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ОглавлениеAn der Grenze
17. Dezember 1989 – 7. Januar 1990
Die ersten Tage wohnen wir bei Heidis Eltern in Schilksee. Heute feiern wir Ingmars Geburtstag. Später ziehen wir um, zu Jörg und Frauke nach Bad Segeberg. Bei ihnen feiert Annika ihre kleine Geburtstagsparty.
Der Straßenverkehr läuft manierlich und gesittet ab, es gibt keine Hindernisse auf den Straßen und keine fehlenden Gullydeckel. Bei dem milden Schmuddelwetter ist auch nicht mit überfallartigen Straßenräum- oder -streuaktionen zu rechnen. Das Wasser, das aus den Leitungen fließt, kann man ungefiltert trinken. Beim Betreten eines Einkaufstempels kommen wir uns vor wie im Schlaraffenland. Allerdings finden wir in keinem Supermarkt Ballongläser mit eingelegten grünen Tomaten. Wir vermissen auch geschmacksintensives Obst und Gemüse, so wie wir es von unserem Kolchosmarkt gewohnt sind. Marlboro sind hier ganz gewöhnliche Zigaretten, die geraucht statt zum Tauschen verwendet werden.
Nur mit der Stromspannung hapert es hier und da. Als Frauke das Fernsehgerät einschaltet, damit wir uns auf den neuesten Stand über die brenzlige Situation in Rumänien bringen können, kommt es zu Bildverzerrungen und kurzzeitigen Bildausfällen. Man hört in Abständen merkwürdige Knistergeräusche, die sich nicht lokalisieren lassen. Dann riecht es eigenartig. Die Gastgeber zeigen sich zunehmend beunruhigt. Aha, eine Verteilerdose schmurgelt vor sich hin. Damit das Haus nicht in Flammen aufgeht, ergreift Jörg die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen. Ich wünsche mir in diesen aufregenden Minuten Sergej her, der mit viel Fingerspitzengefühl erst einmal sämtliche Leitungen prüfen würde, um der Ursache dieses Beinahe-Schwelbrandes auf den Grund zu gehen. Als bestens ausgerüsteter Heimwerker taucht Jörg nun mit einer Kabeltrommel im Wohnzimmer auf und verbindet sie mit dem Fernseher. Anschließend wickelt er eine etwa zwanzig Meter lange Kabelschlange von der Trommel ab. Das Kabelgewirr wird in Gemeinschaftsarbeit in einen hinteren Winkel des Hauses verbracht, um dort Strom zu zapfen. Auf dem Rückweg beginnt die Feinarbeit. Stolperfallen müssen beseitigt werden, damit am Ende nicht noch der Weihnachtsbaum zu Fall kommt.
Die Nachrichtensendung ist inzwischen vorbei. Der gewaltsame Umsturz in Rumänien forderte viele Opfer, Staatspräsident Ceauşescu und seine Frau wurden hingerichtet. Das lesen wir aber erst am nächsten Morgen in der Zeitung.
Am Abend steigen wir die steile Behelfstreppe zum Dachboden hoch und mühen uns durch die Luke, um in unsere Betten zu steigen. Kakerlaken sind in Deutschland wohl schon seit Langem ausgestorben, sinniere ich so vor mich hin, als plötzlich in affenartiger Geschwindigkeit eine Maus über Heidis Bettdecke huscht.
Im neuen Jahr machen Frauke, Jörg und ich an einem wolkenverhangenen Tag mit viel Sprühregen einen Ausflug in die DDR. Seit dem vergangenen Heiligabend ist es offiziell: Bundesbürger können ohne Visum und ohne Zwangsumtausch einreisen. An einer Tankstelle noch vor der Grenze nach Mecklenburg-Vorpommern ist nachträglich unter der Benzinpreistafel ein Schild anmontiert worden: Hier Gemisch für DDR-Fahrzeuge. Wenige Meter entfernt sehen wir einen Video-Verleih: Boy’s Videothek, davor einen Aufsteller: Video-Verleih auch an DDR-Bürger. Am Grenzübergang müssen wir nur noch unsere Pässe vorzeigen. Keine Wartezeiten, keinerlei Schikane, geschäftsmäßige Freundlichkeit bei den DDR-Grenzern statt der gewohnten herablassenden, oft abweisenden Haltung gegenüber den ungeliebten Wessis. Wir fahren erst kurz nach Wismar, dann nach Schwerin. Unterwegs fallen uns immer wieder handgemalte Plakate ins Auge: Herzlich Willkommen in der DDR und Hallo Bundis.
Als wir in Schwerin aussteigen, schlägt uns sofort der Gestank des Gemischs für DDR-Fahrzeuge auf die Bronchien. In Moskau hat es wegen der enormen Abgasbelastung Wochen gedauert, bis wir keinen kratzigen Hals mehr hatten und den Geruch nicht mehr bewusst wahrnahmen. Dass der Zustand der Bausubstanz in den alten Stadtkernen nicht der beste ist und auch die Plattenbauten des Sozialismus kritisch zu betrachten sind, ist grundsätzlich nichts Neues. Von Großstädten wie Moskau und Leningrad oder Vorzeigedörfern wie Peredelkino und Ilinskoje abgesehen, wirken Ortschaften, Trabantenstädte und Industrieanlagen in Russland noch sanierungsbedürftiger. Wir stehen vor einer Stadtvilla aus der Gründerzeit mit einer hohen Eichentür. Über dem Eingang steht in Leuchtschrift: Haus der deutsch-sowjetischen Freundschaft; darüber prangen in stilisierter Form, miteinander verwoben und ebenso hell erleuchtet, die Flaggen der UdSSR und der DDR. Der Kreisausschuss der Nationalen Front der DDR hat hier in diesem Gebäude auch sein Büro. Wer weiß, wie lange es die noch gibt! Honecker und Krenz sind inzwischen aus der Partei ausgeschlossen worden, die SED steht praktisch vor ihrer Auflösung; umbenannt worden ist sie ja bereits.
In den Tagesthemen, moderiert von Hanns Joachim Friedrichs, dessen Bruder ja bekanntlich Arzt ist, erfahren wir, dass sich die Unruhen im Baltikum und der Bürgerkrieg zwischen Armenien und Aserbaidschan ausweiten.
Nach drei intensiven Wochen mit mehreren Geburtstagen, Feiertagen, und schönen Begegnungen mit unseren Freunden freuen wir uns auf Moskau.