Читать книгу Ganz für sich allein - Werner Koschan - Страница 16
13.
ОглавлениеIch erwache auf dem Rücken liegend und bemühe mich, von dem Sog der Luft nicht einfach über den Straßenbelag weggezogen zu werden. Ich mache mich ganz steif und kralle die Finger in den Boden. Was war nur geschehen? Irgendetwas hat mich umgehauen. Wenn ich richtig kombiniere, hat mich der Sog infolge eines sehr nahen Einschlags zurück auf die Straße gezerrt. Ich habe zwar keine detaillierte Erinnerung, aber ich muss ganz offensichtlich gestolpert und auf den rauen Straßenbelag gefallen sein. Der Rucksack hat wohl die Heftigkeit des Sturzes gemildert, nur meine Schulter schmerzt und die Hände sind aufgeschürft. Mein Hut liegt einige Meter neben mir unter einer steinernen Platte. Ich krieche an den Boden gedrückt hin und als ich ihn aufhebe, fällt mein Blick auf den Zeughausplatz und die lange Mauer zwischen den Häusern, die jetzt an einigen Stellen durchbrochen ist. Aber weder von dem Posten, noch von der schweren Eisentür, die er bewacht hatte, ist eine Spur zu erkennen. Na ja, der Held hat seine Pflicht erfüllt. Schön für sein Ehrgefühl, zerfetzt im Traum von heldisch herrlichen Zeiten, wie sie den Jungs versprochen werden. Sonderbar, denke ich, während ich unter dem Sturm zurück zum Zeughaus zu kriechen versuche, mein Mitleid bewegt sich in ziemlich engen Grenzen. Ein Pferdegespann rast vom Sturm geschoben an mir vorbei, obwohl die zwei Tiere sich krampfhaft zu wehren versuchen und verschwindet dann in einer der weißglühend brennenden Ruinen.
Die ruhig über mich hinwegschwebenden Flugzeuge wirken kein bisschen furchterregend, sondern geradezu majestätisch. Wer weiß, vielleicht bin ich ja überhaupt nicht mehr bei Sinnen, sondern mein Gehirn spinnt im Verlauf der Agonie milde gutmütige Bilder? Dagegen spüre ich die Schmerzen am ganzen Körper recht real. Auf allen vieren erreiche ich die Tür des Hauses in der Zeughausstraße, ziehe mich am Türgriff auf die Beine und schiebe mich dann mit dem Rücken an der Wand durch den Durchgang zur Hoftür hin.
Wo mag nur Carola geblieben sein? Sie war bereits im Haus gewesen, als ich durch den Sog wieder hinausgeflogen bin. Draußen habe ich keinerlei Spur von ihr entdecken können, sie war wohl hoffentlich nicht mit mir hinausgeschleudert worden. Ich denke an die Pferde und staune, dass ich selbst liegen geblieben war und hoffe Carola in dem Arierkeller in Sicherheit. Ich ziehe kurz in Erwägung, nachzusehen, aber als Besternter lasse ich das dann doch besser sein.
Die fallenden Bomben surren. Diesmal gilt es eindeutig unserer Gegend. Ein weiterer naher Einschlag bestätigt meine Vermutung. So nah habe ich das bisher nie erlebt. Mit wenigen Sprüngen schaffe ich es über den Hof und erreiche die Tür des Judenkellers. Die steht wie immer offen. Wir Juden dürfen uns nun mal nicht so einfach einschließen, das darf man nur mit uns tun. Von innen hängen mehrere Lagen nasser Decken vor der Tür. Ich suche vergeblich Carola zu entdecken. Einige Sternträger kauern neben der Tür. Mehrere haben sich in den hinteren Teil des Kellers gehockt. Ich will lieber bei der Tür bleiben. Dort ist man etwas ungeschützter, dafür schneller draußen. Ein Fenster besitzt der Raum nicht. Deswegen gilt er als relativ sicher gegen Brand und Splitter. Nur durch die Tür droht Gefahr. Und natürlich bei einem Volltreffer.
Es stinkt erbärmlich. Ängstliche Körper dünsten an sich schon mehr als normal. Und wenn dann die Luft stickig wird, verstärkt sich diese Belastung. Es ist ohnehin schwierig genug, mit der eigenen Angst umzugehen. Aber die Furcht der anderen Menschen zu riechen, wirkt lähmend und erdrückend. Ich atme so flach wie nur möglich. Schwere Einschläge lassen Wände und Boden zittern.
Plötzlich werden Tür und Decken vom Luftdruck heftig nach innen aufgestoßen. Der heiße Türgriff schlägt mir gegen das Gesicht. Blendende Taghelle umfängt uns. Gleißende Hitze prallt uns entgegen. Mechanisch taste ich mein Gesicht ab und befühle die Wunde. Die Hand glänzt dunkel und feucht vom Blut, seltsamerweise bleibt der zu erwartende Schmerz aus. Wird so schlimm nicht sein.
Ein halbes Dutzend Zwangsarbeiter, der Sprache nach zu urteilen vermutlich Tschechen, drängt an mir vorbei ins Freie. Wo die wohl hergekommen sein mögen? Sicherlich haben die armen Hunde den unerwarteten zweiten Angriff innerhalb weniger Stunden genutzt, um von einem mit absoluter Gewissheit in den Tod führenden Arbeitseinsatz, in die immerhin mögliche Sicherheit eines Judenkellers zu fliehen. Wenn schon Zwangsarbeiter einen solchen Schritt wagen, scheint es in der ganzen Stadt weitaus schlimmer zu sein, als ich bisher vermute. Ich denke an Bruno Bierlos. Wenn die behördliche Struktur ordentlich was abbekommen haben sollte, wird sich kein Mensch um einen noch lebenden Juden kümmern und mich am Freitag ins Gas schicken. Dank dieses Angriffes hat sich mein Leben unter Umständen grundlegend geändert, aber zunächst einmal muss ich diesen Angriff überleben, sinniere ich. Dann Carola finden und anschließend müssen wir so schnell es geht aus der Stadt abhauen. Bierlos und Ehrhardt haben recht, nur weg, irgendwohin, wo uns kein Mensch kennt. Und dort verstecken, bis der Spuk vorüber ist. Die Zeit Hitlers und seiner Mörderbande neigt sich dem Ende entgegen, freue ich mich, obgleich das leider viel zu langsam geht.
Ich weiß nicht weswegen, instinktiv springe ich hinter den Tschechen her. Den Rucksack mit den wenigen Habseligkeiten, die uns die SA trotz ständiger Wohnungsdurchsuchungen noch nicht gestohlen haben, halte ich nun mit beiden Händen fest. Denn Carolas Schmuck steckt in der stählernen Schmuckschatulle, die wohlweislich wie ein Buch aussieht. Bei sämtlichen Kontrollen hatten die Herrschaften dieses Buch nicht einmal angesehen. Mag ja sein, dass Uniformträger nicht gern lesen. Dieses Spezialbuch spüre ich durch den Stoff des Rucksacks und halte es verkrampft mit der Hand. Vielleicht würde der Schmuck uns den Weg in die Freiheit ermöglichen. Der alte Hut ist mir irgendwo vom Kopf gefallen. Ich stolpere und stürze durch die Hoftür den Tschechen nach in den Flur des Hauses. Hockend beobachte ich die Straße.
Einer der Tschechen schleicht gebückt durch die Haustür von der Straße zurück und kniet sich neben mich. Warum bin ich nur den Leuten gefolgt? Was ist hier in diesem Flur besser als in dem Judenkeller? Und weshalb ist dieser eine Tscheche nun zu mir zurückgekehrt? Möglicherweise halten wir uns gegenseitig für Glücksbringer. Ich möchte zum Arierkeller und nach Carola suchen. Hinter uns zerreißt ein ohrenbetäubendes Krachen die anderen Geräusche, das ganze Haus zittert. Die Hoftür fliegt polternd durch den Flur und bleibt diagonal zwischen dem Treppengeländer und dem Mauervorsprung der Tür zum Arierkeller stecken. Von einer zur anderen Sekunde herrscht im Flur Backofentemperatur. Wie heiß muss es erst draußen sein? Der Tscheche springt auf und tritt mehrmals kräftig gegen die untere Ecke der schräg eingeklemmten Hoftür, bis ein Stück Mauerwerk von dieser Ecke abplatzt und die Tür zu Boden fällt. Er schiebt sich an der Wand entlang langsam Schritt für Schritt zum Hof hin, einen Arm zum Schutz vor den Flammen und der Hitze vor die Augen haltend. Schließlich stoppt er, pfeift und winkt mir, zu ihm zu kommen. Mir stockt der Atem. Statt Hof und Judenkeller ist nur ein tiefer, brennender Krater zu sehen. Der Tscheche ist wohl tatsächlich mein Glücksbringer.
Er wendet sich zu mir um, schüttelt den Kopf und läuft durch den Flur zur Haustür. Er schaut hinaus und deutet mir, ihm zu folgen. Eigentlich hätte ich doch zunächst nach Carola suchen wollen, aber ohne zu denken folge ich ihm auf die Zeughausstraße. Nun scheint ausnahmslos alles zu brennen. Mein Glücksbringer zieht mich am Ärmel mit sich. Immer wieder müssen wir ausweichen, weil irgendetwas Brennendes vor uns liegt oder zu Boden fällt.
Wir laufen planlos durch Straßen, die ich nicht mehr erkenne. Ganze Straßenzüge sind mir wildfremd. Irgendwann stehen wir geduckt in einem offenen Hauseingang und drängen uns aneinander, als würde das wenigstens einen von uns beiden schützen können.
Vor uns liegt ein großer, freier Platz, in dessen Mitte ein ungeheurer Krater versinkt. Obwohl Dresden meine Geburtsstadt ist, habe ich nicht die geringste Ahnung, wo wir uns befinden.
Zitterndes Grollen von irgendwo her, explodierendes Krachen in der Nähe, heißer Sturm und blitzende Helligkeit überall. Keine Chance, mich zu orientieren. Zu meinem eigenen Erstaunen denke ich nichts. Bin ich als studierter Jurist nach diesen zwölf Jahren verordneter Dummheit und verlogener Kleinbürgerlichkeit bereits so abgestumpft? Ich spüre nicht einmal Angst. Lediglich eine enorme Spannung in mir lässt das Blut kochen, aber das kann an der hohen Temperatur um mich herum liegen. Die Apokalypse menschlichen Größenwahns, überlege ich, so sieht also das Ende aus. Nicht weit vor mir kracht es berstend. Der Tscheche zieht mich kraftvoll bei einem Schutthaufen zu Boden.
Das ausgebrannte Gerippe eines ehemaligen Hauses stürzt in sich zusammen und wir drücken die Gesichter an die heiße Erde. Ich warte darauf, dass Trümmer, Splitter oder irgendwelche Brocken auf mich fallen würden und halte den Atem an. Genugtuung lässt mich sardonisch lächeln bei dem Gedanken an die Geschichten, die man sich erzählt von den hohen Herrenmenschenherrschaften, die in Berlin täglich in ihren besonders sicheren und außergewöhnlich tiefen Kellern in der Wilhelmstraße 102 und ein Stück weiter, Ecke Voßstraße unter der Reichskanzlei sitzen, und sich mutig mit Drogen ablenken, und sich trotzdem die Hosen vollschissen. Genau vor uns kracht es. Ein Haus zerplatzt funkensprühend und brennende Balken und Möbel landen ringsum. Ich denke, dass uns weniger feinen Volksgenossen die Schadenfreude auch nicht hilft, die wir praktisch ungeschützt verrecken.
Nach einigen endlosen Augenblicken klettere ich hinter dem Tschechen über eine Geröllhalde oder eine Brüstung oder was Ähnlichem ins Freie und stürze mich neben ihm in den Krater und hoffe, dass die Landser recht haben mit ihrer Behauptung, dass niemals eine Bombe oder Granate dahin fällt, wo schon eine hingefallen war.
Ich verharre ein Weilchen fest an den Boden gedrückt. Der Tscheche liegt auf dem Rücken und schaut in den Himmel. Die Einschläge hören sich nicht mehr ganz so nahe an und ich klettere den Trichter aufwärts bis zum Rand. Vor mir steht ein Haus, dessen Straßenschild auf dem Gehweg liegt und ich verspüre urplötzlich den Drang, dort nachzuschauen, wo ich mich denn nun befinde. Vielleicht hilft es ja später etwas, wenn man weiß, wo es einen erwischt hat, denke ich und schwinge mich gerade über den Rand meines Trichters, als jemand meinen Namen ruft. In dem demolierten Schuppen neben dem Backsteinhäuschen erkenne ich meinen Kollegen Blumenthal, er trägt seine kleine Tochter auf dem Arm. Das Kind weint leise wimmernd. Ich laufe schnell zu ihm hin.
»Können Sie mir sagen, wo wir sind?«, frage ich ihn.
»Ich weiß überhaupt nichts mehr. Meine Leute habe ich aus den Augen verloren.« Er scheint erschöpfter zu sein als ich. Der Tscheche hat sich mittlerweile zu uns gesellt. Ein Dachbalken schlägt prasselnd und funkensprühend neben uns auf den Asphalt der Straße. Durch die große Hitze ist der Teer weich geworden. Rund um den Dachbalken brennt er nun. Wenn die Straßen erst mal zu brennen anfangen, wird eine Flucht kaum mehr möglich sein. Ich sehe Blumenthal an.
»Es wird zu heiß, die Straße brennt schon. Wenn der Teer schmilzt, sitzen wir hier fest.« Ein weiterer Balken kracht auf die Straße. Winzige Teerspritzer treffen die Haut sehr schmerzhaft. Mein Gesicht pocht heftig. Seltsam, die Verletzung hatte ich total vergessen. Und nun arbeitet mein Gehirn in eine völlig andere Richtung. So heftig hatte mein Gesicht nämlich zuletzt gepocht, erinnere ich mich, als ich für einen Mandanten den Freispruch vom Vorwurf des Widerstands gegen die Staatsgewalt durchgesetzt hatte. Er hatte am Abend des schwärzesten Montags der Weltgeschichte, dem 30. Januar 1933, auf ein Plakat der NSDAP mit schwarzer Farbe gemalt: ›Heute beginnt der 2. Weltkrieg!‹
Die gegen ihn anstürmenden Braunhemden hatte er sich mit der Waffe in der Hand vom Leib gehalten, bis ordentliche Polizei eintraf. Der hatte er sich ergeben. Und meinem Argument in der Verhandlung, dass Braunhemden an jenem Tag noch keinerlei Staatsgewalt darstellten, ist der Richter gefolgt. Danach habe ich elf Jahre lang nichts mehr von dem Mandanten gehört, bis ich Doktor Faber letzten Sommer in der Pfotenhauerstraße getroffen habe. Aber nach der Urteilsverkündung hatte mein Gesicht vor Freude geglüht, so wie jetzt. Greinen weckt mich aus den Gedanken.
Das Kind weint lauter. Kann ich gut verstehen. Wenn ich ein Kind wäre, würde ich auch weinen. Wohin könnte man das arme Würmchen bloß in Sicherheit bringen? Ich schaue mich um und greife nach Blumenthals Arm. »Mensch, Blumenthal, wir stehen zwar inmitten einer Höllenwüste, aber das Gebäude erkenne ich sogar in dieser Wüste wieder!«
Ich weise mit der Hand auf einen dreistöckigen Bau, welcher kaum fünfzig Meter von uns entfernt steht. Die Fenster der unteren Etage sind in Bogenform verkleidet. Die der ersten Etage zieren aufgesetzte Spitzdächer und die der zweiten Etage sind gerade gehalten. Diese Fassadenanordnung hat mich von jeher belustigt, weil ich beim Anblick der Fassade stets an meinen Kollegen Schibulski aus Berlin denken muss.
Er hatte sich 1927 oder 1928 ein Haus in Spandau bauen lassen und ich hatte ihn in jener Zeit gelegentlich besucht. Während eines Besuches hatte er mich zu seiner Baustelle geführt, um mir stolz den Fortschritt der Arbeiten zu zeigen. Wir standen damals im künftigen Vorgarten und betrachteten den Bau, da trat ein wahrer Koloss mit Kappe und Schnurrbartbürste zu uns.
»Chef, der Rohbau is fertig«, sprach der Berliner Bauhandwerker. »Und wat for ’n Stil soll nu an de Fassade?«
Seitdem muss ich jedes Mal, wenn ich an dem Gebäude der Niederlassung der Dresdner Bank in der König-Johann-Straße 3 vorbeikomme, schmunzelnd an die Begebenheit in Spandau denken. Und nun im Inferno der Bombennacht erkenne ich das Gebäude an eben dieser Fassade. Komische Zufälle gibt es im Leben, man glaubt es kaum.
»Das ist die Dresdner Bank, so viel erkenne ich noch. Die Hakenkreuzflaggen über dem Gebäude sind verbrannt; eigentlich ein gutes Zeichen, aber davon mal abgesehen, ist die Bank solide gebaut. Prima Marmor, brennt überhaupt nicht. Ich war früher mal Kunde dort und hatte sogar einen Tresor. Bevor man mich enteignet hat. Der Keller ist tief und solide, da werden zwar die hohen Herren sitzen, doch wenn wir es wenigstens bis in die Halle schaffen, sind wir vielleicht gerettet. Los jetzt, kommen Sie! Da müssen wir rein!«