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ОглавлениеIm Treppenhaus zu unserer Wohnung sind die Fenster eingedrückt. Putz, Wandkacheln und zerbrochene Glasscheiben liegen auf der Treppe. Von jeder einzelnen Stufe, die wir hinaufsteigen, schiebe ich die Scherben mit dem Schuh beiseite, um weiter hinaufzugelangen.
Unsere Wohnungstür ist aus der oberen Türangel gesprungen und hängt nun schief im Rahmen. Lediglich im Schlafzimmer ist eines der beiden Fenster absolut unbeschädigt geblieben. Vom Küchenfenster hängt nur der Rahmen im Mauerwerk, das Fenster ist vom Luftdruck eingedrückt. Die Stühle liegen umgeworfen am Boden. Die Regale sind von der Wand gerissen. Die wenigen Vorräte liegen verstreut am Boden. Das gute Graubrot von Bäckermeister Ehrhardt hat sich auf eine große Scherbe der zerbrochenen Steingutschüssel gespießt. Die Verdunkelungen hängen zerfetzt am Rahmen. Im Wohnzimmer sind sogar die Möbel vom Luftdruck verrutscht, was ein wenig komisch wirkt. Das Sofa steht quer mitten im Raum und der Tisch liegt auf der Platte. Ich drehe die Lichtschalter. Fehlanzeige. Selbst unser sonst stetig tropfender Wasserhahn über der Spüle in der Küche hängt trocken aus der Wand. Die Wohnungstür hängen wir wieder in die Angeln zurück. Sie lässt sich noch schließen. Na also.
Ich steige die Treppe zum Speicher unter dem Dachstuhl hinauf, um mich zu vergewissern, dass dort auch wirklich kein Feuer oder vielleicht sogar ein Blindgänger zu entdecken ist.
Der Speicher dient als Trockenraum, und ziemlich hoch unter dem Giebel sind auf jeder Seite kleine Fenster eingebaut, welche man kippen kann, um zu lüften. Mit einer Holzleiter kann man zu den Fenstern gelangen. Ich stelle die Leiter an ein Fenster zur Seite der Schlossstraße, steige hinauf, entriegele das Fensterchen und klappe es auf. Man hat dort einen recht großzügigen Blick über Dresden, der nun eher gespenstisch wirkt. Von hier oben scheint es, als brenne die ganze Stadt, nicht nur einzelne Häuser. Am Altmarkt wird tatsächlich gelöscht. Lächerliche Sisyphusarbeit. Denn kaum wandert der Wasserstrahl ein paar Meter weiter, brennt die soeben gelöschte Partie sofort lodernd hoch. Die Löscharbeiten können aber sicherlich insoweit nützen, damit das Feuer nicht auf die unversehrten Nachbarhäuser übergreifen kann, nehme ich an.
Ich muss aus einem inneren Zwang heraus unbedingt auf der Seite Sporergasse hinausschauen. Ebenfalls ein Abbild der Hölle. Otto Dix gilt als entartet, weil er den militärischen Irrsinn so grausig gemalt hatte. Das, was um mich herum wahrhaftig geschieht, wirkt noch viel entarteter. Wie mag wohl das Inferno für die Besatzungen der Bomberflugzeuge anmuten? Wozu Menschen kaltschnäuzig in der Lage sind! Das ist doch entartet! Entartete Verbrecher sind sie samt und sonders, diese Militärs und Politiker, egal, welcher Nation sie angehören. Hier geht eine ganze Stadt voller Kultur sinnlos zugrunde, denke ich. Und Carola hat recht, wir sind es selbst schuld!
In der direkten Umgebung entdecke ich keine Feuer. Demnach scheint mir ein Übergriff der Flammen auf unser Haus wenig wahrscheinlich. Unser Judenhaus hat wohl unglaublich viel Glück gehabt. Wenn das nichts bedeutet? Ich steige hinab in unsere Wohnung. Carola hat zwischenzeitlich begonnen, in der Küche aufzuräumen.
Wir stellen die Stühle wieder auf die Beine. Carola zündet eine Kerze an und stellt sie auf den Tisch. Im Badezimmer halten wir stets zwei Eimer Wasser bereit. Nun trinken wir dieses kalte Wasser, das nach Staub schmeckt und essen das trockene Brot, das ich so gut wie möglich von Steingutsplittern befreit habe.
Dann räumen wir gemeinsam in den Zimmern auf. Den Schutt kehren wir zusammen und leeren das Kehrblech in die Waschschüssel. Insgesamt neunmal trage ich die Schüssel hinunter und leere sie auf dem Schutthaufen neben der Eingangstür. Die Beine werden mit jeder Stufe schwerer. Und jedes Mal, wenn ich vor die Haustür trete, schüttle ich den Kopf - die Nacht wird einfach nicht dunkel.
Endlich haben wir den gröbsten Dreck aus der Wohnung geschafft. Erschöpft legen wir uns angezogen zu Bett. Ich möchte nur noch schlafen, möglichst ohne zu träumen. Morgen werden wir ohnehin die Zerstörungen genau erkennen und die Situation früh genug begreifen. Unser Leben ist zunächst gerettet und wir haben sogar ein Dach über dem Kopf. Wie mag einem zumute sein, wenn er nicht mal das mehr hat? Trotz der bleiernen Müdigkeit geben die Nerven keine Ruhe. Ich liege mit geschlossenen Augen und bin hellwach.
»Da ist tatsächlich immer noch Dreck in meinem Bett«, beschwert sich Carola unvermittelt. Ich linse durch beinahe geschlossene Lider, nur damit sie ja nicht merkt, dass ich wach bin. Ich mag nicht mehr aufstehen und ihr helfen. Sie zerrt die vier Enden ihres Bettlakens zusammen und trägt dieses in die Diele. Dann spannt Carola ein neues Betttuch auf und legt sich wieder hin. Endlich gibt sie Ruhe, ich kann nämlich nicht einschlafen.