Читать книгу Ganz für sich allein - Werner Koschan - Страница 17
14.
ОглавлениеWir stolpern durch Flammen, an glühenden einstürzenden Häusern vorbei und der unsichtbare Sturm zieht uns weiter. Beinahe, als würde man durch einen Windkanal vorangezogen. Es riecht nach morschem Brennholz und Schwefel; wenn es eine Hölle geben sollte, muss es dort genauso riechen. Diesen Geruch werde ich nie mehr in meinem Leben vergessen können. Die Hitze wird immer unerträglicher. Schließlich erreichen wir den sehr stabil aussehenden Eingangsbereich des Bankgebäudes, das wie ein von Arkaden durchbrochener Vorbau wirkt. Vielleicht ist diese Bank, welche den Namen unserer Stadt trägt uns jetzt zu etwas nutze, hoffe ich. Viel geschehen ist dem Gebäude offensichtlich nicht. Die Bombeneinschläge scheinen in dieser Gegend vorläufig vorüber zu sein. Aber die Unzahl der Feuer, die nun lodern, lassen die Tragweite des Angriffs noch viel fürchterlicher erscheinen. Dagegen kommt mir der Angriff von vor ein paar Stunden fast lächerlich vor. Ich habe das Gefühl in einem Amphitheater zu stehen, umgeben von hohen Gebäuden statt Zuschauertribünen, über deren Dächern ein gleißender Lichtschein steht. Überall um uns herum muss es brennen. Einzelheiten sind für das bloße Auge nicht mehr zu unterscheiden. Ich lausche dem bisher nie gehörten Lärm. Ein Inferno incremento furioso.
Im Portal des Bankgebäudes fühle ich mich völlig ruhig. Als stünde ich im Zentrum meiner selbst ohne jegliche Nervosität. Blumenthal wirkt dagegen wie ein gejagtes Wild, zumal das leise weinende Kind auf dem Arm seinen Nerven mehr als alles andere zusetzt. Auch ich hätte eigentlich mit dem Schicksal hadern und um Erlösung flehen müssen. Aber in der Thora findet sich meines Wissens nichts im Sinne der Apokalypse und des Weltendes und der Rettung der Seelen durch Jehova. Ich betrachte ruhig das Inferno und halte das Fehlen der Beunruhigung fast für eine Unterlassungssünde. Denn das Weltende findet gerade um mich herum statt und nun wäre der richtige Zeitpunkt für die Rettung. Wiederauferstehung des Geistes ist ja eine feine Sache, nur welcher Geist soll aus dieser Hölle wiederauferstehen? Was wohl Carola macht? Hoffentlich ist sie in Sicherheit.
Nach einer Weile des Grübelns bemerke ich einige Leute, die anscheinend ebenfalls innerhalb des Bankgebäudes Schutz gesucht hatten. Diese Menschen treten nun vorsichtig zu uns ins Portal der Bank. Sie spähen ins Freie. Die Flugzeuge sind davongeflogen. »Vielleicht sammeln sie sich bereits zum nächsten Schlag«, befürchtet eine Männerstimme. »Wir müssen zur Elbe hinunter. Wenn wir bis dorthin durchkommen, sind wir gerettet.«
Als wenn dieser Ruf eine göttliche Erleuchtung wäre, stürmen die anderen Menschen los. Sogar Blumenthal läuft mit dem Kind auf dem Arm vorwärts. Die verängstigten Leute folgen dem Rufer automatisch. Ebenso der einzelne Tscheche - mein Glücksbringer - folgt der Menge.
Ich sehe ihnen hinterher, spüre ein seltsames Gefühl im Bauch und glaube, verrückt zu werden. Ich höre ganz deutlich Carolas Stimme, sie ruft eindringlich: »Jakob, du darfst nicht wieder weglaufen! Du darfst nicht den Kopf in den Sand stecken! Nimm endlich dein Leben in die eigene Hand. Lass dich nicht länger drangsalieren! Zeig hier und jetzt, dass du ein wertvollerer Mensch bist als dieses Volk von Mitläufern und willigen Mördern. Jakob ... Jakob ... Jakob!« Es kommt mir so vor, als würde sich Carolas Stimme in Richtung Eingangshalle des Bankgebäudes bewegen. Da muss ich hinterher.
Obwohl mir der Zutritt zu diesem Gebäude strengstens untersagt ist, folge ich nun Carolas Ruf. Ich betrete die Halle, welche den gleichen soignierten Eindruck auf mich macht wie seinerzeit, als ich selbst Kunde hier war. Seltsamerweise riecht es nicht so nach Brand und Katastrophe, wundere ich mich, sondern nach Wohlstand und Sicherheit. Ach, wie lange habe ich diesen Geruch nicht mehr gekostet.
Erneut glaube ich Carolas Stimme zu hören. »Wenn du nicht fortläufst, wird alles gut werden und wir werden uns wiedersehen! Du musst nur mutig sein!«
Ich bin fest überzeugt, dass ich in diesem Moment absurd wirken muss. Ich schaue mich mehrmals um. Wie soll ich denn Carolas Worte in die Tat umsetzen? Mutig. Ausgerechnet ich. Ein Jurist, ein jüdischer dazu; in einem Land, das aus der ganzen Welt einen blutigen Schlachthof gemacht hat. Ich soll mit einem Mal mutig sein? In einer reichlich zerstörten Stadt, daselbst allerdings in einem scheinbar intakten Bankhaus. Grotesk. Was soll ich hier? Soll ich vielleicht Rache nehmen? Vor allem, wie soll ich Rache nehmen? Womit? Gegen wen? Nun gut, ich könnte die Akten anzünden. Brand legen. Aber der würde ja vermutlich sowieso bald von selbst entstehen. Außerdem bin ich kein Brandstifter!
Moment mal, denke ich. Momentchen bitte mal! Wer hat denn etwas von Rache gesagt? Carola hat darum gebeten, dass ich nicht einfach abhaue. Vielleicht ist ja durch den Luftdruck, der die Türen eingedrückt hatte, irgendetwas geschehen, auf das sie mich mit der Nase stoßen will. Wenn ich schon ihre Stimme höre, hat das sicherlich was zu bedeuten!
Ich schaue mich in der Halle der Bank um. Es besteht kaum ein Zweifel, ich bin allein. Ist bestimmt Schicksal, dass die Glastüren zerbrochen sind. Normalerweise wäre ich ja gar nicht in den Kasten hineingekommen. Nun schaue ich mich bewusst aufmerksam um. Es hat sich seit früher kaum etwas verändert. Versteht sich ja eigentlich von selbst, eine Bank ist traditionsbewusst.
Im Schalterraum brennt kein elektrisches Licht, jedoch durch die Feuer in der Umgebung fällt genügend Helligkeit ins Gebäude, um ausreichend zu sehen. Ich kann mich nahezu mühelos zurechtfinden. Zögernd betrete ich den Schalterraum, verharre eine Weile vor dem Informationsschalter, an welchem ich mich damals immer angemeldet hatte, wenn ich etwas in meinem Schließfach deponieren wollte oder daraus etwas zu entnehmen gedachte. Im Schalterraum war nur recht wenig durcheinandergewirbelt. Ich schaue mich suchend um. Niemand ist zu entdecken. Die breite Treppe, welche ich früher hinabgegangen war, um zum Schließfach zu kommen, scheint mich wiederzuerkennen und lädt zum Betreten ein. Ich steige Stufe für Stufe vorsichtig hinab. Der Schimmer der Brände beleuchtet sogar noch den Keller.
»Hallo!«, rufe ich. »Hallo, ist hier jemand? Wenn jemand da ist, geben Sie ein Zeichen, damit ich Ihnen helfen kann.«
Niemand antwortet, und vorsichtig erreiche ich den Platz vor dem Tresorraum. Dessen schwere Stahltüren sind geschlossen.
Es gibt niemanden, dem ich hätte etwas erklären müssen. Umso besser, so kann ich ein wenig zur Ruhe kommen und nachdenken. Zunächst würde ich eine ganze Weile im Keller der Bank bleiben. Weiß der Himmel, ob der Bombenterror noch mal von vorne losgeht. Das ganze Ausmaß der Katastrophe kann man sowieso erst bei Tageslicht ermessen. Vielleicht wäre es sinnvoll, bis zum Morgen zu warten? Aber was sollte dann Carolas Rufen? Wieso sollte sie mich ausgerechnet an diesem Ort vermuten? Was, wenn sie unterdessen durch ganz Dresden läuft, um mich zu suchen? Wenn sie überhaupt herumlaufen kann. Bloß nicht dran denken. Schon allein die Vorstellung, Carola läuft in Todesgefahr durch das brennende Chaos und ich hocke hier gemütlich in zeitweiser Sicherheit. Ich habe Angst und Hunger. Nun gut, dieses Gefühl kenne ich seit Jahren. Zusätzlich habe ich einen Mordsdurst. Wasser hatte bisher wenigstens immer genügend zur Verfügung gestanden. Woher soll ich wissen, wo es in diesem Gebäude was zu trinken gibt? Vielleicht sind ja die Leitungen in den Toiletten intakt? Will ich doch sofort mal nachschauen.
Also steige ich die Treppen wieder hinauf und gehe vorsichtig zu den Toilettenräumen für die werte Kundschaft. Bin ich ja auch - nun ja, war ich zumindest mal. Nichts hat sich verändert, außer dass es nun ein wenig unordentlich wirkt. Ich drehe einen Wasserhahn auf, nichts. Ebenso der zweite und dritte Hahn bleiben trocken. Die Fensterscheiben hat’s zerrissen und Papierrollen liegen wüst am Boden verstreut. Ich halte den Atem an; eine schwelende Stabbrandbombe ist wohl durch ein Fenster in den Raum gelangt und hat die Papierrollen in einer Ecke des Toilettenraumes angekokelt. Wenn das Ding jetzt zündet, brennt es lichterloh und ich gleich mit. Löschen, unbedingt löschen ist mein erster Gedanke. Die Frage ist, wie, da die Wasserleitungen trocken sind.
Unwillkürlich denke ich an Bruno Bierlos während der Silvesternacht; ob ich auf die gleiche Art hier löschen soll, wie wir damals die Eiche gewässert hatten? Nein danke, wozu soll ich denn etwas riskieren? Selbst wenn Toilettenpapier Mangelware ist, diese wohlhabende Hausbank des Führers wird diesen Verlust sicher verkraften - haben schließlich genügend von uns enteignet! Ist das jetzt ausgleichende Gerechtigkeit? Was geht es mich an? Schwere Einschläge ganz in der Nähe lassen das Gebäude zittern und prompt fällt mir wieder ein, was um mich herum in Dresden geschieht und wie lächerlich mein Durst eigentlich ist. Wenn schon eine Brandbombe durchs Fenster ins Haus gefallen ist, kann ohne Weiteres durchaus ein Wohnblockknacker durchs Dach einschlagen, dann ist hier Schluss. Wohin, mein Gott, wohin kann ich nur verschwinden?
Ich höre ein metallisches Geräusch aus dem Keller. Oh Gott, hoffentlich kracht nicht gleich das Haus ein. In neugieriger Panik eile ich zur Kellertreppe und sehe gerade noch, wie die Stahltür zum Tresorraum geschlossen wird. Eine junge Frau steigt rasch die Treppen empor und bleibt unvermittelt stehen, als sie mich entdeckt. Sie blickt mich zweifelnd an. »Wo kommen Sie denn her?«
»Aus der Toilette«, antworte ich beinahe wahrheitsgemäß.
»Was wollen Sie denn dort?«
»Fragen Sie mich das jetzt im Ernst?«
Sie lächelt tatsächlich kurz, wirkt dennoch gehetzt. »Nein, natürlich nicht. Das kann ich mir denken. Wie kommen Sie denn in die Bank? Wir haben geschlossen.«
Sie hat den oberen Absatz der Treppe erreicht und steht mir nun gegenüber. Ihr Blick fällt auf den Stern an meiner Brust. Ihre Augen weiten sich. »Mann, sind Sie irre?«
»Halten Sie Juden für Irre?«
Sie schaut die Treppenstufen hinab. »Nein, Irre sind die anderen und davon sitzen ein paar als Luftschutzwache unten bei meinen Kollegen im Tresorraum. Wir sind 16 Leute zum Nachtdienst und zur Luftschutzwache. Die andern 15 sind dort unten und wenn einer auf die Idee kommt, oben nach dem Rechten zu sehen und findet Sie, knallt man Sie ab wie einen tollen Hund. Sie dürfen doch gar nicht hier sein.«
»Das weiß ich selbst. Danke. Ich hatte nur den inneren Drang eventuell helfen zu wollen.«
»Denen ist nicht mehr zu helfen.« Sie weist mit dem Kopf zum Keller. »Mich wollten sie auch zunächst nicht gehen lassen, aber ich lass mich nicht in einem Stahlofen einsperren. Wenn das hier anfängt zu brennen, werden die elend gebacken. Da möchte ich lieber mit meiner Familie zusammen einen Volltreffer abkriegen. Ist sowieso alles egal. Wie sieht es denn draußen aus? Ist viel kaputt?«
»Beinahe alles, ein einziges Inferno. Wo wollen Sie denn hin?«
»Blumenstraße. Ecke Scharnhorststraße. Haben Sie eine Ahnung, ob dort viel passiert ist?«
»Kann ich nicht sagen. Ich bin seit Stunden nicht weit vom Altmarkt weg gewesen. Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall viel Glück, der Weg wird beschwerlich werden, kann ich mir vorstellen.«
»Das nehme ich gerne in Kauf und ich wünsche Ihnen noch viel mehr Glück.« Sie blickte nochmals auf meinen Stern. »Ist schon eine Riesenschande. Trotzdem würde ich mich an Ihrer Stelle mehr in Richtung Ausgang postieren. Die Kerle da unten sind unberechenbar. Leben Sie wohl, wenn Sie können. Und geben Sie Acht auf sich!« Mit diesen Worten hastet sie an mir vorbei aus der Bank.
Genau genommen hat sie ja recht und ich sollte mich wirklich näher zum Ausgang begeben. Und wenn hier drin jemand mit einer Waffe auftaucht, werde ich sofort verschwinden. Ich erreiche die Tür, die zur Straße führt und hocke mich auf den Boden. Sollte jemand kommen, wäre ich mit einem Satz draußen. Ich muss erst einmal in Ruhe nachdenken. Was um mich herum in der Stadt geschieht, geht völlig über meine Vorstellungskraft. Alles was sich abseits meiner unmittelbaren Umgebung abspielt, ist geradezu bedeutungslos. Was mache ich nun mit Carolas eindringlicher Forderung, nicht wegzulaufen?
Wenn es mich in der Bank nicht trifft, geht es am Freitag sowieso ins Gas, sofern Meister Ehrhardt recht behält. Wer sagt denn, dass seine Vermutung überhaupt noch stimmt? Braucht es jetzt nicht jeden Mann, um die Zerstörungen in Grenzen zu halten? Jude oder nicht. Wer sagt denn, dass weiterhin an diesen unsinnigen Ideologien festgehalten wird? Sind die Behörden morgen früh nicht sogar froh darüber, wenn zwei Hände mehr mit anfassen?
Vielleicht hat Carola das ja gemeint mit ihrer Forderung, nicht wegzulaufen? Ja, bestimmt sogar. Das ist schließlich meine Stadt, meine Heimat; ich kann unmöglich einfach abhauen. Unsere wunderschöne Wohnung, mein geliebter Erker, unsere wenigen noch verbliebenen Freunde. Nein, nein, ich bin sicher, dass ich hier gebraucht werde.
Außerdem, wohin sollten wir denn? Zumal ohne Reiseerlaubnis. Wäre schon schwierig genug, aus Dresden grundsätzlich herauszukommen. Nehmen wir mal an, ich fände Carola und wir schafften es zu Fuß aus Dresden heraus, wie würde es weitergehen? Wohin dann? Zu den Russen? Nein danke! Auch wenn ich der Gräuelpropaganda nicht glaube, ein Zuckerschlecken wird es bei denen bestimmt nicht. Weshalb sollten die Russen ausgerechnet uns glauben, dass wir selbst Opfer sind? Ja Pustekuchen, so wie ich uns Deutsche kenne, sind wir sowieso in null Komma nichts kollektiv millionenfache arme Opfer. Junge, Junge, werden die Kirchen wieder mal Zulauf bekommen von uns armen Opfern, die wir dann massenweise um Vergebung betteln werden und natürlich inniglich beten. Beten würde ich gern, ob es aber gelingen wird, in Dresden zehn männliche Juden für einen Gottesdienst aufzutreiben, ich wäre dann der elfte, halte ich für wenig wahrscheinlich. Ich schaue hinaus auf die brennende Stadt und spüre ganz genau, das hier wird man uns Juden garantiert ebenfalls in die Schuhe schieben, so wie wir ja schließlich an allem schuld sind, was irgendwie schiefläuft. Nicht zuletzt haben wir Juden ja Jesus gekreuzigt - welch ein Quatsch, das haben die Römer erledigt. »Ach Carola, ich irre wieder mal ab und spreche mit dir, wo du doch gar nicht da bist.«
In Gedanken versunken blicke ich zur König-Johann-Straße hinaus. Ein brennender Holzbalken fällt vor dem Bankgebäude zu Boden, hüpft auf beide Enden und bleibt dann brennend liegen. Der muss vom Dach kommen. Demnach hat es über mir zu brennen begonnen. Ich muss demnächst besser verschwinden. Schade, ich hatte mich hier ganz sicher gefühlt.
Vor dem brennenden Balken bleibt ein Mann stehen, der einen stabilen Koffer absetzt und tief durchatmet. Er reckt sich kurz und greift erneut zum Koffer, als ihn ein weiterer herabfallender Balken mit einem Ende im Rücken trifft. Der Mann sackt lautlos in sich zusammen.
Den armen Kerl kann ich nicht so einfach da draußen liegen lassen, die Flammen züngeln schon nach seinem Hut. Ich schiebe mich vorsichtig ins Freie, krieche zu ihm hin und schaue prüfend die Fassade empor. Das Dachgeschoss brennt tatsächlich lichterloh. Auch aus den Fenstern der obersten Etage schlagen bereits leckende Flammen.
Ich greife den Mann mit beiden Händen am Mantelkragen und zerre ihn mühsam durch die Tür in die Bank. Er rührt sich nicht. Ich versetze ihm ein paar sanfte Ohrfeigen. Dann öffnet er endlich die Augen und blickt mich stumm an.
»Können Sie mich verstehen?«, frage ich ihn überlaut.
Er schluckt ein paarmal und bewegt bestätigend den Kopf. »Der Koffer«, sagt er.
»Was ist mit dem Koffer?«
»Wo ist mein Koffer?«
»Draußen, was denken Sie denn? Es war ohnehin schwierig genug, Sie hier hereinzuzerren.«
Er versucht den Oberkörper aufzurichten und stützt sich rücklings auf die Ellenbogen. »Verflucht, ich kann meine Beine nicht bewegen. Ich spüre meine Füße gar nicht. Was hat mich denn da umgehauen?«
»Sie haben einen Dachbalken abbekommen.«
»Ja, genauso fühle ich mich. Ich kann mich wirklich nicht bewegen, sonst würde ich meinen Koffer ja selbst reinholen. Würden Sie mir einen Gefallen tun und das für mich erledigen?«
Na, der hat vielleicht Nerven, denke ich und spähe trotzdem aus der Tür. Immer noch fallen irgendwelche brennenden Gegenstände herab, und da soll ich raus, wegen so einem Sch... Koffer? »Draußen ist die Hölle los, lieber Mann.«
»Ich bin nicht Liebermann, nur der Koffer ist wichtig. Ungemein wichtig! Bitte. Ich bezahle Ihnen, was Sie wollen!«
»Unfug, ich will kein Geld, aber da draußen ...«
»Bitte!«
Ich spähe nach oben, im Augenblick ist es ruhig. Also mache ich den Satz zum Koffer hin, ergreife ihn, ziehe ihn ins Gebäude und lege ihn so neben den Mann, dass er mit der Hand an den Griff kommt. Hoffentlich ist er nun zufrieden, denn nochmals möchte ich nicht hinaus, weil in diesem Augenblick heftige Einschläge den Boden erzittern lassen. Zahllose Detonationen durchbrechen das monotone Brummen der Flugzeugmotoren. Der Wahnsinn scheint längst nicht vorbei zu sein.
Der Mann trommelt mit einer Faust auf seine Oberschenkel. »Verdammt! Verdammt! Verdammt! Ich spüre nicht das Geringste. Ist doch zu blöd.«
»Das gibt sich bestimmt gleich wieder«, beruhige ich ihn. »Die Flucherei nützt ja auch nichts.«
Nun hält er die Augen geschlossen und flüstert so leise, dass ich kein Wort verstehen kann. »Wie bitte?«, frage ich.
Er winkt ab. »Scheiße, ich komm nicht mal richtig an den Koffer ran. Können Sie das Mistding bitte öffnen?«
Ach, auf einmal ist das ein Mistding, gerade hat er mich dafür vor die Tür gescheucht. Aber bitte schön, ich habe heut meinen sozialen Tag. Ich öffne den Koffer und schiebe ihn so zu dem Mann hin, dass er hineingreifen kann. Er hantiert kurz in dem Koffer, lässt dann den Deckel völlig aufklappen und schaut mich an. »Nicht mal das geht noch. Tun Sie mir einen Gefallen und geben mir etwas zu trinken, ja?«
»Ja.« Als ich in den Koffer blicke, muss ich nicht schlecht staunen. Neben einer Reihe Rollen, die fein säuberlich in Papier gewickelt darin liegen, entdecke ich einige alte Bücher, die wie Bibeln aussehen, sowie zwei Flaschen Cognac Napoléon und eine Reihe ineinandergesteckte Goldbecher. Eine der beiden Flaschen scheint angebrochen. Ich nehme sie heraus und zeige sie dem Mann. Er nickt. Ich ziehe den bereits gelösten Korken und reiche ihm die Flasche und einen der Goldbecher. Er gießt den Becher randvoll mit der würzig duftenden goldgelben Flüssigkeit. Auf einen Zug kippt er den Cognac und atmet kräftig durch den Mund aus. »Wollen Sie auch einen?«
»Nein, ich vertrage keinen Schnaps.«
»Das ist kein Schnaps! Was sind Sie denn für ein drolliger Vogel. Na dann, zum Wohl.« Noch solch einen Becher voll kippt er und hämmert dann mit dem leeren Becher auf einen seiner Oberschenkel. »Na, das war’s dann wohl.«
»Haben Sie genug?«, frage ich. »Soll ich die Flasche wieder einräumen?«
»Nee, nee, das lassen Sie mal schön bleiben.«
»Meinetwegen, aber wie kriegen wir Sie jetzt auf die Beine?«, frage ich. »Wir sollten schnellstens verschwinden.«
Er hält die Augen geschlossen und bewegt leicht verneinend den Kopf.
»Na, Sie können ja hier schlecht liegen bleiben. Der Kasten brennt oben schon. Wir müssen raus. Und zwar schleunigst!«
»Gehen Sie alleine«, sagt er und kippt einen weiteren Becher.
»Ja, Pustekuchen. Und Sie lasse ich einfach liegen, was? Ich bin doch kein Tier.«
Wieder voll den Becher und runter damit. Ob der irgendwo ein Loch hat? Er schluckt nicht mal richtig, sondern lässt den Schnaps einfach durch die Kehle rinnen. »Mit Kurt Anders ist es aus.«
»Wer ist Kurt Anders?«
»Ich. Ich bin Kurt Anders.«
»Angenehm, Jakob Löwenthal.«
»Gleichfalls, Herr Löwenthal.« Er kippt von Neuem. »Sie müssen mir helfen, Herr Löwenthal.«
»Ja, wie denn? Soll ich Sie tragen? Blödsinn, das schaffe ich nie.«
»Nein, Sie sollen nicht mich tragen, sondern den Koffer!«
»Wozu das?«
»Sie müssen den Koffer übernehmen und ihn zu meiner Familie bringen.«
»Ich?«
»Ja, bitte. Ich komme hier nicht mehr weg, sonst würde ich das selbst tun. Ich spüre meine Beine wirklich überhaupt nicht mehr. Nein, für mich ist die Reise zu Ende. Na egal! Tun Sie mir den Gefallen und bringen Sie den Koffer meiner Familie nach München.«
»Nach ... nach München? So gerne ich Ihnen ja helfen möchte, aber das ist vollkommen unmöglich!«
Er gießt sich erneut ein und trinkt. »Wieso unmöglich?«
Ich tippe mit der Hand an meinen Stern. »Deshalb, ich bin Jude.«
»Machen Sie bloß das dämliche Ding ab!«
»Das ist bei Todesstrafe verboten!«
»Mann Gottes.« Seine Stimme schwingt leicht, na kein Wunder, so, wie der Mann den Schnaps kippt. »Reden Sie nicht solch einen Unsinn, Verbote und Todesstrafe. Machen Sie das Scheißding ab und sehen Sie zu, dass Sie beizeiten auf einen Baum steigen!«
»Auf welchen Baum?«
»Kennen Sie nicht Wilhelm Busch?«
»Doch schon.« Jetzt fängt der damit an. Bruno hatte mir das erzählt und ich lerne so schnell auswendig. »Wenn das Rhinozeros, das schlimme, dich fressen will in seinem Grimme, und so weiter und so weiter. Ja, kenne ich!«
»Na, sehen Sie. Also weg mit allem, was bisher war und rauf auf den Baum. Im Koffer sind die Sachen meiner Familie, die ich habe retten können. Und Schmuck. Der steckt in den Büchern, die sind nämlich hohl.« Er schnauft hörbar. »Ich schlage Ihnen ein Geschäft vor.«
»Ein Geschäft?«
»Ja. Ich helfe Ihnen auf den Baum und Sie helfen meiner Familie, indem Sie den Koffer dorthin transportieren.«
»Ja, aber München? Wie soll ich denn nach München kommen? Liegt ja nicht gerade um die Ecke. Das wird nie was. Bei der ersten Kontrolle bin ich erledigt.«
»Eben nicht, mein Freund. Im Koffer sind neben den Wertgegenständen auch Ausweispapiere. Haben Sie Angehörige in Dresden?«
»Ja, meine Frau. Wo die allerdings ist, weiß ich momentan nicht.«
»Gut.«
»Na hören Sie mal.«
Er winkt ab. »So meine ich das doch nicht. Wenn Sie Ihre Frau wiederfinden sollten, dann nehmen Sie den Pass aus dem Koffer, der gilt für ein Ehepaar. Müssen Sie nur Ihre Fotos einarbeiten lassen. Sie tun dann einfach so, als seien Sie ich. Auf der anderen Seite der Elbe in der Neustadt, in der Forststraße steht ein gelbes Haus. Man wird Ihnen helfen. Haben Sie Ihre Kennkarte mit dem ›J‹ dabei? Wird reichen. Helfen Sie jetzt bitte mir!«
»Ich möchte Ihnen ja gerne helfen, aber wie stellen Sie sich das vor? Ich soll den Stern abmachen. Gut. Dann soll ich in der Forststraße mit meiner Kennkarte wedeln ohne den dazugehörigen Stern auf der Brust. Kein Mensch wird mir helfen und wenn ich zehnmal behaupte Jude zu sein. Mit dem Stern hingegen, als Jude erkennbar, komme ich wahrscheinlich über keine Brücke, ohne kontrolliert zu werden. Und das mit Ihrem Gepäck, in dem Ihre arischen Papiere sind. Haben Sie noch mehr solcher Ideen auf Lager? Und wer weiß denn, ob überhaupt eine Brücke in Ordnung geblieben ist. Vor allem, wo ich doch gar nicht draußen sein dürfte. Gut, ich könnte behaupten, dass ich ausgebombt bin (nur nicht verschreien!), aber deswegen kann ich ja nicht in der Gegend herumlaufen, wie ich will.« Das ist mir alles viel zu unüberschaubar, denke ich. »Wie soll das gehen?«
»Ich glaube nicht, dass heute viel kontrolliert wird. Sehen Sie zu, dass Sie auf die andere Seite der Elbe kommen. Dann beim gelben Haus in der Forststraße klopfen Sie dreimal kurz und einmal lang. Das Zeichen für V. Victory. Kennen Sie bestimmt von Radio London.«
»Wissen Sie, Auslandsrundfunk zu hören wird als Hochverrat bestraft«, antworte ich. »Und bevor ich mich deswegen aufhängen lasse, glaube ich lieber an den Sieg! Außerdem, wissen Sie denn nicht, dass wir Juden gar keine Radiogeräte besitzen dürfen?«
»Nein, das wusste ich nicht. Ich habe jeden Tag London gehört und es wird Sie interessieren, dass die Alliierten am 20. Juli als erstes Dekret die Aufhebung der Judengesetze erlassen haben. Dauert also nicht mehr lang, dann dürfen Sie wieder Radio hören. Na egal. Jemand wird öffnen. Und nun sage ich Ihnen etwas ungemein Wichtiges. Müssen Sie sich unbedingt merken! Dürfen Sie allerdings auf keinen Fall aufschreiben. Also, Sie fragen: Bin ich hier richtig bei Müller? - Die Antwort des anderen muss lauten: Schillers Glocke gefällt mir gut. Dann stellen Sie die zweite Frage: Ist Ihre Lieblingsspeise Coq à la Canard? - Und die zweite Antwort lautet: Ein Seitensprung schadet nicht. Wiederholen Sie und lernen Sie auswendig. Bloß nicht aufschreiben, das wäre für alle sehr gefährlich. Verwechseln Sie kein Wort, das könnte wiederum tödlich für Sie selbst sein!«
Einprägen? Kein Problem. Schon in der Schule war es mir sehr leicht gefallen, auswendig zu lernen. Auch in Englisch. Ich kann Oscar Wildes The canterville ghost bis heute hersagen: ›When Mister Hiram B. Otis, the American minister, bought Canterville chase, und so weiter und so weiter.‹ Da sind diese paar Sätze für die Forststraße lächerlich. Also los! Infantiles Kasperltheater. »Ich klopfe dreimal kurz und einmal lang. Bin ich hier richtig bei Müller? Schillers Glocke gefällt mir gut. Ist Ihre Lieblingsspeise Coq à la Canard? (Hähnchen nach Art der Ente? Was soll der Blödsinn?) Ein Seitensprung schadet nicht (sind Frauen sicher anderer Meinung).« Ich schaue dem sitzenden Mann ins Gesicht. Der trinkt mal wieder. »War das so in Ordnung?«
»Wirklich wunderbar. Ach, noch eine Kleinigkeit.« Er löst eine Kette mit Medaillon vom Hals. »Dieses Medaillon trägt das Bild eines Mädchens. Louisa. Nehmen Sie die Kette als Lebensversicherung für den äußersten Notfall, falls irgendetwas mit den Erkennungssätzen schiefgehen sollte. Sonst heben Sie sie für München auf.« Er küsst das Medaillon und reicht mir die Kette. »Um den Hals damit! Ja, so ist es richtig. Und nun geben Sie mir bitte das Reiseetui aus dem Koffer. Ja genau das. Danke.« Er zieht den Verschluss auf. »Werden Sie den Koffer meiner Familie nach München bringen?« Er schaut mich eindringlich an. »Nun sagen Sie endlich ›Ja‹!«
»Ja gut, ich will es versuchen«, entgegne ich zu meiner eigenen Verwunderung.
»Dann leben Sie wohl«, murmelt er, steckt sich irgendetwas aus dem Etui in den Mund, füllt erneut den Goldbecher mit dem Cognac, beißt auf das, was er im Mund hat und kippt den Schnaps nach. Der Mann beginnt zu zucken, windet und krümmt sich, die Flasche und der Becher rollen über den Steinboden. Ein wenig Schaum fließt über die verkrampften Lippen. Dann liegt er still, es riecht nach Mandeln. Der erste Mensch, den ich beim Sterben beobachtet habe. Und was jetzt?
Jetzt sitze ich da mit dem Koffer und meinem Versprechen.