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Außerirdische

3. März –15. März 1990

Noch inoffiziell erreicht uns die Nachricht, dass wir am 1. September 1990 oder im Januar 1991 in die DDR-Schule mit einziehen. Das wäre für das UPDK die sauberste Lösung. Es müsste sich keinen Kopf mehr darüber machen, wo sie uns nach dem Auslaufen unseres Mietvertrags unterbringt. Aber noch bleibt das Ganze ein Gerücht.

Heute Abend sind Lena, Wolodja und Wassilij zu Gast bei uns. Lena schenkt Heidi russisches Rouge und Wolodja mir ein Taschen-Lexikon Russisch-Deutsch. Wassilij jammert über den katastrophalen Straßenzustand in Moskau. Vor allem regt er sich über die tiefen Schlaglöcher auf. Damit erzählt er uns nichts Neues. Kürzlich habe er einen alten Audi erstanden, und das gute Stück solle möglichst nicht gleich zu Bruch gehen. Aha! Lena und Wolodja zeigen Fotos von ihrem Camping-Urlaub an einem kleinen Fluss in der Nähe des Ladoga-Sees und erzählen von ihrem zweijährigen Aufenthalt als Dolmetscher in Algerien. Wassilij verlässt uns schon um 22 Uhr. Er hat noch einen Termin bei anderen Freunden. Wir warnen ihn ausdrücklich vor den zahlreichen Schlaglöchern auf seinem Weg dorthin. Dass seinem Audi bloß nichts zustößt! Um 1 Uhr ruft er an und fragt, ob er wiederkommen könne. Die beiden anderen sind gerade gegangen.

Frau Meyer schildert uns, was sie heute erlebt hat. Dazu muss man vorausschicken, dass wir Tauwetter haben. Beim Einsteigen in ihr Auto wird sie von einem vorbeirasenden Fahrzeug von oben bis unten mit Schneematsch eingesudelt. Frau Meyer ist eine resolute Person mit ausgezeichneten Russisch-Kenntnissen. Sie wirft sich ins Auto und nimmt die Verfolgung des Täters auf. Sie stellt ihn schließlich vor einer roten Ampel, reißt dessen Fahrertür auf und stellt den verdutzten Mann vor die Alternative, entweder die Komplettreinigung ihrer Kleidung zu übernehmen oder Reinigungskosten in Höhe von 10 Rubeln bar auf die Hand zu erstatten. Der Fahrer reagiert unerwartet. Er halte die Kosten für zu hoch, kenne aber in der Nähe ein Blumengeschäft. Beide parken am Straßenrand und gehen gemeinsam in den Laden. Der reuige Sünder überreicht ihr als Entschuldigung einen schönen Blumenstrauß. Eine große Geste!

Beim zweiten Volleyball-Treffen mit den DDR-Kolleginnen und -Kollegen in deren Sporthalle spielt der Sport eine eher untergeordnete Rolle. Das liegt vor allem daran, dass wir ewig lange im Zeitlupentempo über den Hallenboden kriechen, weil Andreas gleich nach Spielbeginn eine Kontaktlinse verloren hat. So ein Ereignis stärkt den Gemeinschaftssinn ungemein. Die Lichtverhältnisse sind nicht gerade so günstig, dass man ein so winziges, durchsichtiges Teilchen sofort wiederfindet. Was auf Außenstehende wie eine Yoga-Gruppenübung wirken würde, führt schließlich zum Erfolg. Erleichtert werden in der Sauna und danach, direkt neben der Sauna, im sogenannten Klubraum Witze über die verlorene und endlich geborgene Linse gerissen. Es gibt DDR-Pils und Tee mit Schnaps.

Auch das Bild, was wir jetzt abgeben, entbehrt mit Sicherheit nicht der Komik. In Bademäntel gehüllt oder abenteuerlich mit Handtuchlendenschurzen bedeckt, an den Füßen Badelatschen, sitzen sich die plötzlich näher gekommenen Brüder und Schwestern aus zwei deutschen Staaten gegenüber und diskutieren über Politik. Die ganze Zeit läuft im Hintergrund DDR-Rockmusik. Ein begabter DDR-Kollege erzählt DDR-Witze und stellt sie wie ein Schauspieler so authentisch dar, dass er ab und zu den Gürtel seines Bademantels festzurren muss. Nachts um 1 Uhr sind wir so weit getrocknet, dass wir in unsere Kleidung schlüpfen und nach Hause fahren.

Wir freuen uns, wie herrlich normal dieser Abend war.

Jetzt ist es amtlich. Ich fahre mit meiner Klasse nach Tallinn. Herr Koljonen, finnischer Geschäftsmann und der Vater meiner Klassensprecherin Mona, hat schon ein grobes Programm für uns vororganisiert. So könnten wir beispielsweise eine Hühnerfarm in einem umgebauten Schloss besichtigen. Ich bin mir nicht sicher, ob das die pubertierenden Kinder vom Hocker reißt. Vielleicht hat die Stadt ja auch noch andere kulturelle Highlights zu bieten. Auf jeden Fall hat er schon mal die Unterkunft gebucht, und die Zugtickets sind in Arbeit.

Am 8. März ist der internationale Frauentag, in der Sowjetunion seit 1965 ein staatlicher Feiertag. In den Staatsmedien wird dieser Tag gebetsmühlenartig als vorbildliches Beispiel der völligen Gleichstellung und der Emanzipation der Frau in der sozialistischen Gesellschaft gepriesen. Was Bildung, Ausbildung, Chancengleichheit, Bezahlung und vieles mehr angeht, kann sich die UdSSR durchaus im Vergleich zu den westlichen Ländern sehen lassen. An der traditionellen Rollenverteilung hat das nicht gerüttelt. Ein Mann, der im Haushalt auch nur einen Finger rührt, gilt als Waschlappen. Auch das tägliche Schlangestehen, um bestimmte Güter zu ergattern, ist nicht sein Ding. Höchstens, wenn es um den Wodkanachschub geht, reißt er sich mal ein Bein aus und geht dafür auf die Straße. Für den Mann hat dieser Feiertag den Charakter eines Muttertages. Er gratuliert seiner Angetrauten mit einem Strauß Blumen und geht, wenn das Wetter es zulässt, mit ihr spazieren, was man heute ganz gut auf den Straßen beobachten kann.

Auch Wassilij weiß, was sich gehört. Er ruft an und gratuliert Heidi zum Frauentag. Daraufhin rufe ich schnell Lena an, um ihr zum Frauentag zu gratulieren. Sie freut sich so sehr darüber, dass sie uns zum Abendessen zu sich nach Hause einlädt, wo wir Lenas Freundin, die auch Lena heißt, und dem Programmierer Jura begegnen.

Bevor wir losfahren, müssen wir Ingmar eine Pizza servieren. Er hat seit zwei Tagen eine üble Magen-Darm-Infektion und war bis heute Vormittag restlos erledigt. In seinem tiefen Mittagsschlaf habe er von Cola, Pizza, Flips und Fleisch geträumt. Ein gutes Zeichen. Nach dem Aufwachen sucht er nach Orientierung: „Ist jetzt schon morgen oder noch gestern?“.

Gisela (aus Kiel) schlägt einen Ausflug nach Istra vor, etwa 60 Kilometer nordwestlich von Moskau. Wir erreichen die kleine Stadt über Krasnogorsk, eine Großstadt, die immer näher an den äußeren Autobahnring Moskaus heranwächst. Krasnogorsk versprüht viel sozialistischen Charme. So durchfahren wir langsam das Stadtzentrum ohne Zwischenhalt. Durch größere Waldgebiete und kleinere Dörfer geht es weiter Richtung Istra, bei wolkenlosem Himmel. Der Schnee beginnt allmählich zu tauen. Golden und grün sind die Kuppeln der Klosteranlage, die weithin sichtbar auf einer Anhöhe liegt. Das ehemalige Männerkloster Neu-Jerusalem aus dem 18. Jahrhundert ist unser Ziel. Wir parken dort und gehen eine Stunde bei diesem herrlichen Wetter erst innerhalb der weitläufigen Anlage, die von einer weißen Mauer umgeben ist, spazieren und erkunden hinterher die nähere Umgebung. Es ist absolut still und menschenleer, fast wie ausgestorben. Keines der Gebäude, nicht einmal den Glockenturm und die große Kathedrale, kann man besichtigen. Auch das Museum ist geschlossen. Einen Remont-Hinweis entdecken wir nirgends. Verwunderlich ist das nicht, da Kirchen und Klöster, wenn sie nicht zerstört wurden, landesweit seit Jahrzehnten dem Verfall preisgegeben sind oder zweckentfremdet genutzt werden, zum Beispiel als Unterstand für Feuerwehr und Rettungsfahrzeuge, als Lagerhallen oder Bibliotheken. Religion als Opium für das Volk - da fühlten sich die Staatsorgane geradezu verpflichtet, zum Wohle der Volksgesundheit mit allen Mittel einzuschreiten.

Wassilij schlägt einen Besuch im Puschkin-Museum vor. Dort hat eine Sonderausstellung über die Etrusker begonnen. In der Zeitung hat Wassilij gelesen, dass es eine kleine Panne beim Auspacken der kostbaren Leihgaben gegeben hat, die fast alle aus dem Ostblock stammen. Eine Aushilfskraft, ein 80-jähriger Rentner, habe eine riesige etruskische Vase aus Versehen fallen gelassen und danach am Rande eines Nervenzusammenbruchs gestanden. Der verzweifelte Mann sah sich wahrscheinlich schon für diese Ungeschicklichkeit ins Gefängnis wandern. Zu seinem Glück sei das gute Stück über eine Million Rubel versichert gewesen. Zur Stärkung seines Egos trägt das nur bedingt bei.

Als wir durch die Ausstellung gehen, denke ich bei jedem größeren Gegenstand, den wir betrachten, an den armen, alten Mann. Die einzelnen Fundstücke sind ausführlich beschriftet und kommentiert – auf Russisch, wie immer und überall in der Sowjetunion. Selbst Führungen sind nur auf Russisch zu haben, je nach Gruppe mit Dolmetscher. Unser Dolmetscher Wassilij übersetzt die einzelnen Erklärungen in ein Gemisch aus Deutsch und Englisch.

Das prachtvolle klassizistische Gebäude allein ist schon einen Besuch wert. Vom Foyer aus schreitet man eine breite, herrschaftliche Treppe empor, auf beiden Seiten von hoch aufragenden ionischen Säulen begrenzt. Ein Glasdach erstreckt sich über das gesamte Gebäude und erhellt die Ausstellungshalle.

Wenig später entkommen wir in kurzen Abständen gleich drei Anschlägen vor uns fahrender Verkehrsteilnehmer. Einem Lkw springt ungefähr zwanzig Meter vor uns ein kapitaler Steinbrocken von der Ladefläche und hüpft über das Straßenpflaster, ohne im relativ dichten Verkehr Schaden anzurichten. Ab sofort halten wir einen größeren Sicherheitsabstand zu beladenen Lastwagen ein. Da fliegt auch schon ein längliches Eisenteil, das sich unterhalb der Karosserie eines Busses gelöst hat, auf uns zu. Auch das geht glimpflich ab. Kurz darauf schleudert uns ein Lkw einen kleineren Stein entgegen, der von unten gegen unser Auto kracht. Wir haben gehört, dass sich wegen der Schlaglöcher und der überhöhten Geschwindigkeit öfter, als man annimmt, Ladungsteile, auch ganze Ladungen verselbständigen und über die niedrigen Ladekanten auf die Straße plumpsen. Vor den unverwüstlichen russischen Lastwagen, die zum Teil schon Jahrzehnte auf dem Buckel haben, ist Respekt geboten. Die Reifen haben einen Durchmesser, den man sonst nur von größeren Landmaschinen kennt. Die mächtigen Stoßstangen, massive Querbalken aus Eisen oder Holz, sind so hoch angebracht, dass ein Pkw bei einem leichten Auffahrunfall mit seiner Schnauze unter das Monster gerät. Wir wollen nicht darüber nachdenken, was bei einem schwereren Unfall alles passieren könnte.

Wassilij berichtet während dieser Slalomfahrt relativ ungerührt über ein geplantes Joint-Venture. Eine alternative Hotelkette soll ins Leben gerufen werden, und zwar unter Vermittlung einer seiner Freundinnen, die erstklassige Beziehungen nach ganz oben habe.

Nach dem offiziellen Teil des Russisch-Unterrichts unterhalten Irina und ich uns immer noch eine Weile über Alltägliches und Aktuelles. Besonders aktuell ist ein Fall, der fast das ganze Land aufwühlt. Eine Frau habe im russischen Fernsehen berichtet, wie ein Raumschiff neben ihr herabgeschwebt sei, als sie gerade einen Spaziergang unternommen habe. Außerirdische Wesen, den Menschen nicht unähnlich, aber deutlich größer, hätten sie mit roboterähnlichen Stimmen, die aus dem Bauch herauszutönen schienen, aufgefordert, in ihr Gefährt einzusteigen. In kürzester Zeit hätte sich das Raumschiff geräuschlos sehr weit von der Erde entfernt, worauf die Frau die Außerirdischen gebeten habe, sie zurück zu ihrer Familie zu bringen. Das Angebot, sie auf dem Balkon ihres Hauses aussteigen zu lassen, habe die Frau abgelehnt, da sich ihre Familie zu sehr erschrecken könnte. So sei sie an der gleichen Stelle abgesetzt worden, wo sie eingestiegen war. Die Außerirdischen hätten sie zu einem weiteren Flug eingeladen. Während des gesamten Vorgangs habe sie kein Gefühl von Angst verspürt, sondern sich eher wie in einem Trancezustand gefühlt. Am nächsten Tag habe sie sich von einem Psychiater auf ihren Geisteszustand hin untersuchen lassen, mit dem Befund, sie sei völlig gesund.

Ich höre Irina zu und verkneife mir kritische Nachfragen, weil ich sehe, wie sehr diese Science-Fiction-Story sie bewegt. Sie hält sie für glaubwürdig. Sie rät mir dringend, die nächsten Folgen im Fernsehen anzuschauen, in denen Menschen über ähnliche Erlebnisse berichten würden. Sie sagt, Gerüchte über Erlebnisse mit Außerirdischen habe es schon immer gegeben; sie seien den staatlichen Medien aber keine Meldung wert gewesen. Das kann ich gut nachvollziehen.

Bedauerlicherweise ist unser Fernseher immer noch nicht angeschlossen.

Als wir mit dem Auto Richtung Stockmann fahren, bemerken wir an diesem diesigen, grauen Tag glitzernde Gegenstände, die sich zu bewegen scheinen. Als wir näher kommen, entpuppen sich diese als silberfarbene Benzinkanister. Immer mehr glückliche Männer mit Kanistern quellen aus dem Ausgang, manche schleppen bis zu vier Stück ab. Dachlatten sind bei Stockmann offenbar heute nicht im Angebot. Am nächsten Morgen dann das Gerücht: Stockmann gibt auf.

Wenige Stunden später wird Michail Gorbatschow auf einem Sonderkongress der Volksdeputierten zum Staatspräsidenten gewählt. Am Abend desselben Tages sitzen wir mit einigen DDR-Kolleginnen und -Kollegen zum zweiten Mal in unserer Schule zusammen. Wir reden über die unterschiedlichen Lehr- und Lernmethoden, über die Lehrbücher und die mögliche Zusammenlegung beider Schulen. Auf einmal ist es 2 Uhr. Es gibt einfach zu vieles aufzuarbeiten.

Vor gut einer Woche traf eine kleine Ladung Möbel ein, als Beipack, wie einer der Spediteure sagte. Aber keine Sorge, schon bald werde der Rest geliefert. Heute ist es so weit. Unangemeldet stehen die Jungs plötzlich vor der Tür. Es ist eine andere Crew als sonst. Mein Schreibtisch passt übrigens auch diesmal nicht durch die engen Türen zum Treppenaufgang. Auch in den Lift will er partout nicht passen; wie immer man ihn auch dreht und wendet. Man könnte natürlich die Beine absägen, dann würde er in den Fahrstuhl hineinpassen. Von der Idee mit dem Flaschenzug kann ich sie gerade noch abhalten. Selbst als ich ihnen sage, dass der Schreibtisch schon zum zweiten Mal die weite Reise nach Moskau bis vor die Haustür der Wawilowa 83 geschafft hat, suchen sie weiter krampfhaft nach einer Lösung, auch um ihren Kollegen beweisen zu wollen, dass sie es besser können. Sie finden keine. Und das wurmt sie. Dieses Team erweist sich obendrein als Spaßbremse. Sie falten die geleerten Kartons ordentlich zusammen; das ganze Einwickelpapier verstauen sie in zwei größeren Kisten und tragen alles zum Lift, anstatt den ganzen Krempel auf den Hinterhof zu werfen, um ihn zu verbrennen.

Am nächsten Morgen riecht es nach Verbranntem. Rauchwolken und Rußpartikel steigen bis zu uns in den sechsten Stock auf und ziehen an den Fenstern vorbei. Wir stürzen auf einen unserer vier Balkons. Von einem Balkon unter uns fliegt Verpackungsmaterial in den Hof. Unten sammelt jemand das Ganze auf und schmeißt es in den Feuercontainer. Wir sind empört über eine derartige Umweltverpestung! Natürlich sind das Mitarbeiter einer unbekannten ausländischen Spedition, die von vernünftigem Recycling noch nie etwas gehört haben. Sie sollten sich unsere Interdean-Leute zum Vorbild nehmen!

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