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ОглавлениеVerlorene Ladung und lichtschluckender Teer
23. Oktober – 29. Oktober 1989
Wir besuchen heute zum ersten Mal den russischen Staatszirkus, der in Moskau extrem beliebt ist und dessen Aufführungen immer ausverkauft sind. Dazu muss man ergänzen, dass die Menschen in der UdSSR von ihrer Grundeinstellung her geradezu kulturversessen sind. Das neue Zirkusgebäude liegt am Vernadskowo Prospekt, nur wenige Autominuten von uns entfernt. Es gibt noch ein weiteres Gebäude, den alten Zirkus im Zentrum der Stadt, am Swetnoj Boulevard. Ob es uns vergönnt ist, dort eines Tages auch einer Aufführung beizuwohnen, hängt davon ab, ob der seit langem andauernde Remont noch vor unserer endgültigen Abreise aus Moskau abgeschlossen werden kann. Wir geben die Hoffnung nicht auf.
Gleich von Beginn an lassen wir uns von den Darbietungen und der Begeisterung des Publikums mitreißen. Was wir erleben, ist eine bis ins Detail ausgeklügelte, absolut perfekt organisierte Show auf höchstem künstlerischen Niveau, die den nicht enden wollenden Applaus nach über zwei Stunden Programm wirklich verdient hat.
Es ist schon dunkel, als wir uns auf den Rückweg nach Hause machen. Geschickt umfahre ich einige Lkw-Reifen mit Felgen, die über die Straße verstreut liegen. Eigentlich müsste man es bemerken, wenn einem ein Teil der Ladung während der Fahrt plötzlich abhandenkommt.
Eine Autofahrt in der Dunkelheit stellt auf sowjetischen Straßen immer ein besonderes Wagnis dar. Sowohl die Straßenbeleuchtungsdichte als auch deren Zustand nimmt von größeren zu kleineren Straßen und von größeren zu kleineren Städten deutlich ab. Auf dem Lande sieht es besonders düster aus. Gefahren wird mit Standlicht. Hat man versehentlich das Abblendlicht eingeschaltet, weisen freundliche Autofahrer den Blender permanent per Lichthupe auf seinen Fehler hin. Man ist dieses grelle Leuchten nicht gewohnt; angeblich beeinträchtige das Abblendlicht sogar das Fahrverhalten und die Sicherheit der einheimischen Fahrer. Viele von ihnen verzichten gleich ganz auf das Einschalten der Beleuchtung. Wenn vor einem wie aus dem Nichts dunkle Hindernisse auf den Straßen auftauchen, zum Beispiel wahllos abgestellte Fahrzeuge, von Lastwagen herabgefallene Ladung, frei gespülte Straßenbahnschienen, undefinierbare Löcher im Straßenbelag oder die berüchtigten hohen Bordsteine, die nur von Geländewagen und Kettenfahrzeugen überwunden werden können, dann liege das, so sagen unsere Experten von Hochtief, vor allem am Straßenbelag. Dieser schlucke nämlich Licht. Aus diesem Grunde habe man bei normaler Witterung des Nachts bei eingeschaltetem Standlicht nur eine Sichtweite von höchstens zwanzig Metern. Der Teerdecke in Deutschland und anderswo würden nämlich phosphoreszierende Teile beigemischt, was die Sichtweite deutlich erhöhe.
In Moskau sind 1989 etwa 600 000 Privatwagen registriert. Das bedeutet, bei gegenwärtig neun Millionen Einwohnern besitzt jeder Fünfzehnte ein Auto. Wenn man die Autodichte Deutschlands auf Moskau überträgt, müssten hier grob gerechnet, 4,5 Millionen Pkw unterwegs sein. Wegen dieser geringen Verkehrsdichte gibt es so gut wie nie Staus, und erst recht keine Parkprobleme. Ein öffentliches Parkhaus haben wir bis heute nicht gesehen, außer am Flughafen Scheremetjewo. Nachts sollte man sein Fahrzeug sicherheitshalber auf bewachten Parkplätzen abstellen. Man sieht in der Stadt immer wieder Autos herumstehen, denen über Nacht ihre Reifen abhandengekommen sind. Unser Hausparkplatz befindet sich zwar außerhalb der Umzäunung, aber unser Milimann wirft Tag und Nacht ein Auge auf das Gelände.
Jetzt haben wir es schriftlich: Wir bleiben in der Wawilowa wohnen. Der Bezug der Packbier-Wohnung zieht sich wohl noch etwas hin, weil sich dessen Umzug in seine neue Dienstwohnung in den Wohnbereich auf dem Gelände der neuen Botschaft noch etwas hinzieht. Bevor dann der Durchbruch erfolgt und die Wohnung nebenan renoviert wird, gehen wohl noch einige Monate ins Land. Wir sind glücklich, dass wir diese schöne, helle Wohnung behalten und feiern dieses Ereignis mit einem leckeren Abendessen.
Ganz anders sieht es mit dem Mietvertrag der Schule in der Tschaikowskowo aus. Dieser läuft Ende 1990 aus. Seit über fünf Jahren bereits suchen die Behörden nach einer Alternative. Bisher ohne Erfolg. Deswegen gehen Schulleitung und Schulverein davon aus, dass der bestehende Vertrag trotz der endgültigen Kündigung verlängert wird. Die Chancen stehen gut; es wäre nicht die erste endgültige Kündigung, die verlängert werden würde.