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ОглавлениеGiselle
1. Februar –12. Februar 1990
Mit Gisela, Hellmuth, Roswitha und Piroschka, Annika ist auch dabei, sehen wir uns im Bolschoi-Theater eine der beliebtesten und romantischsten Ballettaufführungen an: Giselle nach der Musik des französischen Ballettkomponisten Adolphe Adam. Vor Beginn der Vorstellung stärken wir uns am Theatertresen ein wenig mit dem, was heute im Angebot ist: mit Wurstbroten, Kuchen, Bonbons und Schampanskoje. Wie üblich verschwindet einiges von dem Angebot in den mitgebrachten Einkaufstaschen und Plastiktüten der Einheimischen. Ich habe es geschafft, meine Kamera in Heidis Tasche an der Garderobe vorbeizuschmuggeln. Fotografieren ist im Theater, besonders während der Aufführung, strikt untersagt. Vor Beginn der Vorstellung kontrollieren die uniformierten Platzanweiserinnen im Halbdunkel mit ihren kleinen Taschenlampen die Billetts und geleiten die Theaterbesucher an ihre Plätze. Ihr Umgangston ist in der Regel militärisch knapp und schroff. Man hat den Eindruck, dass sie sich genau in dieser Rolle gefallen. Wenn jemand gegen irgendeine Verhaltensregel verstößt, schreiten sie unbarmherzig ein. Meine Kamera würde ich im Ernstfall wohl so schnell nicht wiedersehen. Ich riskiere es trotzdem und mache heimlich Aufnahmen, auch während und nach der Vorstellung. Zum Glück sitzen keine Denunzianten um uns herum. Ich habe noch nie eine Ballettaufführung gesehen. Aber was wir heute Abend geboten bekommen, ist von so unfassbarer Ästhetik, Authentizität und Perfektion, so voller Emotionen, dass wir gar nicht anders können, als uns dem frenetischen Applaus und Jubel anzuschließen. Wo kommen in dieser Zeit der Mangelwirtschaft nur die vielen Blumen her, mit denen die Bühne übersät ist?
Piroschka hat für uns im Restaurant des Hotels National, nur einen Steinwurf entfernt vom Roten Platz, Plätze reservieren lassen. Hier wollen wir den Abend nach der aufwühlenden Darbietung im Bolschoi-Theater ausklingen lassen. Der reichgedeckte Tisch in diesem etwas plüschigen Raum steht direkt am Fenster, mit Blick auf die Basilius-Kathedrale. Eigentlich hatte sich das Hotel vorgenommen, ab Januar nur noch Valuta als Zahlungsmittel von Ausländern zu akzeptieren, doch dank Piroschkas Verhandlungsgeschick wird für heute eine Ausnahme gemacht. Es gibt sogar Schampanskoje und schwarzen Kaviar.
Da ich den Fotoapparat dabei habe, nutze ich die Gelegenheit und lege eine kleine Esspause ein. Ich kann einfach diesem Motiv der angestrahlten Kathedrale nicht widerstehen und gehe mit Annika die wenigen Schritte bis zum Roten Platz, der mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt ist, also eher weiß ist als rot.
Zufällig bekommen wir jetzt, um 23 Uhr, die Wachablösung vor dem Lenin-Mausoleum mit. Der Remont konnte leider nicht termingerecht abgeschlossen werden. Um diese Zeit sind wir allein auf dem Platz, wenn man von den Wachsoldaten absieht. Wir umrunden die über 400 Jahre alte Kathedrale, die unter Iwan dem Schrecklichen errichtet wurde, der hier Iwan Grosnij, Iwan der Große, heißt, damit auch alle neun Kuppeln im Kasten sind.
Die McDonalds-Warteschlange ist nach meiner Schätzung 400 bis 500 Meter lang, wobei die hinten Stehenden noch ungefähr 100 Meter vom Gorki-Platz entfernt sind und das Restaurant, so heißt das hier euphemistisch, noch längst nicht sehen können. Die Hungrigen stehen in Viererreihen an. Damit alles seine Ordnung hat, regelt die Miliz den Verkehr – auf der Straße und auf dem Bürgersteig. Die Länge einer zweiten Schlange ist überschaubar; die Anzahl der Leute kann ich an zwei Händen abzählen. Dort muss die Miliz nicht eingreifen. Der Eingang, vor dem diese überschaubare Gruppe ausharrt, ist nur für Devisenbesitzer geöffnet. Beide Gruppen wollen nur das Eine: Burger.
Am 3. Februar gibt es die bisher größte Demonstration für Reformen im Stadtzentrum. Über 200 000 Menschen, darunter auch viele Nationalisten gehen auf die Straße. Der deutschen Kolonie wurde von der Botschaft geraten, die Innenstadt an diesem Tag zu meiden – aus Sicherheitsgründen. Zum Glück verläuft alles friedlich. Vier Tage zuvor hatte Gorbatschow bei einem Kurzbesuch des neuen DDR-Regierungschefs Modrow in Moskau der Einheit der beiden deutschen Staaten zugestimmt. Aufregende Zeiten in Deutschland und in der Sowjetunion!
Jetzt geht’s los! Bei der zweiten Begehung der Packbier-Wohnung mit einem Elektriker darf ich mir wünschen, wo überall noch zusätzliche Steckdosen verlegt werden sollen. Begeistert von diesem Angebot gehe ich mit dem etwas mürrisch wirkenden Mann von zu Raum zu Raum und trage ihm, wie ich finde, überzeugend meine gut durchdachten Überlegungen mit. Mein Konzept stößt auf wenig Gegenliebe. In 98 Prozent aller Fälle sprächen angeblich schwerwiegende Gründe dagegen, ausgerechnet an diesen neuralgischen Punkten die Wand aufzumeißeln. Es kann nicht angehen, dass man überall, wo ich hinzeige, auf Kabel für eine Abhöranlage stoßen würde. Schade, dass Sergej hier kein Wörtchen mitzureden hat. Am Ende markiert er mit einem Zimmermannsbleistift genau die Stellen, die sich aus seiner Sicht geradezu wie von selbst anbieten würden. So etwas nennt man Scheinmitbestimmung. Vielleicht hätte ich seine Pläne durch eine kleine Zuwendung positiv in meine Richtung lenken können.
Das gut gelaunte Team, das zwei Tage später aufläuft, soll nach der peniblen Vorarbeit des Elektrikers die Dosen verlegen und sogar schon mit dem Streichen der Decken und Wände beginnen. Bevor sie mit der Arbeit anfangen, legen sie eine Frühstückspause ein und machen witzige Bemerkungen über den geplanten Durchbruch, der aus unerfindlichen Gründen nach dem Malen in Angriff genommen wird. „Wand kaputt, Wand auf Straße“, sagt einer aus der Gruppe auf Deutsch und zeigt dabei mit der Hand, mit der er eine dickbelegte Wurststulle umklammert, auf das Objekt, das angeblich in Kürze eingeschlagen werden soll. Wenn wir diese Aktion doch schon hinter uns hätten!
Im Laufe des Tages schleppen sie große Pappen in die Wohnung. Mit denen wollen sie die Lücke später schließen, damit sie uns während ihrer Arbeit drüben nicht stören. Die Pappen wollen sie praktisch zu einer Ersatzwand zusammenbauen und an dem Rest der Wand befestigen. Dafür würden sie größere Mengen breiten Klebebands benötigen. Und das sei im Moment schwer zu bekommen. Daran soll das Projekt nicht scheitern. Zufällig haben wir noch einige Rollen in unseren Vorratskisten, von denen wir ihnen erst einmal eine anbieten.
Bei Sabine und Michael lernen wir Wassilij kennen. Er war drei Monate in Frankreich und Deutschland unterwegs und berichtet begeistert von seinem ersten Aufenthalt im Westen. Später greift er zu seiner Gitarre und singt russische und französische Chansons. Wassilij wohnt in Moskau, ist etwa Mitte dreißig, alleinstehend und macht auf uns sofort einen sympathischen Eindruck. Wir laden ihn spontan für den nächsten Tag ein.
Wassilij besucht uns am Nachmittag zum Kaffee. Zuvor musste er sich bei dem Milimann registrieren lassen: Angaben zur Person, Anlass des Besuchs, Angaben zu den Gastgebern. Ohne Einladung hätte er das Gelände gleich wieder verlassen müssen.
Wassilij ist sehr gesprächig. Er ist auf der Halbinsel Krim geboren und lädt uns ein, ihn im Sommer in seine Heimatstadt Jewpatorija zu begleiten, wo sein Vater wohnt. Dieser Küstenort liegt im Westen der Krim. Von nun an wird es politisch. Er diskutiert mit uns unverblümt über seine Haltung zum Tartarenproblem und Stalins Schreckensherrschaft. Wassilij nimmt kein Blatt vor den Mund, obwohl er weiß, dass Ausländerwohnungen abgehört werden. Er preist Gorbatschows Perestroika und wünscht sich ein geeinigtes, friedliches Europa in naher Zukunft.
Normalerweise wohnt man nicht mit besonderem Interesse einer Müllentsorgungsaktion bei. Mülltonnen und Container werden täglich tausendfach geleert. Sie gehört zum Alltag einer Stadt wie zum Beispiel eine Schneeräumaktion oder das Sprengen zu trockener Straßen. Manchmal jedoch wird man unverhofft Zeuge eines filmreifen Schauspiels. Heute steht ein Einpersonenstück auf dem Programm. Und das spielt sich direkt vor unserem Haus ab. Die Kernhandlung ist schnell erzählt. Ein etwa vierzig Jahre alter Mann der staatlichen Müllabfuhr in blauer Arbeitskleidung hat die Aufgabe, drei gefüllte Müllcontainer ohne Abdeckung mithilfe eines Flaschenzugs auf die Ladefläche seines Entsorgungsfahrzeugs zu bugsieren, sie dort zu entleeren und sie anschließend an ihren vorherigen Standorten wieder abzusetzen. Klingt einfach, ist es aber nicht.
Der Fahrer hat quer vor der Zufahrt zu unseren Wohnblöcken gehalten und versperrt diese wie ein Korken eine Flasche. Das Ganze soll ja auch nicht lange dauern. Jetzt schlüpft er direkt vom Führerhaus über eine Verbindungstür auf die Ladefläche, die auf jeden Fall schon mal genügend Platz für den Müll der drei Container bietet. Die Ausgangssituation ist optimal. Der Mann dirigiert nun den Flaschenzug gekonnt in Richtung des mittleren, völlig überfüllten Containers. Ein ausgefahrener Greifarm schnappt nach ihm und zieht ihn in die Höhe. Dieser Vorgang verlangt viel Feingefühl, damit der Container nicht ins Taumeln gerät. Das hat unser Mann nicht. Die Kräfte, die jetzt wirken, kann er nicht mehr kontrollieren. Im Nu sind Teile des Fußwegs und der Fahrbahn mit Abfall übersät, der sich hübsch von der weißen Neuschneedecke abhebt. Die Reaktion der umherstehenden Zuschauer fällt unterschiedlich aus. Die Passanten springen zur Seite, um sich vor dem herabfallenden Müll zu schützen, manche schütteln den Kopf, vereinzelt sieht man Drohgebärden. Die Autofahrer, die mit laufenden Motoren vor oder hinter der Zufahrt zum Zuschauen verdammt sind, beginnen ein Hupkonzert. Das sind erste deutliche Unmutsbekundungen. Noch während der Container in der Luft schwebt, steigt ein Autofahrer aus und blafft den Müllwerker an, dass er ganz gern zur Arbeit fahren würde. Dieser nimmt das wortlos zur Kenntnis, um nun in aller Seelenruhe und ganz langsam den Container auf die Ladefläche zu hieven, damit nicht noch mehr Müll verloren geht. Das klappt auch gut. Ebenso das Entladen. Nur dass dabei eine kleine Woge Abfall durch die geöffnete Verbindungstür ins Führerhaus geschwemmt wird. Das war sicher nicht so geplant. Jetzt soll der leere Container wieder zurück in seine Ausgangsposition gesteuert werden. Doch viel zu früh löst sich der Greifer, und der Blechcontainer saust scheppernd auf den Bürgersteig nieder. Die gute Nachricht: Personenschäden sind Gott sei Dank nicht zu beklagen. Der Müllexperte muss zwangsläufig sein Fahrzeug verlassen. Wütend kickt er einen zerfledderten Pappkarton in Richtung der Zuschauer und versucht nun, den schlecht zu packenden, schweren Container über den rutschigen Untergrund an seinen angestammten Platz zu ruckeln. Als er das endlich hinter sich gebracht hat, steigt er ein und fährt über den verstreuten Müll davon. Die beiden anderen vollen Container sind später an der Reihe. Folglich war dies der erste Akt des Dramas.