Читать книгу Ganz für sich allein - Werner Koschan - Страница 13

10.

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Ich falte den Brief, stecke ihn zurück ins Schweißband des Hutes und verlasse unbemerkt das Haus. Wo ich langgehe, weiß ich nicht. Ich sehe nicht die Straßen, nehme keinen Menschen wahr, sondern stelle mir nur das Grauen plastisch vor. Irgendwann sitze ich am Elbufer auf einem vermodernden Baumstamm und lese den Brief noch einmal.

Tief in Gedanken versunken wandere ich anschließend das Elbufer entlang. So, wie im Brief geschildert, wird dann ja vermutlich ebenso mein Transport enden. Nehmen wir mal an, am Freitag muss ich mich wirklich melden, somit macht es keinerlei Sinn, irgendetwas mitzunehmen oder gar einen Koffer zu packen - den Koffer eines Juden. Nichts mehr wert. Und mit Carola darüber zu reden macht ja auch keinen Sinn, sie wird schon früh genug merken, wenn ich nicht mehr wiederkomme. Soll ich ihr vielleicht von diesem Brief erzählen? Was würde ihr dieses Wissen nützen? Wem nützt es überhaupt, etwas zu wissen? Gut, in normalen Zeiten hieß es, Wissen sei der einzige Vorrat, der sich bei Gebrauch vermehrt! Aber jetzt und hier? Jetzt und hier ist es besser, wenn niemand etwas wüsste. Jeder, der irgendetwas weiß, läuft unweigerlich Gefahr, selbst dranzukommen, überlege ich und zerreiße den Brief in ganz kleine Schnipsel und werfe sie nach und nach in die Elbe. Was habe ich denn davon, ob später mal Rache geübt wird? Nichts. Kriege ich ohnehin nicht mit. Und was nützt es den anderen, dass ich weiß, wohin am Freitag die Fahrt geht? Mir nützt es insoweit, dass ich gar keine Angst mehr habe; komisch, wo ich doch solch ein Feigling bin, nein, war.

Carola staunt nicht schlecht, als ich ihr das Brot und die Brötchen gebe. Von Ehrhardts Warnung und dem Brief erzähle ich ihr nichts. Ich bin mit mir vollkommen im Reinen, beinahe sogar vergnügt.

Wir essen jeder ein ganzes Brötchen und trinken dazu den dünnen Tee. Ich erzähle Carola von meinem obligatorischen Spaziergang über den Schlossplatz bis zum Elbufer, den ich heute gar nicht unternommen habe. Ich erfinde halt ein paar Dinge, rede vom gesäuberten Weg rechts runter zu der Brühlschen Terrasse, lüge neue Fahrpläne an den Dampferanlegestellen zusammen und beschreibe die knospenden Pflanzen am Terrassenufer, die ich gar nicht gesehen habe, denn die Brühlsche Terrasse dürfen wir Juden seit Langem nicht mehr betreten. Diese Lüge müsste Carola eigentlich auffallen, aber sie hört mir wohl gar nicht zu. Ich erzähle dennoch weiter, dass ich am Sachsenplatz vor der Albertbrücke wie immer eine regelmäßige Pause eingelegt und den Verkehr betrachtet hätte. Weshalb sollte sie meiner Schilderung denn zuhören? Ich rede ja sowieso jeden Tag das Gleiche, fällt mir heute auf. Weiter spaziere ich sonst auch stets das Hindenburgufer unter den wertstrotzenden Villen der Bonzen vorbei bis zum Feldherrnplatz und von dort dann direkt am Wasser entlang bis zum Blauen Wunder und wieder zurück. So finde ich täglich viel Zeit zum Nachdenken.

Nun sitze ich in meinem geliebten Erker und grüble, bis Carola mich zum Abendessen ruft. Es gibt eine dicke Scheibe Brot mit Margarine und Salz. Wo Carola die Margarine organisiert hat, bleibt ihr Geheimnis, denn die Fettmarken für den Februar sind von uns längst verbraucht.

Wir kauen mechanisch und vollkommen schweigend, ohne dass ich einen Grund dafür nennen könnte. Wir sprechen wirklich kein Wort miteinander, was recht ungewöhnlich ist. Ob Carola irgendeine Vorahnung hat, was mit mir am Freitag geschehen wird?

»Möchtest du noch eine Tasse Tee?«

»Gern«, sage ich. »Haben wir denn Tee? Warum setzt du mir diese dünne Brühe vor, wenn wir Tee im Hause haben?«

»Du bist widerlich, Jakob. Ich kann nichts dafür, dass es nichts gibt«, meint sie niedergeschlagen.

Plötzlich heulen die Sirenen nicht Voralarm, sondern direkt Vollalarm.

»Was soll denn das jetzt?«, frage ich. »Ich hatte bisher geglaubt, die Engländer und Amerikaner seien abergläubisch. Die werden nicht ausgerechnet einen Fliegerangriff an einem 13. beginnen. Ojweh, so was geht nicht gut aus.«

»Bleiben wir hier oder möchtest du in den Keller?«, fragt Carola. »Wahrscheinlich trifft es uns gar nicht. Hoffentlich ist Berlin wieder an der Reihe. Wenn sie dort bloß alles zerstören würden und dieser Irrsinn zu Ende wäre!«, fleht Carola erbittert.

»Das ist nicht sehr human, Carola. Die Menschen in Berlin haben nicht mehr Schuld als wir andern Deutschen.«

»Doch, von dort geht der ganze Irrwitz aus. Es ist gerade mal zwei Jahre her, da haben vor allem die Berliner ›Jaaa‹ gebrüllt, dass sie endlich ihren totalen Krieg haben wollten! Nun sollen besonders die Berliner diese Suppe auslöffeln. Jede Bombe, die auf diese Miststadt fällt, spricht mir aus dem Herzen.«

Carolas Augen funkeln wie die eines Racheengels. Sie sieht zum Verlieben furchterregend aus. Aber sie hat unrecht.

»Nein, Carola, das ist so nicht korrekt. Diese Berliner im Sportpalast, waren nur eine Horde Verblendeter. Diese Schreihälse waren sämtlich organisiert. Ich bin mir sicher, dass die meisten Deutschen diesen Krieg auch nicht wollen.«

»Ja, mittlerweile. Das stimmt. Und nachdem Warschau und Paris besetzt waren, haben sie alle gejubelt und sich gegenseitig auf die Schultern geklopft, was sie für tolle Übermenschen sind. Und den österreichischen Gefreiten nannten sie mit einem Mal Gröfaz. Gröpfaz hielte ich für passender. Nicht größter Feldherr, sondern größte Pfeife aller Zeiten, so wär’s richtig. Ja, jetzt haben die Leute die Nase voll vom Krieg; jetzt wo sie merken, dass es nicht klappen wird. Nicht klappen darf! Und du nimmst diese Armleuchter in Schutz. Ausgerechnet du!«

»Ich nehme nicht die Nazis in Schutz. Die dürfen meinetwegen samt und sonders verrecken. Ich empfinde dagegen Mitleid mit den einfachen Leuten in ihren einfachen Kellern oder Splittergräben. Die tun mir leid. Ja.«

»Von denen haben trotzdem sehr viele brav ihr Kreuzchen gemacht. So viele haben Hitler gewählt, als von Gott gesandtem Heilsbringer nahezu herbeigesehnt. Und jeder, der sein Kreuz für ihn gemacht hat, konnte vorher ganz genau wissen, was seitdem exakt so geschehen ist. Wir haben seinen Phrasenkatalog beide gelesen und ich muss sagen, darin steht alles genauso beschrieben, wie es eingetroffen ist. Jeder andere hat ebenso dieses Buch lesen können, aber man wollte ja nicht. Bloß nicht nachdenken, vor allem, da mit einem Mal so viele Arbeitslose von der Straße verschwunden waren. Na wenn schon, wenn die letztendlich nur Waffen, Panzer und Rollbahnen dafür sowie Bomben bauen durften. Hurra doch! Und wer hat diese Bomben dann auf friedliche Zivilisten geworfen? Wer hat mit dem Morden begonnen? Deutsche und niemand sonst! Von Berlin aus wurden die Bomber nach Coventry geschickt, nach Rotterdam, nach Warschau. In den Wochenschauen haben Millionen Deutsche die Bilder vom Untergang dieser Städte beklatscht. Da ist es nur recht und billig, wenn die anderen zurückschlagen. Wir haben es mehr als verdient, dass man uns das Land in Schutt und Asche legt. Wir haben es uns redlich verdient!«

So hatte ich Carola noch nie erlebt. Sie, die möglichst nirgends auffallen wollte, redet plötzlich so energisch.

»Das meinst du sicherlich nicht ernst, Carola.«

»Oh ja, das meine ich ernst, weil ich Angst davor habe. Was werden die anderen mit uns machen? Und wenn es nicht so schnell geht, wie wir hoffen, was werden unsere eigenen Leute mit uns machen? Das stelle ich mir sogar viel schlimmer vor. Manchmal wünschte ich, die Amerikaner hätten Bomben, die auch die sichersten Bunker der Bonzen durchschlagen können. Dann wäre Ruhe.«

Was soll ich darauf entgegnen? Sonderbare Gedanken. Wir schweigen wieder und warten.

Man wartet auf etwas, was man mittlerweile genau kennengelernt hat und hofft dennoch, das dunkle und schnell lauter werdende Brummen vieler Flugzeugmotoren möge abdrehen und einen anderen Ort heimsuchen. Zugegebenermaßen ein zutiefst unsozialer Gedanke, aber in diesem Augenblick wünsche ich mir dies ähnlich wie Carola, denn das Brummen lässt nicht nach. Und dann steigt mir das Entsetzen den Nacken hinauf, denn man hört Einschläge.

Die ersten Einschläge klingen relativ weit weg. Das dumpfe Knallen wechselt rasch zu lautem Krachen. Das metallene Inferno kommt tatsächlich immer näher. Dann beginnt das Licht zu flackern. Und die Angst schnürt mir den Atem ab, weil ich weiß, dass man es ohne Licht schon gar nicht aushalten kann.

»Hast du einen Ton Voralarm gehört?«, frage ich.

»Nein, ich habe auch nicht darauf geachtet.«

Wieso hat man keinen Alarm gegeben? Vielleicht haben wir ihn nur nicht gehört? Carolas langer Monolog brachte meine Gedanken wohl ein wenig durcheinander. Da glaubt man, einen Menschen durch und durch zu kennen, und dann stellt er sich urplötzlich in ein völlig anderes Licht. Irgendwo hat sie ja recht. Na, hoffentlich rächt sich diese Einstellung jetzt nicht.

In der Küche platzt die Fensterscheibe und reißt die Verdunkelung mit sich zu Boden. In der gleichen Sekunde erreichen uns die üblichen ›Licht aus!‹-Schreie. Irgendwer scheint immer draußen herumzustehen, in der Hoffnung sich auf diese Weise ein wenig wichtig tun zu können. Sonderbare Kreaturen. Geschwind stehe ich auf und laufe zum Fenster. Ich sehe vereinzelte Lichtfinger der Flak leuchtend den Himmel absuchen. Ich kann Flugzeuge erkennen. Die Hundesöhne da oben in ihren Blechzylindern haben jetzt hoffentlich auch die Hosen gestrichen voll. Komisch, wenn man sich in diesem Moment gegenübertreten könnte und einander in die Augen blicken, was würde wohl geschehen? Na klar haben manche sicherlich Spaß daran, zu zerstören. Aber die meisten wollen wahrscheinlich bloß die Bomben abladen und dann weg!

Müßige Gedanken, Jakob Löwenthal, denke ich und drücke die Verdunkelung wieder vor den Fensterrahmen. Dabei lausche ich dem Herannahen weiterer Fliegergruppen. Und was mich total verunsichert, ich vernehme Glockengeläut. Ich schaue Carola an. »Hörst du das?«

»Die Explosionen sind ja nur schlecht zu überhören.« Sie schüttelt den Kopf und stutzt. »Wieso läuten Glocken? Das kann nur ein Fanal des Himmels sein!«

Das Licht zuckt ein paarmal und verlischt dann endgültig. Eine Explosion in unmittelbarer Nähe zerreißt unser Schweigen. Und dann nehme ich immer mehr die unmenschlichen Geräusche in der Nähe wahr. Selbst das sonore Brummen der vielen Motoren klingt bedrohlich.

Man wagt gar nicht zu atmen. Jeder Atemzug kann die Sekunde des Todes einleiten. Nur nicht bewegen, nicht atmen, nicht husten. Als ob die Männer in ihren fliegenden Mordmaschinen uns hören könnten und nicht nur wahl- und ziellos den Tod verteilen.

Carola greift nach dem Rucksack. Diesmal gilt es eindeutig uns in Dresden. In vielen Städten hatte man sich ja schon beinahe an die Nächte im Keller gewöhnt. Ich weiß, dass ich mich nie daran gewöhnen werde. Und bisher war es meist schnuppe, weil es uns nur selten galt und stets harmlos endete. Aber nun bin ich konsterniert. Erst der Brief und die Gewissheit und jetzt das. Na, für mich war es ja gleichgültig, nur um Carola tut es mir leid.

Wir verlassen die Wohnung und versperren die Tür. Im Treppenhaus höre ich die kleine Sarah Abend weinen. »Kann mir denn keiner helfen?«, fleht sie. Offenbar hat sie uns gehört.

Ich steige die Treppe hinauf. Sarah hockt vor der Wohnungstür und schaut mich mit verweinten Augen an. Sie ist zwölf Jahre alt, hat Kinderlähmung und kann nicht laufen.

»Wo sind deine Eltern?«

»Ich weiß es nicht.«

»Na, dann werde ich dich mal hinuntertragen. Komm, halte dich an meinem Hals fest.«

Das Mädchen wiegt mehr, als ich gedacht hätte. Carola streichelt Sarahs Hand. Sie ahnt, dass ich das Kind nicht quer durch Dresden in einen sicheren Keller tragen kann. Ich nicke Carola zu, das soll heute allem Anschein nach so sein.

»Wir bleiben besser hier im Keller. Ich muss Sarah ja nachher wieder hochtragen. Einverstanden, ihr beiden?«

Carola lächelt gequält und Sarah drückt ihr tränenfeuchtes Gesicht an meine Wange. Ein sonderbares Gefühl. Im Keller angekommen, setze ich Sarah auf einen Stuhl. »Weiß jemand, wie spät es ist?«, frage ich in den matt erleuchteten Keller hinein.

»Gegen 21 Uhr 30 haben wir Sirenen gehört«, antwortet eine Frauenstimme.

Dann höre ich nur noch verhaltenes Atmen. Wie lange wird es wohl diesmal dauern? Jede Sekunde kann es einschlagen und den Tod bedeuten, da werden Minuten zu endloser Zeit. Wir warten darauf, dass die Welle über uns endlich abgeladen hat. Jede Sekunde dauert Stunden. Schließlich hören wir, dass die Flugzeuge über unseren Köpfen hinweggezogen sind. Das Brummen der Motoren entfernt sich. Mit zwei anderen Männern steige ich die Treppe hinauf, wage zunächst nur einen Blick aus dem Keller und trete dann doch ins Freie.

Einige Menschen hasten die Schlossstraße entlang. Ich schaue mich um. Saurer beißender Qualm liegt schwer in der Luft. Unser Haus ist überwiegend heil geblieben, aber auf der anderen Seite das Cäsarsche Haus hat ordentlich was abbekommen. Dieser Angriff an einem 13. hat uns nichts anhaben können, das muss etwas bedeuten. Hoffe ich zumindest.

Jemand umfasst meinen Arm. Es ist Carola, sie blickt mich an und weint.

»Kein Grund zu weinen«, beruhige ich sie. »Ist alles gut gegangen, Carola.« Was Besseres fällt mir nicht ein.

Ein recht wohlgenährter Herr hat meine Worte gehört. Er tritt zu uns, blickt auf meinen Stern an der Brust und sieht mich erbost an. Dann spuckt er voller Verachtung vor mir aus. Was hat das nun zu bedeuten? Und dann begreife ich, weswegen Carola weint. Alle vorbeihastenden Leute scheinen meinen Stern und mich zu verfluchen. Man schaut uns böse an. Klar, ich bin schließlich schuld an all dem Übel. Verdammter Jude, bist an diesem ganzen Krieg schuld!, kann ich in den Gesichtern lesen. Nicht in allen, aber in einigen. Und Carola ist auch schuld, weil sie sich nicht von mir scheiden lässt, weiß ich, obwohl ich dies nicht in den Gesichtern lesen kann.

»Warum gibt es keine Entwarnung?«, fragt Carola leise.

Statt einer Antwort hören wir erneut leises, fernes Brummen von Motoren, das langsam anschwillt. Die Menschen beginnen zu schreien und rennen nun wahllos umher.

Unvermittelt stehen Sarahs Eltern neben uns. Sie schnaufen, Atemwölkchen verbreitend. Sie sind anscheinend im Galopp hierher gelaufen.

»Wo ist Sarah?«, fragt Frau Abend mit ängstlicher Stimme. »Ist sie oben?«

»Nein«, beruhige ich sie. »Ich habe sie in den Keller getragen. Sie hat ein bisschen geweint, weil sie sich etwas allein fühlte. Wo waren Sie denn nur?«

»Wir waren nahe dem Platz der SA und konnten dann nur noch die Laurinstraße bis zum Wettiner Bahnhof, als es losging«, schnauft Herr Abend. »Da ist zum Glück nur ganz wenig runtergekommen. Der Alarm kam viel zu spät. Wir haben Sarah zum ersten Mal alleine gelassen. Dann der Krawall. Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Gott sei Dank! Vielen Dank für Ihre Hilfe, Herr Doktor Löwenthal.«

Es kracht ganz in der Nähe. Meine Zeit, denke ich, können die denn immer nur die Innenstädte angreifen? Die Industriegebiete liegen doch nicht gerade auf dem Altmarkt oder aufm Schlossplatz. Wenn sie wenigstens den Adolf-Hitler-Platz abknallen würden - zumindest dem Namen nach wäre das wenigstens vortrefflich!

Carola und ich laufen die Kellertreppe so flink hinab, dass wir im freien Fall nicht schneller unten gewesen wären. Ich schiebe Carola in den Keller, bleibe selbst an der Tür stehen und halte sie geschlossen, weil das Schloss fehlt. Judenkeller dürfen nicht verschlossen sein! Das Verbot ist unumstößlich. Ich knie mich geduckt unter die Treppe, die das ganze Haus trägt. Scheint stabil zu sein, bilde ich mir ein und schaue durch die einen Spalt geöffnete Kellertür. Viele hocken geduckt zwischen Stühlen, manche sind sogar unter die wenigen Tische gekrochen. Als wäre dies sicherer als auf den Stühlen zu sitzen. Ich höre leises Wimmern und Weinen. Eine kleine Weile bleibe ich unter der Treppe hocken. Bald wird der beißende Rauch unerträglich. Ich begebe mich in den Verschlag, setze mich zu Carola auf den Lehmboden. Sie ergreift meine Hand. Der Druck ihrer kleinen Hand schmerzt richtig.

Neues Herannahen der Flieger. Wieder Einschläge. Das Knallen und Erzittern des Bodens fühlt sich an, als läge es sehr in der Nähe. Ich weiß nicht, wie oft sich das wiederholt, denn ich zähle die Einschläge schon nicht mehr. Sonst zähle ich immer. Wenn es zehn Mal in der Nähe gekracht hat, ohne direkt bei uns einzuschlagen, hat uns das Schicksal verschont, bilde ich mir ein. Auch sonst zähle ich alles, sogar die Schritte während meiner Spaziergänge. Dabei schließe ich mit dem Schicksal jedes Mal eine Wette ab: Wenn die Schrittsumme bis zu dem und dem Punkt eine gerade Zahl ergibt, rede ich mir ein, geht alles gut aus. Allerdings mogle ich dabei manchmal ein wenig. Sobald ich abschätzen kann, ob ich noch einen oder zwei Schritte bis zum Zielpunkt gehen muss, mache ich entweder zwei kleinere oder einen größeren Schritt. Je nachdem. So geht die Wette stets gut für mich aus. Das beruhigt.

Die Angriffswellen zähle ich heute nicht. An einem 13. zu mogeln ist mir einfach zu gefährlich!

Es knallt spürbar in der Nähe. Der Keller scheint sich zu heben und ins Fundamentbett zurückzuplumpsen. Natürlich eine irrationale Vorstellung. Plötzlich springt die Tür zum Schutzraum auf und durch das Kellerfenster auf der Straßenseite des Hauses fällt taghelles Licht in den Kellerraum. Gespenstische Gesichter zu Tode erschrockener Menschen. Ich sehe schwitzende und nach altem Schweiß stinkende Männer, Frauen mit verschwitzten wirren Haaren. Sarahs Gesicht scheint ausschließlich aus angsterfüllt aufgerissenen Augen zu bestehen, und zugleich betrachtet ein vielleicht sechsjähriges Mädchen das Schauspiel der Helligkeit. Ihr leicht geneigtes Gesicht scheint äußerst interessiert.

Eine gutturale Männerstimme lenkt mich von meinen Gedanken ab.

»Los, Kameraden, das war eine Brandbombe! Lasst uns den Kram löschen, oder wir haben hier gleich einen Backofen!«

Im Vorkeller liegt seit 1939 ein kleiner Sandhaufen. Unser Pflichthaufen. Als der in den Keller geschaufelt worden war, hatte kein Aas die Notwendigkeit desselben auch nur in Erwägung gezogen.

Koslowski aus dem Erdgeschoss schaufelt nun den Sand in Eimer, zwei andere Männer aus dem Haus schaffen die Eimer zum Brandherd und versuchen zu löschen. Es geht sogar besser als erwartet. Und das finde ich recht sonderbar. Man hört ständig, dass Brandbomben aus Phosphor bestünden. Aber Phosphor soll man mit ein paar Eimern Sand löschen können? Wer das glaubt, der glaubt ebenso an Gerechtigkeit vor einem deutschen Gericht. Lachhaft, kann ich da nur sagen und ich weiß, wovon ich rede, schließlich bin ich Jurist. Da glaube ich eher an die Jungfräulichkeit einer Hure. Sonderbar, seit ich weiß, was mit mir geschehen wird, verirren sich meine Gedanken immer häufiger ins Burleske, und weshalb ich so vergnüglich denke, weiß ich selbst nicht. Ich habe doch gar keinen Grund dazu, sondern eher im Gegenteil. Heulen sollte ich über mein Schicksal, verzweifeln. Stattdessen ist mir beinahe zum Lachen zumute, das muss mit meinem Charakter zu tun haben. Ich befürchte, die Clownerie steckt mir im Blut, das war nämlich schon früher so, trotz meines Juristenberufes, der ja eigentlich eher Zurückhaltung und Sachlichkeit verlangt. Früher bin ich mutig drauflosgegangen und habe mit meinen Sprüchen im Verlauf so mancher Verhandlung die Richter zum Schmunzeln gebracht und das ein oder andere Urteil schien milder auszufallen, als vorher befürchtet. Irgendwie scheint meine Hallodrimentalität von früher wiederzukehren, obwohl ich bis gestern ein Hasenfuß war. Ich bin mir selbst ein Rätsel.

Der Brand ist gelöscht und wir begeben uns zurück in den Schutzraum. Das Fenster zur Straße ist mit feuchten Tüchern verhängt. Koslowski verzieht die Lippen und zuckt leicht mit den Schultern, während er die Tür schließt. Ich nicke ihm aufmunternd zu. Er kann ja schließlich nichts für unsere Lage.

Die Einschläge wandern endlich weiter und wir atmen hörbar aus. Langsam werden die verängstigten Menschen ruhiger.

»Sollen wir nach draußen? Vielleicht ist es vorbei. Die können ja nicht ewig über uns hin und her fliegen«, lässt jemand verlauten. Die Ersten verlassen den Keller. Mein Zeitgefühl hat sich immer noch nicht wieder eingestellt. Carola nimmt meine Hand und ich folge ihr die Kellertreppe hinauf. Durch die Fenster der Haustür dringt Licht, so hell, als würde die Sonne strahlend vom wolkenlosen Himmel scheinen. Sonderbar, denke ich, als jemand die Tür öffnet. Gleißende Helligkeit schlägt uns entgegen. Wir treten dessen ungeachtet auf die Schlossstraße hinaus und schauen auf unser Haus, ob es auch brennt. Aber offensichtlich sind nur ein paar Fensterscheiben eingedrückt.

»Wir haben anscheinend Glück, scheint kaum was abgekriegt zu haben«, sagt Carola. Ich sehe sie an und nicke. Als mein Blick über ihre Schulter hinweg die Schlossstraße am Altmarkt vorbeiwandert, bemerke ich, dass hinter dem Altmarkt die Prager Straße zu beiden Seiten wie ein Glutofen brennt. Der Himmel ist von dichten Brandschwaden verhangen, die Helligkeit kommt von der brennenden Stadt. Es stinkt penetrant nach Säure und Feuer.

Wie durch einen Schleier höre ich von weither ein paar Sirenen Entwarnung melden. In unserer direkten Umgebung schweigen die Sirenen. Viele sind wohl nicht mehr in Betrieb.

»Vielleicht funktionieren nur die Handsirenen«, vermutet ein vorbeihastendes Pärchen.

Wir laufen am Schloss vorbei, das ebenfalls unversehrt wirkt und ich schaue zur Elbe. Dort brennt es lichterloh. Es sind nicht etwa einzelne Feuer auszumachen, sondern es brennt anscheinend überall. Wie in einem überdimensionalen Lagerfeuer. Und ein sonderbarer Sturm tost durch die Straßen. Dieses Geräusch bemerke ich erst jetzt, obwohl es ungeheuerlich laut ist.

Wir wenden uns wieder der Schlossstraße zu. Auch aus diesem Blickwinkel und dieser Entfernung scheint unser Haus unbeschädigt. Wir entdecken keine Flammen aus dem Dachstuhl, aber betreten wollen wir es lieber noch nicht. Man hat schon einiges über Bomben mit Zeitzündern gehört. Erst mal zum Altmarkt gehen und schauen, was dort übrig geblieben ist, erscheint uns sicherer. Wir passieren das Haus Nummer 26, ein mehrstöckiges schmales Wohnhaus. Es gleicht einem Hochofen, in den man kräftig Sauerstoff bläst, um die Hitze zu erhöhen. Wie in einer Stahlhütte, um Stahl zu produzieren. Nur hier wird nichts produziert, sondern vernichtet. Aus dem Keller unter dem Ofen wird niemand mehr herauskommen. An Löschen ist nicht zu denken, zumal weit und breit nicht die geringste Spur etwaiger Löschtätigkeiten zu bemerken ist. Somit ist es nur eine Frage der Zeit, wann die Nachbarhäuser ebenfalls Feuer fangen werden.

Wir laufen staunend in Richtung Altmarkt. Niemals zuvor hatte ich bemerkt, dass Feuer so laut brennt. Es tost und braust durch die Häuser und Straßen. Manche brennende Ruine wirkt wie ein Schornstein, der die Luft vom Boden saugt und durch die brennenden Häusergerippe prasselnd in den Himmel herausschießt. Auf den Straßen liegen Scherben, Mauerstücke, Steine und jede Menge Holzbalken und Bretter. Leichen kann ich bis jetzt keine entdecken, die liegen sicherlich in den brennenden Trümmern. Wir passieren den Altmarkt und machen ein paar Schritte in die Seestraße hinein. Wegen der Hitze ist an ein Weitergehen nicht mehr zu denken. Die Prager Straße, unsere prächtige Einkaufsstraße mit den vielen Geschäften, wirkt wie ein Höllenschlund. Hitze und Brandgeruch wiegen zentnerschwer und drücken so unerträglich, dass wir lieber nach Hause umkehren.

Die Gesichter der Menschen, denen wir begegnen, offenbaren maßloses Entsetzen. Wieso jetzt noch ein Angriff auf Dresden? Seit Ende Januar hatte sich gerüchteweise herumgesprochen, dass die Rote Armee nicht mehr weit vor Berlin stand und dass die Russen auch unserer Stadt unaufhaltsam näher kamen. Die Hoffnung hatte sich durchgesetzt, dass Angriffe auf Dresden wohl kaum zu erwarten waren. Hier war doch zu unserem Glück nichts Kriegswichtiges zu holen, hatten wir gemeint.

Ganz für sich allein

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