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Bruno Bierlos. Sehkraft wie ein Maulwurf. Trotzdem übersahen seine klugen Augen hinter den minus 8 Dioptrien starken Gläsern auf der Stupsnase nichts Wesentliches. Als 1933 der Schulsport völkische Pflicht wurde, hat er sich vom Kletterseil fallen lassen und sich eine Hüfte gebrochen. Er hinkt infolgedessen leicht, und war seitdem von zumindest der vormilitärischen Pflichtübung der Körperertüchtigung befreit. Dass er sich bewusst fallen lassen hatte, konnte man ihm nie beweisen. Keiner der neuen Helden nahm ihn für voll, denn er grölte keine Parolen. Allerdings brachten ihm seine schlagfertigen Argumente gelegentlich Prügel ein. Er galt als Außenseiter. Aber sein Gehirn war aufnahmefähig wie ein feuchter Schwamm.

Seit Mitte der Zwanzigerjahre war die Arbeitslosigkeit gestiegen und der Staat konnte sich kaum Lehrkräfte leisten. Es herrschte reichsweit Lehrermangel und ich gab deswegen zu meinem eigenen Vergnügen und völlig kostenlos Nachhilfestunden in Deutsch am Gymnasium. Bis mich im Frühsommer 1933 der Deutschlehrer der Anstalt, Herr Oberstudienrat Güntz ansprach. Er wunderte sich über die urplötzlich nur noch bestenfalls genügenden Leistungen von Bruno Bierlos im Deutschunterricht. Güntz wusste, dass mir Bruno Bierlos etwas förderungswürdiger erschien als die meisten anderen und bat mich, mit Bruno zu reden. Bis dato hatte er in sämtlichen Fächern gut oder besser gestanden und so fragte ich ihn nach dem Grund seiner schlechten Deutschnoten.

»Mein lieber Herr Doktor Löwenthal, Deutschtum ist ja nun Pflicht und das liegt mir nicht so«, hatte er schmunzelnd erklärt. Der junge Mann zeigte Charakter, die meisten Menschen in Deutschland vor lauter Dickfelligkeit nicht einmal Rückgrat.

Bruno schwieg zwar, um nicht aufzufallen, aber er verweigerte sich konsequent den völkischen Pflichten. Sich aus Parteiorganisationen herauszuhalten gelang ihm leicht, denn seine körperliche Schwäche blieb augenscheinlich. Krüppel passten bereits damals nicht in Goebbels Propagandabild. Wer mag schon an die eigene Missbildung erinnert werden?

Anfang 1934 durfte ich nicht mehr ins Gymnasium. Die arische Jugend dürfe nicht Nachhilfe von einem Untermenschen erhalten, so hieß es. Juden unerwünscht! Mir hatte man lediglich einen Zettel an unsere Wohnungstür genagelt, auf dem geschrieben stand: ›Juden dürfen das Schulgelände bei Strafe nicht mehr betreten. Ab sofort! Unwiderrufliche Entscheidung der Reichsschulleitung. Widerspruch zwecklos.‹ Hakenkreuzstempel und unleserliche Unterschrift.

So verlor ich Bruno leider aus den Augen. Und wenn man auf der Abschussliste steht, hält man sich besser zurück, forderte Carola.

Am Montag, den 16. September 1935 wurde mir der Beschluss über mein Berufsverbot als Jurist eingeschrieben zugestellt. Ich sei kommunistischer Umtriebe überführt, lautete die Begründung, da ich mit der Sonntagsausgabe des Neuen Vorwärts vom 8.9.1935, in welcher Otto Wels gegen die nationalsozialistische Rassenhetze eintrat, auf dem Neumarkt angetroffen worden war. Man unterzog mich eines Schnellverfahrens ohne Anhörung. Folge, wie gesagt, das Berufsverbot und der Einzug meines Vermögens sowie Androhung weiterer Repressalien. Seit dem Tag bin ich vorsichtiger denn je. Schließlich habe ich sogar noch Glück gehabt.

Riebelutz, der Nachbar Kowalskis aus der Wilsdruffer Straße hatte mir erzählt, dass der Familie Kowalski einen Monat zuvor weit Übleres geschehen war. Kowalski hatte mit seinem Handkarren einem arischen Mädchen nicht rechtzeitig ausweichen können, das an der Hand ihrer Mutter übermütig herumtollte und gegen den Karren gestolpert war. Für diesen Verkehrsunfall mit Personenschaden (Urteil: Körperverletzung durch Übertretung der Fahrzeugverordnung) erhielt er 10 Mark Strafe. Das reichte, um bei Kowalski das ›Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen zum Schutze des deutschen Blutes‹ von 1935 anzuwenden, ihm die Staatsangehörigkeit abzuerkennen und mit Frau und den Töchtern nach Polen abzuschieben. Gerade mal zwei Stunden Zeit hatten sie gehabt, persönliche Gegenstände in zwei Koffer zu packen, denn mehr war nicht erlaubt, dann wurden sie mit anderen Ausgewiesenen auf der Ladefläche eines Wehrmacht-Lkw unter bewaffneter Bewachung zum Bahnhof Neustadt transportiert. Als Fremdblütigen, nunmehr Ausländern, war es ihnen untersagt, sich bei der Sparkasse mit Bargeld vom eigenen Konto zu versorgen. Ob Kowalskis in Polen angekommen waren, wusste Riebelutz nicht. Als er mir dies erzählte, hatte ich wütend die Fäuste in den Manteltaschen geballt.

Aber schon im großen Krieg, der mittlerweile der Erste Weltkrieg heißt, habe ich mir, frei nach Shakespeare, immer gesagt: Der bessere Teil der Tapferkeit ist Vorsicht. Und in dem idiotischen Taumel, in dem wir heute leben, halte ich mich äußerst strikt an diese Devise, denn gegen die großdeutsche Gesinnung kann man im Augenblick nichts machen. Ich verhalte mich wie ein Kamel, ja wie eine Seele von einem Kamel und bin damit bisher sogar ohne größere Vergeltungsmaßnahmen durchgekommen. Carola hält mich für einen Feigling, das weiß ich. Doch ich bin erst während der vergangenen zwölf Jahre zu einem Feigling geworden.

Und außerdem hat Carola mich ja darin bestärkt, keine Rechtsmittel gegen die Reichsschulleitung einzulegen, weil Recht in Deutschland mittlerweile eine sonderbare Sache geworden ist. Recht hat nämlich nur Rechts, der Rest hat die Schnauze zu halten. Und das tue ich, denn ich halte Schweigen im Moment für wesentlich klüger. Glück braucht man natürlich auch und beinahe schäme ich mich für meinen Massel.

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