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Der chinesische Reiseführer freute sich unübersehbar, seinen deutschen Gästen den größten Platz der Welt vorstellen zu dürfen, den Tiananmen-Platz. „Als ob Größe an sich schon was wäre“, zischte Happy vor sich hin. Während Herr Li zeigte, daß er Bescheid wußte: "In Deutschland besser bekannt unter dem Namen Platz des Himmlischen Friedens."

Ja, schluckte Happy seinen Kommentar: Und das besonders seit dem Massaker vom Juni 1989. Damals hat die Weltpresse versagt, ärgerte er sich, weil er mit den damals umgebrachten und eingesperrten Studenten fühlte. Da hat sie versäumt, den Platz umzubenennen in Platz des Höllischen Massakers. Da war die Gelegenheit gegeben, eine Wortsetzung vorzunehmen und international durchzudrücken. Wer, wenn nicht die Presse, hat diese Macht. Aber die Presseleute blieben hündisch gehorsam am Platz des Himmlischen Friedens kleben. Wie sie an jedem kuriosen Ausdruck kleben bleiben, ohne einen Gedanken an seine Berechtigung zu verschwenden. So war das mit der Isolationsfolter und mit dem Berufsverbot und viel früher schon mit der Schutzhaft und mit dem Volksschädling.

Vierundvierzig Hektar groß sei der Platz des Himmlischen Friedens, erklärte der Führer. Und er schließe gleich an das südliche Tor der Verbotenen Stadt an, wie der Kaiserpalast früher hieß. "Dieses Tor heißt Tor des Himmlischen Friedens, und von diesem Tor aus hat unser Staatsvater Mao Zedong am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik China ausgerufen. Deshalb hängt dort heute das große Bild Mao Zedongs. Danach hat man den Platz auf die vierfache Größe gebracht. Eine Million Menschen faßt er heute."

Happy kam sich wieder so verloren vor in der gewaltigen Ödnis wie bei früheren Besuchen. Die staatstragenden Kästen in weiter Entfernung rundum, der Obelisk in der Mitte wie ein Zeltmast ohne Plane. Das alles schien ihm kleingemacht durch die Weite des Platzes. Genau wie man selbst. War das wohl die eigentliche Absicht dieses Gigantomaniestreichs? Bei aller Größe klein auch das Mao-Mausoleum. Natürlich genau auf die Südachse gebaut, die seit eh und je hier eine große Bedeutung hat, wie er wußte. Ein Gebäude, das aussieht wie die Neue Nationalgalerie in Berlin. Ein Stück Mies van der Rohe mit nur sehr dezent angedeutetem Pagodendach. Und davor in vielen langen Windungen die Schlange der Menschen, sicher einige tausend, die in das Mausoleum hineinwollen. Ein chinesischer Wunschtraum: Einmal im Leben hier stehen, etwa zwei Stunden in der Sonne ausharren und mit kleinen Schrittchen allmählich vorrücken, um dann zehn Minuten durch das Mausoleum zu ziehen, natürlich niemals verweilen zu dürfen, auch nicht in stummer Andacht. Aber immerhin den Großen Vorsitzenden von einst einbalsamiert im Schneewitchensarg bewundern zu dürfen.

Daß der Staatsvater, wie ihn Herr Li immer wieder nannte, im Unterschied zu seinen bedeutendsten Mitstreitern nicht in Europa studiert hatte, ja überhaupt nur ein einziges Mal im Ausland war, in Rußland, das erfuhren die Touristen nur auf Nachfrage. Dafür erzählte ihnen ihr Führer um so lieber von den Menschen, die aus ganz China hierher gepilgert kämen, vor allem einfache Menschen aus der Provinz. Hier sind also Begriffe wie einfacher Mensch und Provinz noch keine Schimpfwörter, verstand Happy. Ob denn Maos politische Überzeugungen immer noch Geltung hätten, wollte der Computermann wissen, wo man doch längst eingesehen habe, daß der von ihm propagierte Große Sprung ein Reinfall war.

"Genau wie die Kollektivierung der Landwirtschaft," wußte der Schiffsingenieur beizutragen. Was Happy wie ein billiges Sich-Anbiedern vorkam.

"Und daß die von Mao ausgelöste Kulturrevolution sogar eine Katastrophe war", ergänzte der Apotheker.

"Erst recht die Hundert-Blumen-Kampagne, durch die die kritische Intelligenz des Landes vernichtet worden ist." So die ältere Dame aus Köln.

"Doch, doch, Maos Politik gilt immer noch", meinte der örtliche Führer treuherzig, "nur wirtschaftlich hat man jetzt einen anderen Kurs eingeschlagen."

Die Gruppe war damit zufrieden, und Happy schwieg vorsichtigerweise. Er wollte noch öfter nach China kommen dürfen. So sagte er nichts von Radio Eriwan, das er hier zu hören glaubte, und nichts von der Prozession im Wallfahrtsort Lourdes, die ihm seine Augen vormachten, auch nichts von der Schlange, die nun einmal das Signum des Sozialismus sei, hier allerdings einmal ganz anders. Ja, schlangestehen, um was zu essen zu kriegen, müssen die Chinesen nicht mehr. Zumindest das hat er geschafft, der Staatsvater: Seine Kinder verhungern nicht mehr. - Nun sind die aber auch ungewöhnlich anspruchslos. Ja, und die vielen Millionen Chinesen, die durch Maos politische Experimente umgekommen sind, essen ihnen auch nichts mehr weg. - Ach, reg dich nicht auf, Happy. Alles nur Nervensache. Wie du es ganz selbstverständlich genießen kannst, daß Rinder und Schweine, Hühner und Enten und Gänse für dich abgemurkst werden, so können Staatsführer es genießen, daß Menschen für sie geopfert werden. Man sagt einfach nur: Ihr Pech - und läßt es sich gutgehen. In Asien gilt es nun mal nicht, unser griechisch und christlich geprägtes Menschenbild.

Gerade sprach der örtliche Führer vom ptolemäischen Weltbild, das hier keine Geltung gehabt habe. Nein, hier habe man die Vorstellung gehabt, daß der Himmel rund und die Erde quadratisch sei. Und mittendrauf liege China. "Deshalb heißt China ja das Land der Mitte. Und wenn auch die Hauptstadt Peking nicht mitten in China liegt, sondern sehr am Rand, so wie Bonn und Berlin, so mußte doch auch die Hauptstadt quadratisch sein. Und der Kaiserpalast mittendrin auch." Und ließ seine Touristen unter dem blau-grauen Rock des freundlich dreinblickenden Riesen-Mao durch das südliche Tor in den Palast hineingehen. "Der Palast heißt heute noch die Verbotene Stadt. Aber heute darf jeder hinein, anders als früher, zur Zeit der chinesischen Kaiser, also bis zum Jahre 1912, als der letzte Kaiser, der Kindkaiser Puyi, abdanken mußte. Die Jungchinesen unter der Führung von Dr. Sun Yatsen hatten ihn mit ihrer Revolution dazu gezwungen. Aber das wissen Sie ja sicher alles schon."

Allgemeines Nicken rundum. Man wollte endlich sehen, was hier zu sehen war. Das war dann leider so gut wie nichts. Hohe Tore, ja, auch fast leere Hallen, Plätze voller Menschen, schönes Pflaster, wunderschön geschwungene Dächer mit gelben, glasierten Ziegeln. Doch genau besehen nichts als Menschen, Menschen, Menschen und Steine, Steine, Steine. Daß die Dächer so schön glänzten, war nichts Besonderes; die Gesichter der Leute glänzten genauso. Nicht vor Begeisterung, sondern vom Schwitzen. Auch die Sonnenhitze hatte trotz der Dreckluft ungehinderten Zugang zur Verbotenen Stadt, zu den vielen weiten und kleineren Plätzen, die zwischen all den Toren und Hallen lagen.

Dächer, Dächer, begeisterte Happy sich. Dieser Jubel der Glasur, der hellglänzenden Dachziegel. Und unterbrach sich schnell selbst: Diese Vorherrschaft der Oberfläche, der schönen Abdeckung, darf ich sie denn einfach schön finden? Ist das wirklich nur ein gutes Fotomotiv? Muß nicht das Allzuglatte, das Gelackte einer Kultur immer zu denken geben? Erst recht, wenn man feststellt: Alles leer, die alte Kultur ist dahin, aber der Lack noch lange nicht ab. Doch so irritiert er sich umsah: Da war kein hinkender Teufel im Anmarsch, der die Dächer abdeckte. Der aufdeckte, wie die Menschen leben, was sie zu verstecken trachten, der alles entdeckte. In dem Moment war Happy wieder sehr zufrieden damit, daß er sich so zurückhalten mußte, daß er alle Erklärungen dem örtlichen Führer zu überlassen hatte. Mich bedeckt halten, sagte er sich. Und hatte plötzlich Lust, in ein teufliches Lachen auszubrechen. Aber auch das ließ er nicht raus.

Da fiel ihm auf, daß er den Anschluß an die Reisegruppe verloren hatte. Nur Penni war in der Nähe. Und sie kam einfach zu ihm, ging ganz selbstverständlich mit ihm weiter, an seiner Seite, entgegen der Abmachung. Fehlt nur noch, daß sie sich unterhakt, dachte er.

"Geh zur Gruppe", sagte er.

"Die Gruppe ist dein Bier, nicht meins."

"Du weißt, was wir verabredet haben."

"Ach, Odysseus, geredet haben wir schon so viel, aber -", griff sie nach seiner Hand und sprach nicht weiter.

"Und sag nicht immer Odysseus zu mir", wechselte er schnell das Thema.

"Aber das ist ein sehr schöner Name. Und er paßt zu dir. Paßt viel besser als Happy - und ist nicht so albern, nicht so amerikanisch kitschig."

"Hier bin ich Reiseleiter, und mein Reiseleitername ist Happy", riß er sich los, ließ er sie stehen: "Pardon, Penni, aber da drüben ist die Gruppe."

An einzelnen Gebäuden große Tafeln mit Erklärungen in chinesisch und englisch. In den Hallen hohe Säulen und sonst fast nichts. Kaum was an Einrichtung hat sich erhalten, wunderten sich die Besucher. "Das, was Sie da sehen, hat sich eigentlich auch nicht erhalten, das ist später wiederbeschafft worden", gab Herr Li zu. "Nein, in der Kulturrevolution ist hier nichts zerstört worden. Es war ja längst nichts mehr da." Daß die Leute gleich nach der Abschaffung des Kaisertums alles geplündert und ruiniert hätten, bedauerte er wortreich. Und dann sei die Palastanlage lange Zeit ein Spielplatz der Kinder gewesen, später dann sogar Soldatenunterkunft. "Ein Jammer."

Happy hielt sich ein wenig abseits. Dieses pekinesische Lamento des zu spät entwickelten Bewußtseins für Kulturgüter kannte er schon. Das hatte er analog in Ägypten oft genug gehört. Auch in Mittelamerika. Bei jedem örtlichen Führer das gleiche. Er beobachtete einen Aufseher, der einen Familienvater mit Zigarette erwischt hatte. Gerade erst hatte der Mann sich die ersten zwei Züge geleistet, da war der Wächter schon zur Stelle. Er zeigte auf eines der überall angebrachten Rauchverbotsschilder und sich im übrigen von den jammernd vorgetragenen Einwänden des Mannes unberührt. Die Zigarette ausmachen! Und dann nahm er dem Familienvater auch noch zehn Yuan Strafgeld ab, mit kaum unterdrücktem Triumph. Überall dasselbe, ärgerte Happy sich: Genossen haben nicht viel füreinander übrig. Nun ja, das sind für uns drei Mark. Was ist das schon? Aber dafür muß der arme Kerl tagelang schuften. Selbst schuld, schließlich steht doch überall deutlich angeschlagen, daß hier Rauchverbot herrscht. Nur - wozu dieses Verbot? Sein Sinn kann nur im Abkassieren liegen; denn eine Brandgefahr ist für diese Steinwüste wohl nicht anzunehmen. Also Willkür. - Ach, hör auf, Happy, laß die Chinesen ihre Probleme selbst lösen.

Und lenkte sich schnell ab: Das muß man den Chinesen ja lassen: Sie wissen sich zu helfen. Den Schirm haben sie immer dabei. Dient er gerade mal nicht als Schutz vor dem Regen, dann dient er als Schutz vor der Sonne, die sich durch den Immer-und-überall-Smog hindurchzwängt.

Erst kurz vor dem Nordausgang wurde die Palastanlage erträglich. Nicht mehr nur Hitze, schattenlos, und heißer Stein. So überraschend wie nach einer Wüstenwanderung empfingen rechts und links oasengleiche kleine Parks die müdgelaufenen Touristen. Und endlich gab es Interessanteres zu sehen als die abertausend chinesischen Besucher: Bäume, so uralt und verkrümmt, halbausgehöhlt und mit viel Teerprothetik daherkommend, auf Stöcke gestützt, aber so ehrfurchtheischend in ihrer Runzelhaut, daß Happy sie am liebsten mit Herr angeredet hätte. Und dazwischen Wasser, winzige Teiche mit Goldfischen. Viel Blattwerk und Blühendes drumherum. Und vor allem: endlich Schatten.

Am Nordausgang sammeln, so war verabredet. Vom Kaiserpalast aus dann nur ein paar hundert Meter gehen, um den zwei Straßen weiter abgestellten Bus wieder zu besteigen. Und ab zum Flugplatz. Das Nordtor des Palastes liegt ja fast schon am Weg dorthin. Der örtliche Führer drängte zur Eile. Sie hatten sich zu lange in der Verbotenen Stadt aufgehalten.

Das also war Peking, konnten die deutschen Touristen abhaken. Dabei sahen sie sich eifrig nach allen Seiten um, hamstergierig mitnehmend, was sich den Augen und Kameras auf dem Weg zum Bus noch bot. Die Baustellen überall, die Monotonie der Mietskasernen für die Leute aus den abgerissenen Hofhäusern, die aberwitzig modern gestylten Hotelpaläste. Und so wenige Privatautos. Und so gut wie gar keine Motorräder. Weil es dafür einfach keine behördliche Zulassung gibt. So was fällt einem natürlich erst auf, wenn man darauf hingewiesen wird, wußte Happy. Aber er wollte sich nicht einmischen. Noch war Herr Li zuständig. Immer fair play, sagte er sich - und deshalb nichts.

Sagte auch nichts zu den Ständen der Melonenverkäufer, die sie überall an den Straßen sahen. Immer das gleiche Bild: Ein provisorisches Zelt und darin und davor zentnerweise die grünen Kugeln auf dem Boden ausgelegt, in großen Haufen. Meist auch ein paar gelbe Honigmelonen dabei. Und im hinteren Teil des Zeltes ein altes Bettgestell. Das hieß, der Verkäufer schläft dort nachts. Schläft unruhig und halbwachsam. Denn er kann natürlich diese schweren Lasten nicht am Abend einsammeln und nachhause transportieren. Diese Melonenstände sind also ständige Einrichtungen. Sie sichern die Grundversorgung der Bevölkerung mit Flüssigkeit. Sie sind damit so was wie die Vorläufer unserer Getränkeabholmärkte, nur nicht so teuer und nicht so weit draußen. Da kam gerade wieder eine Frau und suchte sich eine Melone aus, mit kritischem Blick und Fingerdruck, und bezahlte und klemmte dann die grüne Kugel auf dem Gepäckständer ihres Fahrrades fest und fuhr heim, um das Mittagessen zu machen. Mal was Typisches, und kein Mensch macht ein Foto, ärgerte Happy sich.

Was sind das nur für Menschen, diese Reisenden? Ein Tourist ist sicher die höchstentwickelte oder tiefstverkommene Spezies des Konsumenten. Er muß alles sehen, alles haben, er nimmt sich alles – und bekommt deshalb nichts. Trotzdem findet er alles sehr schön, da gibt es nichts. Das einzige, das ihn stört, ist die Masse der Touristen. Weil sie ihm immer wieder ins Bild laufen, die Blödels.

Über solchen dienstplanwidrigen Gedanken hätte Happy beinahe vergessen, die Trinkgeldsammlung für die chinesischen Freunde anzumahnen. Er nahm schnell zwei Briefumschläge aus seiner Reisetasche und schrieb auf den einen den Namen des Führers, auf den anderen den des Fahrers, gerade so, wie er sie verstanden hatte, und ließ die Umschläge im Bus weitergeben. Sein Hinweis über Buslautsprecher: "Bei der Gelegenheit können Sie auch die Scheine mit den schönen Doppelporträts, das chinesische Normalgeld, den Renminbi, loswerden, den Sie vermutlich als Wechselgeld erhalten haben. Immer nur weg damit! Sie können ja in den Hotels und Restaurants und großen Geschäften nur mit dem Touristengeld bezahlen, das auf der Rückseite stehen hat: Foreign Exchange Certificate." Der örtliche Führer nahm ihm diesmal nicht das Mikrophon weg.

Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman

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