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Holzlatten statt Butter

20. November – 30. November 1989

Der Damaskus-Flug für die Jahreswende ist gebucht und von Aeroflot auf Lufthansa umgerubelt. Das geht also noch, obwohl der 1. November längst vorbei ist, der Tag, an dem die neue Regelung in Kraft treten sollte. Ab Januar 1990 sollen neue Rubel die alten ablösen. In welcher Form das im Einzelnen geschehen soll, ist noch nicht bekannt. Lohnt sich das Tauschen noch? Müssen wir die jetzigen Rubelscheine loswerden, indem wir uns auf eine Shopping-Tour begeben? Gibt es Übergangsfristen? Wo soll man die alten gegen die neuen Rubel tauschen? Wie so oft müssen wir einfach alles auf uns zukommen lassen.

Die Mangelwirtschaft hat im November einen neuen Tiefpunkt erreicht. Das Angebot an Lebensmitteln in den Läden beschränkt sich auf ganz wenige Waren. Wir betreten einen sehr großen Produkti am Leninskij Prospekt. Etliche Regalwände sind völlig leer. Es gibt nur drei Produkte in diesem Produkti, die weit auseinander aufgereiht präsentiert werden, um die Leere etwas zu überspielen: Mehl, Margarine und Ballongläser mit eingelegten grünen Tomaten. Kunden sind in der Minderzahl. Die Verkäuferinnen lungern gruppenweise und beschäftigungslos herum. Einige unterhalten sich angeregt, andere lackieren ihre Fingernägel. Ein bedrückendes Szenario, das wir ganz ähnlich auch schon in anderen Läden erlebt haben! In einem Topfblumengeschäft allerdings scheint das Angebot an großen Pflanzen üppig zu sein – und das im November. Aber schnell stellt sich heraus, dass all die prächtigen Topfpflanzen zur Dekoration gehören und unverkäuflich sind. Es gibt hier, bis auf ein paar mickrige Zwergpflanzen, nichts Brauchbares zu kaufen. Wir fragen uns, warum hier überhaupt geöffnet ist. Trostloser geht es kaum. Selbst Smetana, der gute fetthaltige Schmand für die Blini, die russischen Pfannkuchen, ist ausverkauft. Butter ist auch nirgendwo zu kriegen.

Auf dem Gehweg kommt uns eine größere Gruppe von Männern entgegen, die Holzlatten geschultert haben. Überall sehen wir jetzt Männer mit solchen Holzlatten umherlaufen, die von Männern, die noch nicht im Besitz so eines seltenen Heimwerkerschatzes sind, mit einer Mischung aus Neid und Misstrauen beäugt werden. Diese wiederum können sich einen leicht triumphalen Blick nicht verkneifen. Aber sie verhalten sich auch leichtsinnig, drehen sich um, biegen plötzlich und unerwartet ab, was den anderen Passanten viel Geschicklichkeit und Reaktionsvermögen abverlangt, den mindestens drei Meter langen, beweglichen Holzhindernissen auszuweichen. Und sie müssen sich Hupkonzerte und böse Blicke von Autofahrern gefallen lassen, wenn sie die Straße überqueren.

Es hat stark geschneit, die Temperaturen sinken bis auf minus 20 Grad, die Moskwa ist zugefroren. Einige Eisangler mit ihren heruntergeklappten Schapkas verharren bewegungslos vor den Eislöchern. Die Goldkuppeln im Kreml sind an einigen Stellen mit Eis und Schnee bedeckt

Die Scheibenwaschanlage streikt. Experten kippen Wodka in den Plastikbehälter, um die Anlage wieder flottzumachen. Das klappt aber nur, wenn der Behälter zuvor restlos leer war. Hätten wir das vorher gewusst, hätten wir den Wodka anderweitig genutzt. Die Scheiben sind dermaßen verdreckt, dass wir permanent Putzpausen am Straßenrand einlegen müssen, weil bei uns ja der Wodka-Trick nicht funktioniert hat. Wehe, wenn in so einem Augenblick eine Schneeräum-Brigade vorbeirauscht. Dann wird die verschmutzte Frontscheibe zu einem Randproblem. Rette sich, wer kann, heißt es dann. Mit mindestens 60 km/h brettern vier bis sechs hochbeinige Kipplaster mit riesigen Schneeschaufeln in diagonaler Formation über die mehrspurigen Straßen in der Weise, dass die Schneemassen an den rechten Straßenrand geschleudert werden; genau dort, wo man vielleicht gerade parkt, um seine Fensterscheibe zu reinigen. Auf den Gehwegen sind kleine Schneeräumer auf Ketten, manchmal auch Schneefräsen unterwegs. Sie haben die Aufgabe, den Schnee auf die Straße zu schieben bzw. zu fräsen, damit auch wirklich der gesamte Fußweg schneefrei ist. So kann es passieren, dass ein kurzfristig abgestelltes Auto am Straßenrand gleich auf zwei Seiten von den Schneemassen begraben wird. Dann ist das Auto quasi eine Zeitlang stillgelegt, denn man hat ja nicht immerzu im Winter einen Schneeschieber im Kofferraum, den man nach dem Verlassen des Wagens schultert wie die Heimwerker ihre Holzlatten. Die Einheimischen schütten niemals Wodka in die Waschanlage. Sie halten lieber einmal mehr am Straßenrand an, um die Scheiben zu säubern, was eben fatale Folgen haben kann. Für beide Räumkommandos gilt im Übrigen die Devise: Ohne Rücksicht marsch!

Sergej bezahlen wir, seitdem es Regen und Schnee gibt, seit geraumer Zeit mit einer Stange Marlboro im Monat dafür, dass er jeden Morgen, bevor wir zur Schule müssen, unseren jeden Tag aufs Neue verschlammten Passat wäscht. Nach guten fünf Minuten ist so eine Grobreinigung beendet. Sergej arbeitet in der Wintersaison wie am Fließband, um seine zig Autos am Morgen rechtzeitig sauber zu bekommen. Unter seiner Anleitung hilft ihm noch ein Stab von angeheuerten Hilfskräften. Diese Saisonarbeiter sind unabkömmlich, damit der Fuhrpark von drei dreizehnstöckigen Wohnhäusern rechtzeitig gereinigt ist. Wir sind Sergej sehr dankbar, dass er uns diese Drecksarbeit abnimmt. Mithilfe seiner diversen Stangen Marlboro kann er in der Zeit der Mangelwirtschaft garantiert auf dem Schwarzmarkt all die Waren eintauschen, auf die ein großer Teil der Bevölkerung vorübergehend verzichten muss.

Auf Initiative der Moskauer Künstlervereinigung findet erfreulicherweise eine Begegnung mit russischen Kindern statt. Unsere Schülerinnen und Schüler durften in deren Räumlichkeiten ihre selbst gemalten Bilder ausstellen. Bei einem kleinen Festakt spielen Nachwuchskünstler des staatlichen Konservatoriums, die stolz als Wunderkinder vorgestellt werden, Klavier und Gitarre. Das Moskauer Fernsehen filmt und macht einige Interviews. Das alles läuft völlig zwanglos und unkompliziert ab. Dieser neue Umgang miteinander kommt überraschend und stimmt uns für die nahe Zukunft optimistisch.

Am Abend ist die Wohnung voll von Geburtstagsgästen. Heidi ist 38 geworden. Es gibt russische Vorspeisen, Lachs- und Störkaviar mit Smetana und ungarische Kasserolle als Hauptgericht, dazu verschiedene Weine, Schampanskoje und Wodka. Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass es ohne unsere privilegierte Stellung, mit unseren Einkaufsmöglichkeiten und verschiedenen Zahlungsoptionen, kaum möglich gewesen wäre, so zu tafeln.

Der Abwasch am nächsten Tag dauert fast zwei Stunden - reine Handarbeit, denn die Spülmaschine konnte bisher noch nicht angeschlossen werden, steht aber pro forma schon an ihrem Platz. Je größer die Anzahl der Elektrogeräte im Haushalt, desto mehr technische Probleme türmen sich auf. „Hohe Schwankungen der Netzspannung verkürzen die Lebensdauer von Glühbirnen und elektrischen Haushaltsgeräten“ in der Sowjetunion, liest man im Info-Blatt für Außenhandel. Waschmaschine und Trockner funktionieren inzwischen reibungslos, das Fernsehgerät wartet noch immer auf sein richtiges Zubehör für den Anschluss. Der Wäschetrockner erweist sich in der Heizperiode als fragwürdiger Luxus. Es ist so heiß und trocken in unserer Wohnung, dass die einzelnen Wäschestücke schon beim Herausziehen aus der Waschmaschinen-trommel spürbar zu trocknen beginnen. Das Öffnen der Fortotschkas, der kleinen Lüftungsfenster, die es in jeder Wohnung im Lande gibt und die immer gefahrlos zu öffnen sind, bringt nur eine vorübergehende Abkühlung. Abgase, Regen, Schnee; es dringt immer etwas in die Zimmer ein, das dort unerwünscht ist. Selbst wenn wir nachts nackt und ohne Bettdecken schlafen würden, wäre es noch zu heiß für einen erholsamen Schlaf. Deshalb riskieren wir es, im Schlafzimmer die Fortotschka immer offenstehen zu lassen. Tagsüber laufen wir in Sommerkleidung, T-Shirts, kurzer Sporthose, durch die Wohnung. Die Zimmertemperatur sinkt selten unter 28 Grad, es sei denn, ein Sturm peitscht uns eisige Luft in die Zimmer durch die Fensterritzen, die wir ganz bewusst nicht mit Klebestreifen abgedichtet haben. Der Temperaturunterschied zwischen drinnen und draußen liegt im Augenblick bei 40 bis 45 Grad.

Selbst meine Pfeife, die ja durch das Rauchen Extremhitze gewohnt ist, leidet unter der Trockenheit. Ein Riss außen am Pfeifenkopf wird täglich länger und weitet sich. Bevor Rauchschwaden aus dem Kopf dringen, entsorge ich das gute Stück.

Remont

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