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4. Kapitel

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Die Kirche war so brechend voll gewesen, dass einige Leute im Gang und im Portal hatten stehen müssen. Rothenburg gehörte zu den wenigen Kirchengemeinden, in denen die Gläubigen in der Kirche Bänke vorfanden. Diese waren vor einiger Zeit vom Vater des Vogtes, Eckhard Steiner, gestiftet worden. Doch heute reichten sie bei Weitem nicht aus, um alle Menschen aufzunehmen. Marie verabscheute dieses scheinheilige Volk. Viele Gesichter sah man bei der Sonntagsmesse nur dann, wenn es hinterher Bestrafungen zu sehen gab. Und diese Leute hofften darauf, einmal in den Himmel zu kommen? Das konnte Marie sich wirklich nicht vorstellen. In ihren Augen gehörten sie allesamt in die Hölle, um dort für alle Ewigkeiten zu schmoren.

Die Messe nahm den gewohnten Verlauf. Die Liturgie war immer die gleich. Auch wenn die Meisten nichts von dem verstanden, was Pater Remigius vorne auf Latein von sich gab, wussten alle, wann sie welche Handlungen zu vollziehen hatten. Doch plötzlich schwieg der Pfarrer, sah seine Gemeinde an.

Dann, ohne Vorwarnung, brüllte er durch die Kirche.

»Heute sehe ich nicht meine Gläubigen hier, die in stiller Andacht verharren. Ich sehe nicht die Christen, die ihr vorgebt zu sein!

Nein! Heute sehe ich nur einen Haufen Sünder! Ich sehe Männer und Frauen, die sich in der letzten Nacht allen Sünden hingegeben haben, die man sich vorstellen kann!

Wollust!

Völlerei!

Missgunst!

Habgier!

Ich sah letzte Nacht, wie Männer und Frauen betrunken am Gotteshaus ihr Wasser abschlugen!

Ich sah Männer und Frauen, die sich in abartiger Wollust vereinten. Und ich sah, wie Männer es mit Männern trieben, wie Frauen ihre Körper an anderen Frauen rieben!«

Die Köpfe der Gläubigen senkten sich. Einige wurden rot, vor allem die Frauen. Doch der Pfarrer war noch nicht fertig.

»Ich sah, wie gutes Essen in den Mist geworfen wurde! Ich sah, wie Männer sich um die Gunst einer Frau schlugen!

Und ich will nicht wissen, was ich, der ich nur als Wurm auf der Erde krieche, nicht gesehen habe. Doch der Herr, der über allem schwebt, hat euch alle gesehen. Sein Sündenregister ist gefüllt.«

Er holte tief Luft. Es war so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.

»Wie, so frage ich euch, wie wollt ihr euch von diesen Sünden wieder erlösen lassen? Was, denkt ihr, kann euch noch vor Hölle und Verdammnis erretten?«

Seine Augen blitzten.

»Gleich werden wir vor diesem Gotteshaus eine Sünderin bestrafen, die sich aus Berechnung und in niederträchtiger Weise einem Manne hingegeben hat. Ihr wird der Herr danach ihre Sünden vergeben. Doch wie wollt ihr Erlösung, wie wollt ihr Vergebung erhalten?«

Er stemmte seine Fäuste in die Hüften.

»Ihr habt gutes Geld verprasst, während ich seit vielen Jahren darum bete, genug für ein neues Dach für unser Kloster zusammenzubekommen. Aber es ist immer noch nicht genug. Doch statt dem Herrn einen Teil zu geben, versauft ihr es, bringt es mit billigem Wein durch, werft es mit beiden Händen zum Fenster hinaus!

Er sah wieder in die Gesichter der Gläubigen, einige von ihnen, darunter auch sehr viele Frauen, waren rot geworden und hatten die Köpfe gesenkt. Jetzt wurde es Zeit für den Schluss, befand Pater Remigius.

»Doch der Herr ist gnädig. Nach der Messe werde ich vor den Toren auf euch warten. Und jedes Silberstück, jedes Goldstück, das ihr für den Erhalt unseres Klosters gebt, wird euch das Tor zum Himmel wieder öffnen!«

Er schwieg, sah sich um. An den betroffenen Gesichtern erkannte er, dass die Spenden üppig ausfallen würden. Pater Remigius hatte dabei kein schlechtes Gewissen. Er war fest davon überzeugt, dass mit jedem Geldstück, das die Rothenburger ihm gaben, ihnen Sünden erlassen würden.

Mit ruhiger Stimme las er die Messe weiter, während seine Schäfchen bereits in ihren Geldkatzen nach einer Spende suchten, die ihren Sünden angemessen war.

Der Henker von Rothenburg: Verrat in Rothenburg

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