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ОглавлениеAuf der Wache
17. April – 19. April 1990
Auf dem Zeitungsrand einer türkischen Boulevardzeitung, auf einem Tisch auf der Veranda der Polizeistation von Alanya, steht in deutlich lesbaren Lettern der Name meines Vaters: RUDOLF.
Der Tag fing nicht gut an. Beim Verstauen unseres Gepäcks fällt mir eine Beule am linken hinteren Kotflügel ins Auge. Sie sieht aus, als hätte jemand unserem Leihwagen in einem Anflug von Übermut einen Tritt verpasst. An der Rezeption wird nachgeforscht. Der Nachtdienst habe nichts Auffälliges vor dem Hoteleingang bemerkt. Ich werde ins Büro des Managers gebeten. Zur Beruhigung wird mir Tee serviert; nein, kein Apfeltee, sondern, passend zur Stimmung, schwarzer Tee. Der Sicherheitsbeauftragte des Hotels, ein pensionierter Polizist, setzt sich zu uns. Die folgenden 45 Minuten führt der Manager mit zwei Apparaten gleichzeitig zwanzig bis dreißig Telefonate. Alle fallrelevanten Informationen wiederholt er für seinen Sicherheitschef, damit der sie stichwortartig auf zahlreichen Zetteln unterschiedlicher Größe festhält, die auf dem Schreibtisch seines Chefs herumliegen. Am Ende dieses Telefonmarathons steht fest: Die Verkehrspolizei ist nicht zuständig, da es sich streng genommen nicht um einen Unfall handelt. Die Mietwagenfirma benötigt aber einen polizeilichen Unfallbericht. So einen vertrackten Fall kann folglich nur die Kripo lösen. Deren Beamte seien aber heute leider sehr beschäftigt, sagt der Manager mitfühlend. Er greift sich entschlossen einen der Telefonhörer, beugt sich verschwörerisch nach vorn und gibt uns ein Geheimnis preis: „Der Leiter der Kripo, der kommt oft genug zu uns, um umsonst zu essen. Jetzt kann er auch mal was für uns tun!“ Als er den Hörer wieder aufgelegt hat, strahlt er uns an: „In zwei Stunden hat er Zeit für Sie.“
Hoffentlich ist dieser Kriminalfall nicht von so gravierender Bedeutung, dass die Spurensicherung das Fahrzeug unter ihre Fittiche nimmt, um es akribisch auf Fingerabdrücke und Faserspuren zu untersuchen. Ein Taxi - selbstverständlich auf Hotelkosten - fährt mich in Begleitung des Sicherheitschefs und der Hoteldolmetscherin aufs Revier. Im stickigen Eingangsflur, wo etliche Polizisten herumlungern, die allenfalls mit sich selbst beschäftigt sind, ist erst einmal Endstation. Mit offener Uniformjacke, vorgeschobener Wampe und Händen in den Taschen kommt der Revierleiter gleich zur Sache. Wir sollten sofort verschwinden, eine derartige Lappalie interessiere ihn nicht, schnauzt er unseren Hoteldetektiv grob an, ohne die Dolmetscherin und mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Der anschließende Wortwechsel führt fast zu Handgreiflichkeiten. Schließlich drängt man uns Richtung Ausgang. Unser Taxi steht noch am Straßenrand. Kaum sind wir drei eingestiegen, da öffnet ein uniformierter Polizist die Wagentür und steigt zu mir hinten ein. Er stellt sich als der Bruder unseres Detektivs vor. Ihm ist anzumerken, wie peinlich ihm der Vorgang auf der Wache war. Er werde das Kind schon schaukeln. Wir fahren mit ihm zum Tatort zurück, denn er möchte ein Protokoll aufnehmen.
Nach flüchtiger Begutachtung der Beule vermisst er mit Normschritten die Straßenbreite. Dann steigen wir allesamt um in unseren Leihwagen und fahren ein zweites Mal aufs Revier. Der Şahin, unser Modell, sei im Übrigen dem Mercedes 190 nachempfunden, erfahre ich auf der schon bekannten Strecke. In unseren Unterlagen steht, er sei ein Nachbau des Fiat 131.
Dem cholerischen Chef begegnen wir glücklicherweise nicht noch ein zweites Mal. Der Bruder steuert mit uns einen Tisch in einem völlig verqualmten Raum an, wo wir Platz nehmen. Büroklammern sind gerade nicht zur Hand. Ein Formular mit zwei Durchschlägen und Blaupapier wird kunstvoll und sorgfältig mit Stecknadeln so zusammengefügt, dass die Chose beim Schreiben nicht verrutscht. Nun müssen die üblichen Daten ins Protokoll aufgenommen werden. Zuerst ist er völlig irritiert, dass ich Deutscher bin, ihm aber eine Moskauer Anschrift gebe. Dann kriegt er den Namen meines Vaters einfach nicht auf die Reihe, obwohl die Dolmetscherin ihm den mehrmals buchstabiert. Was hat mein Vater mit dem Tritt in den Kotflügel zu tun, frage ich mich, und schreibe seinen Namen in Großbuchstaben auf den Rand einer Zeitung, die vor mir auf dem Tisch liegt. Meine Geburtsurkunde sowie einen lückenlosen Nachweis über Wohnorte und Tätigkeiten der letzten zwanzig Jahre muss ich nicht vorweisen. Auch meine Schuhgröße interessiert nicht weiter. Dabei könnte ich rein theoretisch zum Täterkreis zählen. Aber auf diesen Gedanken bringe ich ihn lieber nicht. Die beiden Brüder und die Dolmetscherin ringen förmlich um jedes einzelne Wort bei der Ausformulierung des unerhörten kriminellen Vorgangs. Jedes Mal, wenn ein Arbeitskollege vorbeikommt, tauscht man sich blumenreich zu diesem Ereignis aus. Wahrscheinlich weiß inzwischen ganz Alanya, was einer deutschen Familie widerfahren ist. Schon nach einer Dreiviertelstunde ist das handgeschriebene Protokoll in dreifacher Ausführung fertig.
Die nächste halbe Stunde sitzen wir in einer türkischen Amtsstube und werden Zeugen, wie eine Kladde mit zwei Mittelfingern sauber abgetippt wird. Die eine oder andere Formulierung wird noch etwas präzisiert. Der Bruder und ich unterschreiben das Dokument.
Der Vorgesetzte muss das Ganze nur noch eben durchlesen und abzeichnen. Nach fünfzehn Minuten ist auch das erledigt. Das Kopiergerät scheint am anderen Ende der Stadt zu stehen. Gegen Mittag erhalten wir unsere Protokollkopie, die wir dem Autoverleiher aushändigen sollen. Freundliches Händeschütteln und Schulterklopfen, bevor ich in den Şahin einsteige. Ich gebe zu, ein wenig Ungeduld hatte sich in den vergangenen Stunden bei mir schon aufgestaut. Doch ich bin sehr froh über so viel Freundlichkeit und engagierten Einsatz meiner drei Helfer. Und das sage ich ihnen auch.
Heidi hat wahrscheinlich schon im Geiste durchgespielt, wie sie mich mithilfe des deutschen Konsulats aus einer düsteren, vergitterten Arrestzelle frei kriegt.
Ob wir es heute noch bis Pamukkale schaffen? Wir gabeln Uschi auf und fahren nach Aspendos, um uns gemeinsam das riesige Amphitheater anzuschauen. Uschi steigt in Antalya aus. Wir kämpfen uns aus dem dichten Stadtverkehr heraus und verlassen die Südküste.
Auf der Strecke durch das Taurus-Gebirge bis zum Solda-See begegnen wir kaum anderen Fahrzeugen. Die Gegend ist sehr dünn besiedelt. Hier darf man keine Autopanne haben. Die nächste Ortschaft kann bei einem Notfall fünfzig Kilometer entfernt liegen. Die Passstraßen verhindern ein zügiges Vorankommen. Wir steigen am knapp 2000 Meter hoch gelegenen See aus. Auf den Gipfeln der Berge liegt noch Schnee, hier am See findet man nur noch vereinzelt Schneeflächen. Die Pause fällt wegen der Kälte knapp aus. Über eine Hochebene fahren wir weiter Richtung Nordwesten. Auf einer größeren Grünfläche stehen Dutzende von Störchen herum. Hinter der Stadt Denizli führt eine kleine Passstraße hinauf zu den Heilquellen von Pamukkale. Die Straße endet hier. Der Ort ist eigentlich nur eine Ansammlung von Hotels und einigen Gebäuden, die weitgehend der touristischen Versorgung, hauptsächlich von Tagesgästen, dienen.
Wir nehmen zwei Zimmer in dem kleinen Hotel, das Dieter uns ans Herz gelegt hat.
Die Zimmer haben zwar nur die Ausmaße einer größeren Umkleidekabine, dafür sind wir mit fünf Schritten an dem natürlichen Wasserbecken mit seinen sprudelnden Quellen. Das ebenerdige, hufeisenförmig angelegte Hotel rühmt sich damit, dass man beim Tauchen in diesem Becken Säulenreste aus dem antiken Hierapolis sieht. Weil das Wasser so klar ist, schimmern die marmornen Säulen zwischen den Felsen, dass man sie bereits von oben deutlich erkennt. Die Wassertemperatur liegt konstant bei 35 Grad. Sehr angenehm. Permanent steigen Luftbläschen nach oben wie in einer Mineralwasserflasche. Ohne Taucherbrille beginnen sofort die Augen zu brennen.
Früh am Morgen sind wir noch allein, als wir durch die weiße Kalklandschaft wandern, umgeben vom satten Grün der Felder und in der Ferne von schneebedeckten, wolkenverschleierten Bergen. Überall laufen kleine warme Rinnsale über die Wege. Das Quellwasser plätschert in kleinen Wasserfällen die gleißenden Kalkterrassen herab.
Am frühen Vormittag spucken die ersten Touristenbusse ihre Tageausflügler aus. Das rhythmische Klatschen der Reiseleiter macht den Touristen klar, dass der Zeitpuffer für das Tagesprogramm eng ist, wenn man die Sinterterrassen besichtigen will, im Stehen eine kurze Dusche Quellwasser auf sich niederrieseln lassen möchte und anschließend die antiken Stätten abklappern will.
Wir wohnen quasi auf dem Ruinenfeld der alten Stadt Hierapolis. Um das Hotel herum liegen Säulenreste, nur noch einige Grundmauern von Gebäuden sind stehen geblieben. Aber das römische Theater, das wir von unserem Fenster sehen, ist noch recht gut erhalten. Auf den Stufen dieses Theater sitzen wir nun bis zum Sonnenuntergang. Aber wir bleiben nicht lange allein. Einige Händler bieten uns antike Münzen aus unterschiedlichen Epochen an. Einer von ihnen behauptet, sein Vater sei beim Umgraben seines Gartens am Rande dieser Ausgrabungsstätte auf so einen Schatz gestoßen. Die Deutschen seien vernarrt in Münzen und würden sie ihm geradezu aus den Händen reißen. Ich frage ihn, warum er den Fund seines Vaters nicht einem Museum zur Verfügung gestellt habe. Das sei auch sein allererster Gedanke gewesen. Aber das Museum in Denizli sei nicht interessiert gewesen. Man sei eher auf größere Stücke fixiert, wie Säulen und Statuen. Diese Geschichte kann er seinem Friseur erzählen, denke ich. Falls ich wertvollen Münzen absolut gar nichts abgewinnen könne, habe er auch wunderschöne Kelims im Angebot.
Der nächste Händler, der schon in Lauerstellung gegangen ist, zieht aus einer Tasche eine Miniaturstatuette, die er erst kürzlich am Rande dieser antiken Stätte ausgegraben haben will. Der Erhaltungszustand komme einem Wunder gleich. Ansonsten habe er auch noch wunderschöne Kelims im Angebot.
Wenn man vom türkischen Zoll bei der Ausfuhr von Antiquitäten erwischt wird, schützt einen auch ein Diplomatenpass nicht vor der Arrestzelle. Deshalb lehne ich auch dieses Angebot schweren Herzens ab und überlasse Münzen und Statue den deutschen Kunden, die vernarrter in solche Schätze sind als ich.
Früh am Morgen brechen wir zu unserer letzten, etwa 700 Kilometer langen Etappe nach Istanbul auf, auf der E 24 über Afyon und Izmit. Im Hotel Keçik empfangen uns Eric und Gisela mit ihren beiden Söhnen, die die Osttürkei bereist haben. Dieses Treffen ist kein Zufall, sondern war geplant. Wir fliegen morgen gemeinsam zurück nach Moskau.