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ОглавлениеDer Exodus
20. April – 22. April 1990
Der Şahin ist von weiteren Tritten verschont geblieben. Die Übergabe am Flughafen verläuft problemlos, nicht zuletzt wegen des geschliffen formulierten Protokolls.
Um das Flughafengebäude betreten zu dürfen, müssen wir unsere Pässe vorzeigen. Überall kommt es zu einzelnen unerwarteten Kontrollen durch bewaffnete Sicherheitskräfte. Das Handgepäck wird an zwei Stellen durchleuchtet. an unserem letzten Kontrollpunkt reißt ein Beamter wortlos Ingmar den Hirtenstab aus der Hand, ein bizarr geformter dicker Ast, den er in der Südtürkei gefunden hatte und als Souvenir mitnehmen wollte, und wirft ihn achtlos hinter den Tresen. Wir reagieren fassungslos, Ingmar weint bitterlich, ich wende mich an den Unmenschen und protestiere. Er klärt Ingmar pflichtgemäß darüber auf, dass Waffen jeglicher Art in einer Passagiermaschine aus Sicherheitsgründen nichts zu suchen hätten. Ein knapp zehnjähriger Junge gilt dem Bodenpersonal also schon als möglicher Terrorist. Als verantwortungsvolle, vorausschauende Eltern hätten wir natürlich wissen müssen, dass Ingmar mit seinem Hirtenstab in die Pilotenkanzel hätte eindringen können, um die Crew akut in Gefahr zu bringen, denke ich. Da die Warteschlange immer länger wird und wir uns nicht vom Fleck rühren, bequemt er sich nach hinten, holt das Corpus Delicti und bedeutet uns, das Teil gründlich mit unseren Jacken zu ummanteln. Eric berichtet uns, dass seinem Sohn Niels Ähnliches widerfuhr. Er musste sein Schwert, das er auf dem Basar in Istanbul gekauft hatte, dem Sicherheitsbeamten übergeben. Auf das Schwert wurde eigens eine Bordkarte ausgestellt. Dann sollte es für die Dauer des Fluges in der Pilotenkanzel deponiert werden. So streng sind hier die Sicherheitsvorkehrungen.
Bei der Suche nach unseren Plätzen gibt es eine besondere Überraschung. Unsere Platznummern existieren in diesem Flugzeug der Turkish Airlines gar nicht, obwohl alle anderen Angaben korrekt sind. Das Bordpersonal ist ebenso perplex wie wir. Man will uns auf andere freie Plätze delegieren. Wir bestehen beinhart darauf, nebeneinander zu sitzen. Wir spüren, das kann nicht gut ausgehen. Aus den Augenwinkeln beobachten wir, wie einige Fluggäste, die es sich schon auf ihren Sesseln bequem gemacht haben, umgeschichtet werden. Das Flugzeug füllt sich. Annika und Ingmar sollen sich nun einen Sitz teilen. Einer Frau wird der dadurch freigewordene Platz zugewiesen. Das geht gar nicht! „Fasten your seat bells“ heißt es auf einmal. Ich gehe zum Chefsteward und beschwere mich, dass unsere Kinder sich einen Platz teilen müssen. Der hat keine Zeit für mich; er muss kontrollieren, ob jeder einzelne Fluggast ordnungsgemäß angeschnallt ist. Also folge ich ihm, bis er die Reihe erreicht hat, wo wir sitzen. Ziemlich überrascht bin ich, als ich sehe, dass mein eigener Platz plötzlich besetzt ist. Sofort kommt mir der blöde Spruch „Aufgestanden, Platz vergangen!“ in den Sinn. Ich verlange, dass der Steward die Kinder angurtet, wohl wissend, dass diese Möglichkeit ausgeschlossen ist. Damit will ich vor allem an sein Verantwortungsgefühl appellieren. Er reagiert überhaupt nicht, sieht mich auch nicht an, egal, ob ich ihn auf Englisch oder Deutsch anspreche.
Inzwischen ist die Maschine schon in die Startposition gerollt. Das Bordpersonal schnallt sich an. Alle Plätze sind besetzt, einer sogar doppelt. Während des Starts stütze ich mich an der Toilettentür ab. Ich betrachte die gelangweilten Gesichter der Passagiere beim Abheben des Flugzeugs. Was ich jetzt entdecke, macht mich richtig wütend. In einer der hinteren Sitzreihen hat ein Passagier gleich drei Plätze belegt, den Fensterplatz für sich, die beiden Sessel neben sich für sein turmhoch aufgestapeltes sogenanntes Handgepäck. Noch immer sind wir im Steigflug. Ich wende mich an eine der Stewardessen, der man deutlich anmerkt, wie unangenehm ihr meine Situation ist. Wenig später darf ich ihren Platz einnehmen. Sie will dafür sorgen, dass unsere Probleme gelöst werden. Es dauert nicht lange und wir vier sitzen wieder auf unseren ursprünglichen Plätzen, die ja eigentlich nicht unsere sein können. Wer weiß, wo man die beiden Personen neben uns untergebracht hat; vielleicht in der ersten Klasse. Der Unsympath mit den drei Plätzen stiert ungerührt in seine Zeitung; sein Gepäck liegt unangetastet dort. Der hat bestimmt nicht für drei Tickets bezahlt, aber garantiert ein fettes Bestechungsgeld abgedrückt.
Viel Mitgefühl bringt uns meine nette Sitznachbarin zur Rechten entgegen; sie ist die Frau des türkischen Attachés in Moskau und kennt Heidi von den Treffen des Women’s Club in Moskau. Sie ist empört über das Verhalten ihrer Landsleute. Weitere Bekannte, mit denen wir das gerade Erlebte durchdiskutieren könnten, sind nicht an Bord.
Igor holt uns in Scheremetjewo ab und hält an der Botschaft an, damit Eric und ich unsere Post mitnehmen können. Erfreulich ist eine Nachricht von Herrn Koljonen: Die Bahntickets für die Tallinn-Tour sind da.
Angenehme 28 Grad in unserer Wohnung sorgen dafür, dass wir von einem Klimaschock verschont bleiben.
Am nächsten Nachmittag besuchen uns Christiane und Wolfgang. Sie stammen aus der DDR und arbeiten seit Jahren in Moskau, er als Ingenieur und sie als Lehrerin an der DDR-Schule. Wolfgang möchte sich für einen Job in der DDR bewerben und hatte uns gebeten, ihm bei der Formulierung seines Bewerbungsschreibens zu helfen. Er ist nicht der Einzige, der in den Tagen nach der Maueröffnung die Sowjetunion verlassen will, vielleicht auch muss. Die Ideale des Sozialismus geraten schnell in Vergessenheit, wenn es, so wie jetzt in den Zeiten des Umbruchs, um die eigene Existenz geht. Ellbogenmentalität und Egoismus, so erzählen die beiden, nähmen erschreckende Ausmaße an. Die DDR-Bürgerinnen und -Bürger würden wegen ihrer Zukunftsängste in Scharen das Land verlassen. Die Mitarbeiter aller fünf Militärakademien wurden offiziell aus Moskau abgezogen.
Der jetzige Schulleiter der DDR-Schule, dem bisher noch immer niemand von uns begegnet ist, muss die Schule verlassen. Christiane sagt, er habe sich viermal vergeblich auf eine Stelle in der DDR beworben und werde wohl in Frühpension gehen. Er habe inzwischen seine Unterrichtsstunden einfach seinem Kollegium aufgedrückt, da er sich nicht in der Lage fühle, neue Erlasse und Richtlinien umzusetzen. So einfach kann man es sich auch machen. Bei einer derartigen Verweigerungshaltung wäre er mit einer Frühpension noch gut bedient.
Wolfgang und Christiane sehen ihrer Zukunft mit gemischten Gefühlen entgegen, vor allem was ihre beruflichen Chancen angeht. Finanziell gesehen, waren sie bis jetzt in Moskau mit vergleichbaren Privilegien wie wir ausgestattet. Die DDR entsandte in das sozialistische Bruderland über Jahrzehnte bis heute stets zuverlässige Genossinnen und Genossen, die sich im Lande jedoch wesentlich freier bewegen durften. Ihr heimisches Gehalt wird während ihrer Arbeitszeit in der UdSSR auf ein Katalogkonto überwiesen. Nach ihrer Heimkehr sind sie berechtigt, mit diesem angesparten Geld aus einem Konsumgüterkatalog zu zwanzig Prozent Ermäßigung und ohne Wartezeit einzukaufen, vom Auto bis zu Mangelartikeln aller Art. Hierzulande wird ihre Tätigkeit in Rubeln vergütet. Für Moskau ist dafür ein durchschnittlicher Bedarf errechnet worden. Was pro Monat von dieser Bedarfssumme übrigbleibt, kann nach Hause überwiesen werden, zu einem Kurs von 3,30 Ostmark pro Rubel. Wenn nun in der BRD Ostmark gegen Westmark getauscht und diese Valuta in der UdSSR gegen Ostmark getauscht werden, die dann in die DDR überwiesen und anschließend in der BRD in Westmark getauscht werden, kann schon ein hübsches Sümmchen zusammenkommen. Nichts davon ist illegal, auch wenn es so wirkt.
Bevor die beiden gehen, fragen sie uns, ob wir wüssten, dass das Baltikum seit drei Wochen für Ausländer gesperrt sei. Das höre ich nicht so gerne.
Am Abend teilt Annika uns mit, dass Anne und Edda sich schon freuten, ab September mit ihr auf dieselbe Schule zu gehen. Ihr Vater habe gesagt, dass im Herbst beide Schulen unter dem Dach der DDR-Schule, aber getrennt voneinander, Unterricht hätten.
An Lenins 120. Geburtstag ist die ganze Stadt geflaggt. Die Krise in Litauen spitzt sich zu. Die Wirtschaftsblockade hat begonnen, wie wir im Radio hören. Herr Koljonen gibt grünes Licht für die Klassenreise nach Tallinn. Sein estnischer Geschäftspartner habe vor Ort alles für uns geregelt. Morgen Abend um 19 Uhr geht der Zug vom Leningrader Bahnhof. Wir sind gespannt, ob man uns einreisen lässt.