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Radwechsel

1. Dezember –16. Dezember 1989

Es ist noch kälter geworden, sogar über 20 Grad minus zeigt unser Thermometer auf dem Balkon an. Es schneit kräftig. Schneefräsen unterschiedlicher Größe und die Räumkommandos sind unermüdlich im Einsatz. Immer wieder nett anzusehen, wie von den Fußwegen die Schneemassen energisch auf die rechte Fahrspurseite geschoben werden und nach dem nächsten Schneeschiebereinsatz durch das Straßenräumkommando wieder auf den Gehwegen landen. Effektives Arbeiten sieht anders aus.

Bei dieser Kälte steigt die Zahl der Schapka-Räuber sprunghaft an, die auf offener Straße Passanten die Pelzmützen vom Kopf reißen und anschließend das Weite suchen. Eine entsprechende Warnung ist in der Moskauer Presse unter der Rubrik „Winterdelikte“ zu entnehmen. Kürzlich konnte man lesen, dass laut Statistik der „typische Räuber im gegenwärtigen Moskau seine Räubereien am Tage erledigt“. Demnach sei er um die 30 Jahre alt, gebe sich „als Briefträger, Arzt oder Mitarbeiter der Miliz aus, ist bewaffnet, hat es auf Geld und Wertsachen abgesehen“ und, jetzt kommt das Beruhigende, „wird von der Polizei vermutlich gefasst“.

Handtaschenschlitzer sind auch immer häufiger unterwegs. Sie verwenden offenbar Rasierklingen, um die Taschen auszuräumen.

Die Kriminalität soll im Vergleich zum Vorjahr in den ersten neun Monaten dieses Jahres in Moskau um 48 Prozent gestiegen sein, Erpressungsdelikte sogar um das Neunfache. Um diesem ungünstigen Trend schnell und wirksam Einhalt bieten zu können, ist die Moskauer Bevölkerung zu Spenden aufgerufen worden - Kontonummer 1 400 58 bei der Shilzosbank - „für die Verbesserung der technischen Ausrüstung der Miliz bei der Bekämpfung von Verbrechen“.

An einer grünen Ampel blockiert ein grüner Lada den Verkehr. Der Fahrer steigt aus, mit einer Zigarette in der Hand, und klopft an die Scheibe des hinter ihm haltenden Fahrzeugs. Das Seitenfenster öffnet sich, ein Arm reckt sich aus dem Wageninneren dem Hilfesuchenden entgegen. Der steckt seine Zigarette zwischen die Lippen, senkt seinen Oberkörper ab und lässt sich Feuer geben. Sein Arm hebt sich zum Dank. Dann schlendert er, gierig den Rauch inhalierend, zu seinem Lada zurück, steigt ein und fährt weiter. Bei Rot. Am Straßenrand steht ein GAI. Er streckt waagerecht seinen Arm in Richtung des vorbeifließenden Verkehrs aus und macht dabei aus dem Handgelenk die typische Geste, die signalisiert, dass man gern mitgenommen werden möchte. Er hat Feierabend. Da hat der Lada-Fahrer richtig Glück gehabt, dass sein Führerschein nicht in die gefürchtete Lochzange geraten ist.

Ingmars Auftritt im Moskauer Fernsehen ist uns leider entgangen. Man konnte ihn kurz während der Begegnung mit den Wunderkindern sehen. Wir hoffen, dass unser Fernsehapparat spätestens zum Beginn der Fußballweltmeisterschaft im Sommer einsatzbereit ist.

Auf dem Messegelände treffe ich einen Deutschen, der sich gerade in der Stadt aufhält, um einen Stand für seine Firma mit aufzubauen. Er hatte mich vorher angerufen und diesen Treffpunkt mit mir vereinbart. Am Telefon bezeichnete er sich scherzhaft als Lübecker Kurier. Er wolle mir persönlich etwas aus Deutschland aushändigen. Zuerst überhäuft er mich mit Werbegeschenken seiner Firma. Dann zaubert er eine Plastiktüte hervor – mit Lübecker Marzipan! Mit Weihnachtsgrüßen aus Bad Oldesloe von meiner Schule. Eine äußerst gelungene Überraschung ist das! Sofort erinnere ich mich an den Moment, als ich nach der Moskau-Zusage meinem Schulleiter Herrn Kühl auf dem Weg zu seinem Dienstzimmer auf dem Flur begegnete, um ihm diese Nachricht mitzuteilen. „Moskau klappt“, sagte ich zu ihm. Er nahm mich in den Arm und entgegnete: „Ich freue mich für Sie.“ So eine nette, spontane Geste vergisst man nicht.

Die Vorweihnachtszeit ist gespickt mit Einladungen. Eine Einladung von Familie von Arnim zum Adventstee ins Deutsche Haus nehmen wir gerne an. Natürlich wird nicht nur Tee gereicht. An unserem schwarzen Brett auf der Diele prangt noch eine Einladungskarte in gediegen verschnörkelter Schrift an Herrn Werner Stolle und Frau Gemahlin: Der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland und Frau Blech geben sich die Ehre; und teils in Handschrift geht es weiter: uns am 19. Dezember 1989 zum Weihnachtsempfang in die Botschaft einzuladen. Der neue Botschafter Klaus Blech hatte das Amt im Oktober von Andreas Meyer-Landrut übernommen. Wir sagen schweren Herzens ab, weil wir zu dem Zeitpunkt schon in Deutschland sein werden.

Von Eva Rühmkorf, der Ministerin für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Schleswig-Holstein (das füllt schon den halben Briefkopf) kommt ein Weihnachtsgruß an alle schleswig-holsteinischen Auslandslehrkräfte. Was sie auf zwei Seiten über die Schulpolitik in unserem Bundesland schreibt, kommt mir weit entfernt, ja, fremd vor.

Bevor wir am letzten Schultag zu unserer kleinen Weihnachtsfeier in die deutsche Schule fahren, suchen wir kurz das Aeroflot-Reisebüro auf. In völliger Panik, die Flugpreise würden sich tatsächlich so verteuern, wie angedroht, waren wir einige Tage zuvor schon einmal dort, um nachzufragen, ob unsere Umbuchung der Damaskus-Flüge nach Kairo im kommenden Sommer geklappt habe. Die Tickets waren ja bereits bezahlt. Wie sieht es denn nun mit unserem Damaskus-Flug aus? Aus organisatorischen Gründen, die wir im Einzelnen gar nicht erforschen wollen, weil die wirklichen Gründe immer im Dunkeln bleiben, könnten wir diesen Flug vergessen. Um unsere schwarz getauschten Rubel im Umlauf zu halten, kam uns die Idee, auf Kairo umzubuchen. Das klappte problemlos.

Im Reisebüro gibt es neuerdings einen Diplomatenschalter, damit die Wartezeiten sich verkürzen. Vor uns steht ein Diplomat, der gerade seine Rechnung für zwei Flüge rübergeschoben bekommt. Jetzt muss er nur noch zahlen, dann sind wir dran. Auf dem Tresen entleert er eine Plastiktüte mit 5-Rubel-Scheinen, einige davon segeln auf die Erde. Jetzt wird eifrig gezählt. Gute Dienste dabei leistet der Abakus, der neben der Kasse zur Hand ist. Ohne dieses Hilfsmittel gibt niemand in der UdSSR voreilig Zahlen in eine Registrierkasse ein. Der Diplomat vor uns macht einen entspannten Eindruck. Er ist es, der bedient wird. Hoffentlich dreht er sich jetzt nicht noch mit einem triumphalen Blick zu uns um. Der Zählvorgang dauert zwanzig Minuten. Schön, dass ab demnächst dank des Diplomaten endlich wieder 5-Rubel-Scheine in Umlauf kommen!

Die Antwort auf unsere Frage heute nach dem Kairo-Flug lautet: Klappt nicht. Da man in der Sowjetunion niemals die Gegenfrage warum oder warum nicht stellen sollte, weil die darauf folgende Antwort immer die gleiche ist, nämlich weil es so ist, nehmen wir das wortlos zur Kenntnis. Ein weiterer Tiefschlag nach dieser Rubelzählaktion. Ob man denn die von Damaskus nach Kairo umgebuchten Tickets für Lissabon umbuchen könne? Kein Problem! Es ist ein Spiel, bei dem Aeroflot am längeren Hebel sitzt. Sollten wir am Ende etwa in Batumi landen?

Noch ein Wort zur Zahlweise. Gezahlt wird grundsätzlich in bar. Ausländische Kreditkarten akzeptiert niemand im Lande, außer im Hotel Meschdunarodnaja, kurz Mesch, gegenüber vom Hotel Ukraina, auf der anderen Seite der Moskwa. Dort steht im Foyer ein Geldautomat, der Devisen ausspuckt. Aber nur dann, wenn man eine American Express Card hineinschiebt. Das kann man sich leicht merken. Ein Land, ein Hotel, eine Kreditkarte. Geldtransfers aus dem Ausland auf eine russische Bank sind theoretisch möglich. Vielleicht wickeln Firmen so ihre Geschäfte ab. Die Botschaft rät ihrem Personal von solchen Risiken ab. Abenteuerlich ist es auch, ein eigenes Konto bei der sowjetischen Außenhandelsbank einzurichten.

„Vom eigenen Konto Geld abzuheben, dauert selbst dann zwanzig Minuten, wenn man im Schalterraum der einzige Kunde sein sollte. Den Banken steht, wie vielen anderen Einrichtungen des Wirtschaftslebens, der Einzug in das Elektronikzeitalter noch bevor. Wer die Verhältnisse kennt, bringt Lektüre mit“, rät die Bundesstelle für Außenhandelsinformation launig. Die Zahlungsmittel, die wir in Moskau zur Verfügung haben, sind, noch einmal zusammengefasst, außer Marlboro, Rubel, die wir nicht in einer russischen Bank eintauschen, US-Dollars und D-Mark, die wir in größeren Mengen in kleinen Scheinen von Deutschland aus mitgenommen und zu Hause an verschiedenen Stellen geschickt versteckt haben, die American-Express-Card für Joint-Venture-Läden wie Stockmann, und Coupons, die wir in der Botschaft kaufen können. Mit der einen Sorte Coupons kauft man im Berioska ein, die andere Sorte benötigt man für das Tanken. Das klingt umständlich und etwas aufwändig. Ist es auch.

Die Weihnachtsfeier im Lehrerzimmer ist sehr gemütlich. Es ist ein ganz besonderer Abend, denn wir haben Gäste. Eine kleine Gruppe von Lehrerinnen und Lehrern der DDR-Schule ist gekommen. Sie haben von ganz oben die Erlaubnis erhalten, unsere Einladung anzunehmen. Das ist die erste Begegnung zwischen beiden Schulen seit ihren Gründungen vor über 30 Jahren. Ein historischer Augenblick für uns alle. Man stellt sich gegenseitig vor, tastet sich behutsam aneinander heran, redet viel über die Maueröffnung und spekuliert über die Zukunft unserer beiden Staaten. Wir wollen unbedingt weiter in Kontakt bleiben. Das Beste ist: Eine Klasse darf demnächst die DDR-Schule besuchen.

Nach diesem vielversprechenden Abend verlassen wir um 22 Uhr gut gelaunt und zufrieden das Schulgebäude und fegen unseren Passat vom Schnee frei. Allmählich kommt Ferienstimmung auf. Wir freuen uns auf das Wiedersehen mit Freunden und Verwandten in Deutschland.

Weil kein GAI zu sehen ist, wende ich quer über die Ringstraße. Nach ungefähr 200 Metern reißt uns ein merkwürdiges Rumpeln aus unseren Gedanken. Der Wagen kommt ins Schlingern und wird langsamer. Reifenpanne. Direkt in der Unterführung unweit unserer Schule. Einen Reifenwechsel im Tunnel muss man aus Sicherheitsgründen vermeiden. Ich hatte schon beim Wenden und Einfädeln in die Gegenfahrbahn ein ungutes Gefühl, als ich über einen harten Gegenstand, der unter der Schneedecke verborgen war, rutschte. Das ist nun die Strafe für mein illegales Kringeln. Ich rolle aus der Unterführung und halte am Straßenrand. Ein Radwechsel macht nie Spaß, erst recht nicht im Dunkeln bei Schnee und eisiger Kälte. Jeder kann sich vorstellen, was das unter solchen Bedingungen für ein Gewürge mit dem Wagenheber ist. Heidi sitzt im Wagen und feuert mich an. Das motiviert. Nach dem groben Lösen der Radmuttern ziehe ich die Handschuhe aus und gehe in die Hocke, um die Feinarbeit zügiger hinter mich zu bringen. Da, plötzlich, sehe ich aus dem Augenwinkel rotierende Blinklichter. Sie sind da, bevor ich in Deckung springen kann. Geistesgegenwärtig ziehe ich meinen Kopf ein und kauere mich an den Kotflügel. Dann erwischt mich aus nächster Nähe eine volle Breitseite. Es klingt, als würde das Fahrzeug perforiert. Ich bin Opfer des städtischen Streudienstes geworden. Gnadenlos verrichten sie ihr Werk. In Kolonne, in diagonaler Formation, rasen sie heran und schleudern ihr Salz-Kies-Gemisch auf die Straße. Jetzt sind in der Ferne nur noch ihre Rücklichter zu sehen. Das war die zweite Strafe für mein Kringelvergehen.

Ich setze den neuen Reifen auf. Beim Aufschrauben der Muttern knirscht es in den Gewinden. Mit steifgefrorenen Fingern, in völlig verdreckten Klamotten setze ich mich ans Steuer. Auf der Rückfahrt nach Hause durch das Schneegestöber denke ich daran, dass es Zeit wird, dass Interdean uns endlich die Ersatzreifen anliefert. Die Reste des Salz-Kies-Gemischs bürste ich mir am Abend über der Badewanne aus den Haaren.

Anschließend packen wir die Koffer.

Am nächsten Tag bringt uns Igor, einer unserer Schulbusfahrer, in gemäßigtem Tempo nach Scheremetjewo. Wir haben ihn zu diesem Shuttle-Service ohne große Schwierigkeiten gewinnen können. Der Preis wurde vorher festgelegt.

Wir zeigen unsere umgerubelten Tickets vor, erhalten die Bordkarten und nehmen wenig später unsere Plätze in der neu geschaffenen Lufthansa-Business-Class ein. Gleich kommt der Wein, den wir zum Menü bestellt haben. Unser Leben hat sich rasant geändert.

Ab morgen sind wir es, die in Deutschland unglaubliche Geschichten aus dem fernen Moskau zum Besten geben werden.

Remont

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