Читать книгу Ganz für sich allein - Werner Koschan - Страница 7
4.
ОглавлениеAls uns im Dezember 1944 ausgerechnet Bruno Bierlos als Blockwart zugeteilt wurde, staunte ich nicht schlecht. Wir trafen uns im Judenkeller unseres Hauses wieder. Ob Dresden Ziel des Angriffs sein würde, war unklar. Die Erde zitterte noch nicht, das Licht schien ruhig. Bruno stand am Eingang, den Eimer und die Feuerpatsche in der Hand. Er hatte mir kurz zugenickt, dann meinen Stern entdeckt. Auf der Faust, die den Eimer trug, traten die Knöchel weiß hervor. Dann öffnete sich die Faust und der Eimer fiel mit einem Knall und laut scheppernd zu Boden, sodass alle Leute im Keller angstvoll zuckten und die Köpfe einzogen. Die Feuerpatsche landete neben dem Eimer. Bruno ergriff meine Hände und drückte mich an sich.
»Ach, Herr Doktor. Es ist schön, Sie zu sehen. Wenngleich unter diesen unerfreulichen Umständen.« Er ließ mich los und betrachtete meinen Stern. »Jetzt begreife ich, weshalb Sie so plötzlich verschwunden waren. Man hatte uns erzählt, dass Sie ... na, ist ja egal. Ich fürchte, dass nicht mehr viele übrig sind.«
»Das befürchte ich auch, mein Junge. Und dass ich noch hier bin, liegt womöglich nur daran, dass ich mit einer Arierin verheiratet bin. Bislang ist das nicht verboten.«
»Nicht nur deshalb wünsche ich Ihrer Frau ein langes Leben.«
Er küsste Carolas Hand und schaute sich im Bunker um. Obwohl von draußen nichts zu hören war, umfing uns leises Beten und das schwache Wimmern eines übermüdeten Kindes. Jeder schien nur mit seiner Angst beschäftigt zu sein. Ich wunderte mich trotzdem über Brunos Worte. So herzlich hatte uns seit Langem niemand mehr begrüßt.
Er grinste über das ganze Gesicht und flüsterte: »Der ganze Zauber dauert nicht mehr lang, Herr Doktor. Die Stimmung kippt schon langsam um. Vor ein paar Tagen habe ich eine beeindruckende Szene beobachtet. Mir kam auf der Langemarckstraße beim Reichsplatz ein zittriger älterer Mann entgegen, der während des Gehens versonnen an einem Päckchen in den Händen schnupperte und beinahe in einen Luftwaffenoffizier gelaufen wäre. Im letzten Augenblick hob das Männchen den Kopf und blieb abrupt stehen. Natürlich ließ er das Paket angsterfüllt zu Boden fallen. Ein Stück Fleisch hüpfte aus dem Papier und der kleine Mann stand zitternd vor dem Flieger und duckte sich. Zunächst hatte ich befürchtet, der Hüne scheißt den Hungerleider jetzt wegen der Unachtsamkeit zusammen. Schließlich ist Fleisch Mangelware. Und richtig, er hob das Fleischpäckchen auf, griff den einfachen Volksgenossen am Ärmel und stellte ihn aufrecht, ich konnte den Stern deutlich leuchten sehen. Die halbe Portion schlotterte vor Angst und stammelte mit zittriger Stimme: ›Behalten Sie es ruhig, gnädiger Herr.‹ Der Flieger ließ den Ärmel los, stemmte die Faust in die Hüfte, ruderte mit dem Fleischpäckchen in der anderen Hand und fragte lautstark: ›Was glauben Sie eigentlich, in welcher Zeit wir leben?!‹ Das Männchen starb geradezu und sagte leise: ›Ich bin Nichtarier.‹ Da lachte der andere kurz, schüttelte den Kopf, drückte dem Verdutzten das Fleisch in die Hand zurück und verabschiedete sich mit einem barschen: ›Das ist mir doch scheißegal!‹
Sie sehen, Herr Doktor, der Karren kippt um. Es geht langsam aufwärts, obwohl der Milchtopf nicht ganz vom Feuer ist. Ach, übrigens Milch, wie geht es dem Mäxchen?«
»Seit dem 15. Mai 1942 dürfen Sternjuden und jeder, der mit einem solchen zusammenwohnt keine Hunde, Katzen, Vögel oder sonstige Tiere mehr halten. Wir haben Mäxchen einem Bekannten in Laubegast geschenkt. In dessen Garten darf er wenigstens jagen, wenn es noch Mäuse gibt.«
»Sicherlich, Herr Doktor, aber auch leider viel zu viele Ratten. Und damit meine ich nicht die vierbeinigen.« Er winkte ab und schaute sich forschend um. Niemand schien auf uns zu achten. »Tut mir leid. Sie haben ziemlich an dem Tierchen gehangen, nicht wahr?«
»Ja, wir vermissen den Kleinen. Jedoch in dieser Hungerhölle würde er sich ohnehin nicht wohlfühlen. Vielleicht ist es besser so.«
»Wenn es vorbei ist, können Sie ihn ja zurückholen. Apropos, endlich Entwarnung. Für diesmal ist es wieder vorbei! Sowieso sonderbar, Gauleiter Mutschmann hat gerade erst großspurig versichert: ›Dresden ist tabu!‹«
Bruno öffnete die Bunkertür. Die ersten Leute verließen den Schutzraum und traten in die Dunkelheit. Wahrscheinlich hatte Leipzig den Segen abbekommen. Die armen Schweine. Wir traten hinaus auf die Schlossstraße, viele Menschen hasteten an uns vorbei. Bruno hielt mir die Hand entgegen.
»Da fällt mir etwas ein, Herr Doktor. Sagen Sie mal, was machen Sie zu Silvester?«
Brunos lockere Art ließ mich gedankenlos drauflosplappern.
»Kommt darauf an, was wir zu essen organisieren können. Ansonsten abwarten und Tee trinken. Und vor allen Dingen auf andere Zeiten hoffen.«
»Was halten Sie von einem 37er Johannisberger? Original Kellerabzug. Genau das Richtige, um den Wechsel in ein besseres Jahr zu feiern.«
Ein hohes Stimmchen meldete sich hinter uns. »Was meinen Sie mit besserem Jahr, Freundchen? Sie sollten lieber eine Knarre in die Hand nehmen und an der Front das Vaterland verteidigen, als sich hier herumzudrücken und miesmachen!« Bruno betrachtete den Mann, zu dem das Stimmchen gehörte und der den Existenzknopf auffällig am Revers trug. Dann hinkte Bruno einen Schritt auf ihn zu. Die Augen des Parteigenossen (PG) wanderten verächtlich an Bruno hinab. »Ach so einer sind Sie. Haben Sie sich das wenigstens im ehrlichen Kampf fürs Vaterland zugezogen?«
»Nein, ich hinke seit meiner Geburt. Zufrieden?«, log Bruno.
Das Parteimitglied wuchs. »Nicht diesen Ton, Sie Subjekt! So, so, nicht nur ein Deutscher, der mit einem Juden feiern will, sondern darüber hinaus ein minderwertiges Element, der Hamsterwaren besitzt, was! Vergasen sollte man solch einen Kerl wie Sie. Die Geburtskrüppel sind noch unser Untergang! Vergasen! Alle vergasen!«
Brunos Stimme durchschnitt die Luft rasiermesserscharf: »Achtung! Alle mal herhören! Ich werde das melden. Achtung, dieser Mann hat den Reichspropagandaminister schwer beleidigt! Stehen bleiben, Leute, ich brauche Zeugen!«
Der Volks- und Parteigenosse zuckte. Einige Leute blieben tatsächlich stehen. Wunderten sich, dass jemand laut wurde. Durch das Interesse einiger fühlten sich zunehmend mehr Leute angezogen, die Zahl der uns umgebenden Zuschauer stieg.
»Aber ...« Der Parteigenosse stemmte die Fäuste in die Hüften. Von einem Blockwart ließe er sich nicht derart anfahren. »Was erlauben Sie ...«
Nun schrie Bruno: »Was fällt Ihnen ein?! Name, Anschrift! Sie wollen die Hinkenden vergasen, damit haben Sie ganz offensichtlich unsern allseits geliebten Minister Goebbels gemeint. Kerl, mit Ihnen machen wir kurzen Prozess! Muss sofort eine Streife her!« Bruno zückte die Trillerpfeife und hob sie zum Mund.
Entsetzen beherrschte nun das Gesicht des PG.
Eine Frau mit erloschenen Augen trat aus der Zuschauermenge nah zu uns. »Das ist Kurt Schmidt. Wohnt in Schössergasse Nummer 12, zweiter Stock. Ich wohne ebenfalls dort in einem Zimmer, Tiefparterre. Kurt Schmidt ist aus tiefster Berufung Denunziant. Meinen Mann hat er auch auf dem Gewissen. Ich habe gehört, was er gerade über unseren Propagandaminister gesagt hat und werde es vor jedem Gericht bezeugen.« Sie blickte ihm aufrecht ins Gesicht. »Du glaubst gar nicht, wie ich die Angst in deinen Augen genieße, Kurt. Darauf warte ich seit Jahren und ich habe immer noch das dringende Bedürfnis, dich anzuspucken. Aber meine Spucke ist für deine Visage viel zu schade.« Sie spuckte vor die Füße des PG und verließ uns durch den sich langsam öffnenden Kordon der Zuschauer. Sie wirkte wie eine Fee. Elfenhaft beinahe, als schwebe sie auf einer Wolke.
Bruno wirkte wie in der Schule, wenn er wieder mal irgendeinen Schreihals vor versammelter Mannschaft an die Wand geredet hatte.
»Ich werde bei der SS über Sie Meldung machen, Herr Schmidt. Ist jemand von Ihnen ...«, Bruno wandte sich an die Umstehenden, »ist jemand bereit, mich als Zeuge zur SS zu begleiten?« Im gleichen Augenblick war die Menge auseinander. Die zwei Begriffe Zeuge und SS hatten genügt, dass die Leute davoneilten. Bruno sprach nun zum PG. »Eine Zeugin ist ausreichend, Herr Schmidt. An Ihrer Stelle würde ich so schnell wie möglich verschwinden. Freuen Sie sich inzwischen auf die Befragung! Ich denke, dass die Beleidigung des Ministers strikt bestraft werden wird. Die Guillotine ist von der SS seit Langem als viel zu human abgeschafft. Die neueren Methoden haben die Herren sich bei der Kirche abgeschaut, obschon hier bei uns die Leute bislang nicht lebendig verbrannt werden, glaube ich. Aber auch in Sachen Hängen sind die Herrschaften hoch motiviert. Zur Abschreckung natürlich nur, schließlich sind wir ein Volk von Herrenmenschen. Hauen Sie ab, ich denke, morgen früh wird man Sie abholen! Na los, oder sollen wir das direkt erledigen?« Bruno hob erneut die Pfeife an die Lippen. So viel Brutalität hätte ich Bruno gar nicht zugetraut.
Der Mann verließ den Platz mit hängenden Schultern. Ein lebender Kadaver.
»Musste das sein?«
»Ja. Der Kerl würde uns ohne mit der Wimper zu zucken anzeigen und mit Genuss aufs Schafott bringen.«
»Und was geschieht nun? Willst du wirklich eine Anzeige machen? Die arme Frau da mit hineinziehen? Außerdem glaube ich nicht, dass man einen Parteigenossen wegen einer solchen Lappalie aufhängen wird.« Ich tippte auf meinen Stern. »Ich möchte mit denen nichts zu tun haben.«
Bruno schaute sich nach allen Seiten aufmerksam um und vergewisserte sich, dass niemand mehr zugegen war. »Machen Sie sich mal keine Sorge, glauben Sie, ich will mit denen was zu tun haben? Ich werde dem Scheißkerl morgen früh erneut gut zureden. Leute, wie der, machen mittlerweile jede noch so widerliche Sauerei, bloß damit sie wenigstens ein Weilchen weitermachen können. Die wissen ganz genau, dass es mit ihrer Narrenfreiheit bald vorbei ist und dass sie dann womöglich zur Verantwortung gezogen werden. Seit dem 20. Juli hoffen ein Haufen einfacher Leute wieder und trauern nur darum, dass Hitler nicht im Sarg herausgetragen wurde.«
Obwohl die Worte lebensgefährlich waren, musste ich nach Monaten zum ersten Mal lächeln. Wortwitz à la Bruno Bierlos.