Читать книгу Ganz für sich allein - Werner Koschan - Страница 8
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ОглавлениеAm Silvesterabend 1944 erschien Bruno mit zwei Flaschen Wein und einer Schallplatte unter dem Arm, sowie einem gehäuteten Kaninchen ohne Kopf in einem Blatt Zeitungspapier. Unwillkürlich musste ich an Mäxchen denken. Statt Kaninchen waren schon im letzten großen Krieg viele Katzen gegessen worden. Das war sicherlich in unserer Zeit herrlicher Größe nicht wesentlich anders. Dazu gab es Bratkartoffeln mit Zwiebeln. Obwohl es nirgendwo Zwiebeln zu geben schien. Man tuschelte, dass aus Zwiebeln irgendein kriegsentscheidendes Gas hergestellt würde, als Pendant zum Senfgas oder so ähnlich.
So unglaublich es auch klingen mag, trotzdem hatte ich Zwiebeln aufgetrieben. In der Ziegelstraße, Ecke Elias-Platz neben dem Friedhof. Am Silvestermorgen hatte dort ein Handkarren gestanden, auf dem Grünkohl, Kartoffeln und Mohrrüben lagen. Neben dem Karren stand eine an sich jung wirkende Frau mit dennoch bereits schlohweißem Haar. Unsere großartige Zeit hatte sie wohl so früh vergreisen lassen. Sie verkaufte das Gemüse. Ich betrachtete die Mohrrüben und konnte mich nicht erinnern, wann ich solche Köstlichkeiten zum letzten Mal gegessen hatte.
Wir lebten seit Jahren nur auf Carolas Karten und was es dafür zu kaufen gab, reichte kaum für sie allein. Mir wurde schwindelig. Wie sehr kann Hunger einem das Gehirn vernebeln.
Eine andere Frau, die ein buntes Tuch um ihren Kopf geschlungen hatte und ein Fahrrad schob, hatte mich beobachtet, denn sie blieb vor mir stehen und nickte mir zu. Ihr Blick berührte nur einen Augenblick meinen Stern.
»Haben Sie kein Geld?«
Ich biss mir auf die Lippen und senkte den Blick.
»Ich habe keine Marken«, antwortete ich. »Entschuldigen Sie bitte.« Lieber schnell weg, dachte ich und drehte mich um.
»Nun laufen Sie nicht gleich davon, Herr Doktor.«
Derart angesprochen blieb ich stehen. »Sie kennen mich?«
»Natürlich. Ich bin die Mutter vom Paul. Paul Malert, Herr Doktor. Erinnern Sie sich nicht?«
»Paul Malert, und ob ich mich an den Bengel erinnere.« Wieso ich ihn so genau im Gedächtnis hatte, verschwieg ich lieber. Ich hatte den pubertierenden Paul nämlich seinerzeit mal in einer sehr delikaten Situation mit drei ebenso blutjungen wie nackten Mädchen ertappt. Kann man einer Mutter unmöglich erzählen. »Wie geht es Paul?«
»Ich hoffe gut. Er ist Soldat, aber er schreibt leider viel zu selten, der Bengel. Das haben Sie ganz richtig gesagt. Weshalb haben Sie denn keine Lebensmittelmarken?«
»Na, Sie sind vielleicht gut. Ich trage den ›Pour de Sémite‹.« Ich tippte gegen den Stern. »Wir dürfen doch an der völkischen Nahrungsfürsorge nicht teilhaben.«
»Im Ernst? Das habe ich nicht gewusst. Das ist ja unerhört! Wovon leben Sie denn dann?«
»Meine Frau ist Arierin und sie bekommt Marken. Wir teilen halt.«
»Und das soll sozial sein?«
»Wieso sozial?«
»Na, wofür steht denn das ›S‹ im Parteinamen, wenn nicht für sozialistisch?«
»Jedenfalls nicht für mitmenschlich! Lassen Sie uns aufhören, Frau Malert. Ich darf überhaupt nicht so reden. Zurück zu Ihrer Frage«, mit den Nägeln der rechten Hand kratzte ich den Handteller der linken, »offen gesagt, Geld habe ich auch nicht.«
Frau Malert lächelte. Sie beobachtete mich eine Weile nachdenklich und unter diesem Blick fühlte ich mich nackter als bei Verhören durch die Polizei. Ihre Augen wirkten durch ihre dicken Brillengläser wie ungewöhnlich große dunkle Murmeln. Sie schaute nochmals zu meinem Stern und verzog angewidert den Mund. »Haben Sie Kinder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Zum Glück für die Kinder haben wir keine.«
»So gesehen haben Sie recht«, erwiderte die Frau. »Die Kinder tun mir am meisten leid. Wie lange es wohl dauern wird, den Blagen diesen ganzen Irrsinn aus den Köpfen zu kriegen. Halten Sie mal bitte.« Sie hielt mir den Fahrradlenker hin und ging zu der Gemüsefrau, verlangte eine Handvoll Kartoffeln und einige Mohrrüben, kam wieder zu mir und steckte mir die Kostbarkeiten in die Manteltaschen. Nun trat die Verkäuferin zu mir und steckte zwei schöne Zwiebeln dazu. »Allein hätte ich mich das niemals getraut«, gestand sie.
»Weswegen? Schenken ist schließlich nicht verboten«, ereiferte sich Frau Malert.
Vor Hunger, Vorfreude auf das Abendessen und Rührung brachte ich keinen Ton raus und blickte zwischen den beiden Frauen hin und her.
»Nu man hoch den Kopp«, flüsterte die Verkäuferin mit dem weißen Haar. »Das dauert nich mehr lang. Und wenn Se bis jetzt ausjehalten ham, sollten Se sich jefällichst bemühen, ooch den Rest ze überleben. Se sehen mich an wie een Schaf. Kann man ja glatt sentimental werden. Nu jehn Se schon und alles Jute im tausendsten Jahr.« Sie grinste und berührte ein Brett ihres Karren. »Bloß nicht verschreien, Holz anfassen.«