60 Quadratmeter. Und sie kostet 20-30 tausend Yuan, wenn man sie von der Firma bezieht, bei der man arbeitet. Man braucht also einen Berechtigungsschein. Dafür gibt es aber auch prozentuale Ermäßigungen je nach der Zeit der Firmenzugehörigkeit."
Daneben gebe es auch schon einen freien Wohnungsmarkt, erklärte der Führer. Da koste der Quadratmeter etwa 1.900 US-Dollar. Gerade die Chinesen aus Amerika und Europa und Australien, wie auch die aus Hongkong und aus Taiwan kauften sich neuerdings gern hier ein, um eines Tages einen Alterssitz in der Heimat zu haben.