Читать книгу Ganz für sich allein - Werner Koschan - Страница 10
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ОглавлениеIm Januar übernahm ein anderer Blockwart das Kommando. Bruno Bierlos war wie vom Erdboden verschwunden, obwohl wir keinen Angriff bekommen hatten. Was mochte seine gute Gelegenheit gewesen sein? Hoffentlich schaffte er es zu den Franzosen. »Ach Bruno«, sagte ich ins Nichts. »Ich wünsche dir alles erdenklich Gute.« Welchen Namen hatte er mir denn nur genannt, den er in Frankreich führen wollte? Irgendwas mit Schnaps, das wusste ich, nur welcher Schnaps? Keinen blassen Schimmer. Irgendwas Französisches, Cognac bestimmt. Ich werde alt. Hennessy war es auf jeden Fall nicht. Na egal. Alles Gute, Bruno.
Die erste Anordnung des Neuen fand ich morgens an unsere Haustür gezwickt: ›Nichtariern sind die Arierkeller verboten!!!‹, wahrhaftig mit drei Ausrufezeichen. Offensichtlich hatte Bruno Bierlos tatsächlich genau gewusst, wovon er in der Silvesternacht gesprochen hatte. Zwar haben wir in unserem Judenhaus in der Sporergasse 2 einen Kellerverschlag in dem Juden sich verkriechen dürfen, aber nebenan im Mittelhaus gab es einen geeigneten Keller, der aus gemauertem Gewölbe einem richtigen Betonboden errichtet war. Dort durfte ich nun nicht mehr hinein. Jedes Mal, wenn die Sirenen heulten, machte ich mir beinahe in die Hosen und betete, dass Mutschmann recht behalten würde, und Dresden bliebe tabu.
Die Gemeinsamkeit und der damit verbundene Schutz vor bürgerlicher Willkür bröckelte. Noch durften wir gemeinsam leben und wohnen, nur nicht mehr gemeinsam sterben. Carola durfte ohne Weiteres mit mir in unseren Judenkeller, doch da war kein Mensch wirklich drin sicher. Meinen Vorschlag, dass ich in den Judenkeller ginge und Carola nach nebenan, dann wären wir nur durch eine Brandmauer getrennt, lehnte Carola kategorisch ab.
So paradox es klingen mag, wenn Carola und ich gemeinsam im Keller gehockt hatten, erschien uns auch jeder einzelne Angriff unerträglich - obwohl wir in Dresden beileibe nicht so viel abbekommen haben wie Berlin oder das Ruhrgebiet. Die Angst vor dem Tod lässt sich bei allem Intellekt nicht abschütteln. Und nun künftig getrennt zu sein angesichts des herabfallenden Todes, erschien uns noch viel grausamer. Als ob man gemeinsam leichter sterben würde.
Den Keller in unserem Haus mochte sie nun überhaupt nicht mehr. Carola sprach oft vom Judenkeller in der Zeughausstraße. Selbst der Judenkeller in der Cranachstraße erschien ihr, aus welcher rationalen Überlegung auch immer, recht sicher zu sein und hatte zumindest den Vorteil, dass wir im Falle eines Angriffs nur einen kurzen Weg von zu Hause bis dorthin zurücklegen mussten. Bloß über den Schlageter Platz, zweihundert Meter die Pillnitzer lang und links in die Cranachstraße bis zur Nummer zwölf, ein Katzensprung. Ihren Rucksack hielt Carola bei Tag und Nacht griffbereit. Möbel und derartige Gegenstände zu verlieren, schien ihr völlig gleichgültig zu sein. Und sie hatte bisher recht behalten. Bei jedem Voralarm führten wir nur diesen Rucksack mit uns. Mal trug sie ihn, mal ich. Dresden blieb ja meist verschont. Wenn wir wieder in unsere Wohnung traten, lächelte Carola überlegen. Nichts war geschehen, wir hatten uns gemeinsam gefürchtet und waren gemeinsam zurückgekehrt. Alles war wie vorher.
Und nun schien diese Gemeinsamkeit für uns zu Ende zu sein. Welchen Keller, der uns beiden zugänglich war, sollten wir beim nächsten Angriff aufsuchen? Bei aller Liebe zu dem Haus, in dem wir lebten, einen Angriff in dem Verschlag
abzuwarten, mochte ich nicht riskieren. Obwohl mir ja seit meiner Jugend das Haus ausgesprochen gut gefiel. Schon allein der Name ›Triersches Haus‹. In den Erker war ich bereits als Gymnasiast verliebt gewesen. Ultra posse nemo obligatur, proklamierte ich stets, wenn ich das Haus bewunderte. Niemand ist verpflichtet, etwas ihm Unmögliches zu leisten, heißt das, aber da wir Juden von jeher ein wenig besser sein müssen, etwas mehr leisten müssen als die anderen, war ich überzeugt, dass ich es einst schaffen würde, eine Wohnung in diesem wunderschönen Haus zu besitzen, wenn ich mir nur genügend Mühe gäbe. Als Carola eines Tages ganz nebenbei bemerkte, dass im Trierschen Haus eine Wohnung zu vermieten sei, hatten wir keine Minute lang gezögert. Zumal es im Volksmund ›Das Judenhaus‹ genannt wurde - hier wähnte ich mich zumindest als Gleicher unter Gleichen vor Denunzianten sicher.