Читать книгу Ganz für sich allein - Werner Koschan - Страница 9
6.
ОглавлениеUm Mitternacht des Silvesterabends 1944 hatte mir Bruno den Kalender in die Hand gedrückt, auf dem ich nun zum 44. Mal einen Tag abstreiche, eben den 13. Februar 1945.
»Herr Doktor, ich habe hier etwas für Sie«, hatte er zu mir gesagt, nachdem Mitternacht vorüber war und wir uns gegenseitig viel Glück gewünscht hatten. »Würden Sie mir einen Gefallen tun und ab heute jeden Tag ausstreichen?«
Ich weiß noch genau, wie ich ihm in die Augen sah und instinktiv Angst verspürte. Vielleicht hört uns trotz unserer gedämpften Stimmen irgendjemand zu, hatte ich befürchtet. Also lügen, dachte ich. »Wenn es dem Endsieg nicht schadet.«
Der Blick hielt.
»Wie unser geliebter Minister Goebbels bereits bemerkte, der Sieg ist demjenigen sicher, der ihn verdient!«, rief Bruno überlaut, stellte den Plattenspieler an und legte die Platte auf, die er mitgebracht hatte. Laut dröhnte Marschmusik, da hört jeder Denunziant betreten beiseite.
Carola und ich müssen wohl recht erstaunt gewirkt haben, denn Bruno grinste.
»Marschmusik ist in Deutschland am wenigsten gefährlich, wenn man sich ungezwungen unterhalten möchte. Die Platte ist von meinem Vater und ich wollte uns zumindest den Lieblingsmarsch des österreichischen Gefreiten ersparen. Sie dauert nur nicht lange und wenn wir sie laufend spielen, könnte man uns das durchaus als Verunglimpfung auslegen. Also kurz, Herr Doktor. Höchstens vier oder fünf Monate, dann sind diese tausend Jahre ausgestanden. Kennen Sie den Schlager von Lale Andersen: ›Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei ...‹?«
»Na ja, habe ich gehört. Ist nicht gerade sehr anspruchsvoll.«
»Deswegen singen unsere Landser schon seit November einen geradezu hoffnungsvollen Text zu der Melodie: ›... im April geht der Führer, und im Mai die Partei!‹ Leider sind wir bis dahin noch nicht aus dem Schneider. Ich bitte Sie ganz inständig, Dresden so bald als nur irgend möglich zu verlassen. Bislang sind Sie geduldet, als Jude mit arischer Ehefrau aus bester völkischer Herkunft - was für eine schwachsinnige Phrase. Die Nerven der Kerle liegen blank, die bringen im letzten Moment lieber alle um, als hinterher lästige Zeugen am Hals zu haben. Selbst als Blockwart ...«
Die Platte tat den letzten Kratzer. Bruno startete sie trotz seiner vorhin geäußerten Bedenken erneut.
»Selbst als Blockwart muss ich ganz vorsichtig sein. Spätestens im März ist der Bart ab, Herr Doktor. Entschuldigung, das mit dem Bart habe ich nur so gesagt. Hauen Sie ab in die Schweiz, nur nicht in die Sächsische. Wie hat unser trampeliger Gauleiter Martin Mutschmann doch dem ebenso trampeligen Frankenführer Julius Streicher mitgeteilt: ›In unserer herrlichen Sächsischen Schweiz ist kein Platz für Juden!‹ Sehen Sie zu, dass Sie nach Helvetia kommen. Dort wird man zwar später auch nicht daran erinnert werden wollen, dass man so vielen nicht hat helfen mögen und sie stattdessen zurück in die Gaskammern getrieben hat. Aber dort werden Flüchtlinge mittlerweile wieder lange genug verhört, um ihnen eine Chance zum Überleben zu lassen. Besonders, wenn der Verhörte Geld mitbringt. Wenn Sie irgendwann gegen Mitte Februar aufbrechen und es bis Anfang März über die Grenze schaffen, könnten Sie wirklich in Sicherheit sein. Also sehen Sie zu, dass Sie beizeiten auf Ihren Baum gestiegen sind - ich zitiere in diesem Zusammenhang sehr gerne Wilhelm Busch ›Wenn das Rhinozeros, das schlimme, dich fressen will in seinem Grimme, dann steig auf einen Baum beizeiten, sonst hast du Unannehmlichkeiten!‹ - Die Schweiz ist der Baum, auf den Sie steigen müssen, Herr Doktor! Verfügen Sie über Geld oder irgendwelche Werte?«
»Nein. Wir dürfen nichts mehr haben. Demzufolge sollten wir den Gedanken, dass wir verreisen könnten, schnell wieder vergessen. Außerdem, wo sollte ich eine Reiseerlaubnis für uns herbekommen? Als Jude? Lächerlich.«
»Überhaupt nicht lächerlich, Herr Doktor! Sie sind viel zu pessimistisch! Sie dürfen nicht länger in der Herde mittrotten und brav gehorchen! Irgendwann wird es eine Gelegenheit geben, zu verschwinden. Dann muss der Stern weg und die Papiere müssen weg. Wenn Sie jetzt aufbrechen, wird es nicht klappen. Aber in fünf, sechs Wochen sind die Strukturen völlig erledigt. Glauben Sie im Ernst, dass unter dem Umstand irgendwer nach Papieren fragt?«
»Papiere werden in Deutschland immer wichtiger sein als alles andere«, warf Carola ein. »Hat Brecht schon 1940 vorhergesehen: ›Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Schließlich kommt er auch nicht auf so einfache Weise zustande, wie ein Mensch ... Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.‹ Hat Brecht gesagt.«
»Stimmt. Brecht muss es ja wissen, letztendlich ist er ja ausgebürgert worden. Und wenn dieser Winter vorbei ist, dürfte für kurze Zeit jegliche Administration im allgemeinen Zusammenbruch unüberschaubar sein. Dann braucht es in der Stadt, in der man gerade ist, bloß einen Volltreffer im Rathaus. Ohne Listen und Unterlagen sind Beamte absolut hilflos. Vielleicht gibt es mal einen Angriff auf uns und vielleicht einen Volltreffer hier im Block. Vielleicht nicht gerade in dem Keller, in dem Sie hocken, aber irgendwo in der Nähe, dann nichts wie weg! Wenn ich selbst nicht so ein Scheißpech gehabt hätte, wäre ich längst in Sicherheit.« Bruno wirkte richtig wütend.
»Was für ein Pech?«
»Nachdem ich 1935 durchs Abitur gerasselt war, bin ich abgehauen.«
»Du bist durchs Abitur? Weswegen?«
»›Nicht genügend‹ in Deutschtümelei und das hat man mir übel genommen. Ich bereue trotzdem nichts. Ich habe in Antibes als Barmixer gearbeitet, meine Longdrinks waren der Geheimtipp dort.«
»Wo?«
»In Antibes. An der Côte d’Azur. Das ist ein ganz kleines Fischerdorf zwischen Nizza und Cannes. Dort gibt es kaum Deutsche, nur Einheimische und im Winter ein paar Engländer. Die waren ganz verrückt auf meine Drinks.«
»Antibes kennen wir. 1930 waren wir mal dort, ein netter Hafen mit der Burg darüber. Erinnerst du dich daran, Carola? Meinen 23. Geburtstag haben wir in Cannes gefeiert, weil ich kurz vorher von der sicher in Aussicht stehenden Verleihung meines Doctor iuris utriusque erfahren hatte.«
»Doktor was in was?«, fragte Bruno.
»Das bedeutet Doktor beiderlei Rechts, des kirchlichen und des weltlichen. Ich fühlte mich stolz wie Oskar. Natürlich weiß ich genau, dass mein Mentor Professor Grünbaum daran gedreht hatte, obwohl er es nie zugab. Na, auf jeden Fall hat er gedrängt, dass wir den künftigen Titel gemeinsam mit meinem Geburtstag in Cannes feiern müssten. Das haben wir gemacht, und zwar im gerade neu eröffneten ›Majestic‹ an der Croisette. Und während dieser Tage sind wir mal in Antibes gewesen. Warum bist du denn nicht dort geblieben?«
»Na, wegen dem Scheißkrieg!«
»Bruno, wenn schon, dann sag gefälligst wegen des Krieges! Kein Wunder, dass du durchs Abitur gefallen bist. Was hattest du denn mit dem Krieg zu tun?«
»Na, ich war noch Deutscher. Mein Einbürgerungsverfahren lief zu der Zeit und irgendwann im September 1939 hätte ich meine französische Staatsbürgerschaft erhalten.«
»Der Krieg hat doch erst im September begonnen.«
»Richtig. Aber französische Freunde hatten mich gewarnt, dass, wenn Paris dem Reich den Krieg erklärt, wäre ich als Deutscher plötzlich auch der böse Feind. Und meine Freunde vermuteten weiter, dass die Franzosen alle bösen Feinde zunächst mal vorsichtshalber in Internierungslager stecken würden. Darauf hatte ich nun gar keine Lust und bin Anfang August in die Schweiz abgedampft, schwarz über die Grenze. Das hat den Schweizern hingegen nicht gefallen, und die haben mich nach Deutschland abgeschoben.«
»Und?«
»Nichts und. Ein paar Monate Untersuchungshaft wegen Reichsflucht. Im Knast habe ich für die Wachen Drinks gemixt, die waren begeistert und haben mir geholfen, wo sie nur konnten. Nach der Freilassung habe ich dann in einer Fernmeldeeinheit der Wehrmacht im Offizierskasino den Barmixer gespielt. Meine Drinks waren dort genauso der Hit wie in Antibes und ich war praktisch vor jeglicher Nachstellung sicher. Im Mai 1940 ging es mit denen nach Belgien und als Clou habe ich am 22. Juni in Compiègne die Drinks zum Abschluss der Waffenstillstandsverhandlungen gemixt.«
»Du? Das gibt es nicht! Du bei jenen hohen Herren?«
»Ja. Scheißplatte, ist schon wieder zu Ende. Na gut, lassen wir eben die Rückseite laufen. So, na also. Wo war ich? Ach ja, hat ja niemand gewusst, dass ich so gerne ein Franzose wäre! Und ich habe mir gedacht, in der Höhle des Löwen wird mich der Löwe wohl nicht vermuten. Ganz einfach. Und in Paris habe ich von einem süßen Mädchen französisch sprechen gelernt wie ein Pariser. Die Kleine hat im Widerstand mitgemischt und ich habe ihr alles erzählt, was ich im Kasino gehört hatte. Besoffene Offiziere reden ziemlich viel. Françoise, so hieß das Mädchen, wollte mir helfen, mich ins unbesetzte Frankreich schaffen und mir auf den Namen Gérard Courvoisier französische Papiere besorgen. Courvoisier, weil ich diesen Cognac als Grundlage meiner Drinks benutzte. Zu Weihnachten 1942 sollte es so weit sein. Ja, Scheiße!«
»Bruno!«
»Nix, Bruno. Im November hat dann die Wehrmacht mit der Besetzung der Südzone Frankreichs begonnen. Und somit hatte ich erneut Pech. Es war unmöglich, so schnell unbemerkt die Seiten zu wechseln. Und als sich die Zeichen einer alliierten Landung in Frankreich mehrten, rieten mir meine französischen Freunde, nach Dresden zurückzukehren. Sie würden sich melden. Und so bin ich hier gelandet. Wenn irgend möglich, möchte ich nach Antibes, bevor der Krieg zu Ende ist. Denn danach wird man uns bestimmt eine ganze Weile nicht aus Deutschland rauslassen, aber ich will dort unten leben. Das Essen, die Frauen und die Sprache haben es mir angetan. Abhauen werde ich auf jeden Fall. Und wenn es in der Nähe einen Volltreffer geben sollte, wird Bruno Bierlos nicht mehr existieren, Gérard klingt wesentlich besser. Wenn es mal im Hause kracht, sollten Sie besser anderswo in einem Keller überleben. Na ja, kann man ja nicht vorhersehen.«
Der Marsch war leider zu Ende. Komisch, dass ausgerechnet ich dies bedauerte, wo ich doch Militär, Fahnen und Marschmusik für das Dümmste halte, was es gibt.
»Jawohl, Herr Doktor, Sie haben recht!«, rief Bruno überlaut. »Wenn erst die neuen Waffen des Führers da sind, werden wir es den Kerlen ordentlich zeigen. Ich wünsche ein siegreiches neues Jahr. Ich werde nun die Verdunkelung im Block kontrollieren. Zunächst einmal muss ich pinkeln. Kommen Sie, Herr Doktor, lassen Sie uns eine gute deutsche Eiche düngen.«
Ich folgte Bruno Bierlos. Jeder Horcher hätte gewusst, einem Blockwart stellt man sich besser nicht in den Weg.
»Meinst du wirklich«, fragte ich Bruno draußen, »es ist gut, einen Juden aufzufordern, eine deutsche Eiche zu düngen? Schadet womöglich der Stämmigkeit, oder?«
Bruno schwieg einen Moment lang. »Also die Verordnung ist bislang nicht raus. Wer weiß, aber ich wollte Ihnen unbedingt etwas zeigen.«
Brunos Wasser plätscherte die Eichenrinde hinunter. Bruno schaute sich zunächst sorgfältig um und dann an mir hinunter.
»Sie sind beschnitten, Herr Doktor, bedeutsam in unserer großen Zeit. Tja, ich habe auch etwas zu bieten, sehen Sie nur.«
Ein Mann schaut nicht so leicht weg, dachte ich, und blickte an Bruno hinab und wollte es nicht glauben. Der Anblick verschlug mir den Atem. Ich schaute wieder in Brunos Augen und atmete tief aus.
»Du bist beschnitten?! Kein Mensch wird einem beschnittenen Mann einen öffentlichen Posten in Deutschland verschaffen können. Und wieso bist du jetzt Blockwart?«
Bruno lachte. »Purer Zufall, Herr Doktor. Ich war acht Tage alt, als mein Vater mich beschneiden ließ. Er war 1913 zum jüdischen Glauben übergetreten. Das wusste allerdings kaum jemand. Ich habe mich lange geschämt, weil ich eben anders war als die anderen - mittlerweile bin ich stolz darauf. Und einem hinkenden Mann glotzt keiner auf den Pimmel. Nicht einmal bei der Musterung wollte man mich zum Glück eingehender betrachten. Wir Gehkrüppel waren nie gerne gesehen. Aber unser Krieg hat inzwischen so viele Krüppel produziert, dass wir mittlerweile gar nicht weiter auffallen. Nicht mal Goebbels Klumpfuß und wer weiß, vielleicht gilt das demnächst sogar als besonders schick. Womöglich plant er sogar ein Gesetz in dieser Richtung, von dem wir nichts ahnen. Hinken darf in Großdeutschland nicht als krank gelten. Beschnitten sein schon, denn das ist undeutsch! Apropos, ich wollte Ihnen ja eine komische Begebenheit erzählen. Am 9. November letzten Jahres bin ich Esel am Adolf-Hitler-Platz in einen Aufmarsch zum Heldengedenken an Wessel und den Novemberputsch gestolpert. Wie ich da nun stehe und nicht weg kann, fangen die Dummköpfe an zu grölen: ›Juden raus, Juden raus!‹ Solch einen Blödsinn muss man sich erst mal vorstellen, es gibt doch kaum noch welche. Schließlich haben die Kerle vorletztes Jahr im Juni, ich glaube am 12. war’s, die Reichsvereinigung der Juden aufgelöst, weil es im ganzen Reich gar keine mehr gäbe. Hätte ich diesen grölenden Hirnlosen am liebsten entgegengerufen.«
»Um Himmels willen, was hast du gemacht?«
»Na, was werd ich gemacht haben? Ich habe mitgeschrien ›Juden raus!‹ - Soll ich mich totschlagen lassen?«