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Die Demonstration

17. Februar – 25. Februar 1990

Seit drei Tagen hat ein heftiger Schneesturm die Stadt im Griff. Die Räumkolonnen sind im Dauereinsatz. Sie schütten die parkenden Fahrzeuge jeden Tag aufs Neue fast bis zur Dachkante zu, so dass viele in diesen Tagen ganz auf ihr Auto verzichten oder selbst mit anpacken müssen, um ihre Wagen fahrbereit zu bekommen. Sergejs Waschmannschaft schaufelt jeden Morgen immerhin Schneisen zu den Fahrertüren. Das Waschen fällt flach. Wir steigen auf den Schulbus um; das ist bequemer.

Nachdem sich über Nacht auf dem Boden vor der Balkontür im Wohnzimmer eine etwa zehn Zentimeter hohe Schneewehe aufgetürmt hat und sich durch den Sturm sogar ein deutlicher Temperatursturz bemerkbar macht, dichten wir mit breitem Klebeband die Fenster ab; eine Maßnahme, die die Einheimischen schon ab Mitte Oktober in weiser Voraussicht getroffen hatten.

Am Nachmittag holen wir Wassilij ab. Er lotst uns Richtung Zentrum. Er will seine Deutschkenntnisse im Gespräch mit uns auffrischen und ergänzen. Als wir an einer Ampel halten, zeigt er auf sie und fragt mit dieser Betonung: „Lampenanláge?“ Nahe der Moskwa wohnen seine Freunde Wolodja und Lena in einem ehemaligen KGB-Beamtenwohnheim. Die beiden sind verheiratet und geben Französischkurse an der Universität und in einer Kooperative. Ihre Tochter Mascha ist bei der Babuschka. Wir drei sind nicht die einzigen Gäste. Waldemar ist mit seiner Frau, seiner zweiten, wie er hervorhebt, spontan dazu gestoßen. Er stellt sich auf Deutsch vor: „Ich bin Wolgadeutscher.“ Jetzt wird erst einmal gegessen und getrunken; Mineralwasser, Schampanskoje und Wodka stehen auf dem Tisch. Vor dem ersten Bissen, das ist Landessitte, erhebt der Gastgeber sein gefülltes Glas Wodka und begrüßt uns Gäste mit einem kurzen Trinkspruch. Nach diesem appetitanregenden Schlückchen machen sich alle über die zahlreichen Vorspeisen her. Wer Durst hat, kann problemlos zwischendurch selbstständig Mineralwasser trinken. Wer jedoch sein Wodkaglas berührt, muss sich einen Trinkspruch ausdenken, dann das Glas erheben, den Spruch in die Runde geben und ihn dann sozusagen mit einem mehr oder weniger kräftigen Schluck absegnen. Mit den Trinksprüchen versichert man sich der gegenseitigen Freundschaft, wünscht zu Beginn des Gelages den Anwesenden Gesundheit, Erfolg und dergleichen. Im weiteren Verlauf der Feier preist man den gesellschaftlichen und politischen Fortschritt, stößt auf die hoffentlich segensreiche Zukunft der Kinder an, bis es irgendwann philosophisch wird und schließlich das friedliche Zusammenleben der Völker herbeigetrunken wird. Das alles verbirgt sich hinter dem Wort, das jeden Trinkspruch abrundet: Nastarowje.

Nach den Vorspeisen wird gemeinsam geraucht. Das geschieht stets entweder in der Küche, auf dem Balkon oder im Treppenhaus. Waldemar erzählt mir im Hausflur, dass die Bundesregierung einen 7-Milliarden-Dollar-Kredit für Russlanddeutsche bereitstellen wolle. Die Russlanddeutschen sollten ein Gebiet im Raum Königsberg oder an der Wolga zugewiesen bekommen und sich dort autonom verwalten. Das ist mir neu. Und kommt mir spanisch vor. Er wisse das, da er Direktor einer Vereinigung von Wolgadeutschen sei. Jetzt, in dieser neuen Zeit, sei ja bald vieles machbar. Er spiele mit dem Gedanken, ein Joint-Venture zu gründen mit der Geschäftsidee, Gebrauchtwagen in großem Stil aus dem Westen in die Sowjetunion einzuführen, sie hier schön aufzubereiten – was immer er damit auch meint – und sie dann an die Einheimischen gegen Valuta zu verkaufen. Noch begeisterter trägt er ein anderes Projekt vor. Er wolle „japanische Graspflanzen, die stechen und brennen“, anbauen und zu Tabak verarbeiten lassen. In Japan sollen diese Pflanzen angeblich ein Leckerbissen für Vegetarier sein. Seine zweite Frau sagt dazu nichts. Waldemar ist wirklich ein netter Typ, aber mit seinen unausgegorenen Gedanken kann ich wenig anfangen.

Zum Hauptgang gibt es Hähnchen mit grünen Bohnen, danach zum Tee Cremekuchen mit Marmelade. Die Kommunikation verläuft auf Deutsch, Russisch und Französisch. Lena und Wolodja sehen nicht ganz so optimistisch in die Zukunft wie ihr Freund Waldemar. Wegen der zunehmenden Unruhen in einigen Republiken sind sie in Sorge um Gorbatschows Reformprogramm. Die jüngsten schlechten Nachrichten kommen aus Usbekistan und Tadschikistan, wo Panzer gegen die Aufständischen in Stellung gebracht worden sind. Sie hoffen, dass die Lage nicht so ausufert wie jüngst in Rumänien oder gar wie auf dem Tiananmen-Platz in China. Sie freuen sich darüber, dass Demonstrationen neuerdings im Lande geduldet sind. Leider erhielten Altstalinisten und Pamjat-Anhänger, eine offen antisemitisch und rechtsradikal eingestellte Gruppierung, ihrer Meinung nach immer mehr Zulauf und würden immer aggressiver auf friedliche Demonstranten losgehen, die für schnellere Demokratisierung auf die Straße gingen. Wir können das gut nachvollziehen, weil auch wir festgestellt haben, dass sich in den letzten Wochen immer mehr Menschen unterschiedlichster Gesinnung auf den Weg zu Kundgebungen oder Demonstrationen machen, übrigens auch heute Nachmittag, als wir durch die Stadt fuhren. Nicht ohne Grund erhalten wir immer mal wieder eine Demo-Warnung von der Botschaft. Während ihres Studiums haben unsere Gastgeber mehr als einmal erlebt, wie Menschen mit einer regierungskritischen Einstellung von Spitzeln denunziert wurden. Ihr Französisch-Professor sei sogar später wegen seiner Haltung zwangsausgebürgert worden.

Als wir nach Hause fahren, verabschiedet sich Wassilij mit den Worten: „Ich habe Kopfschmerzen. Ich glaube, dass kommt von den magnetischen Strahlen“.

Wir denken, die Ursache könnte auch anderswo liegen.

Eine Klassenreise lässt sich kaum ohne ein Netzwerk durchführen. Ich wäre nicht von allein auf die Idee gekommen, eine Fahrt ins mehrere tausend Kilometer entfernte Samarkand zu planen. Dieses Ziel ist durch Zufall konkret geworden, weil irgendwer im fernen Usbekistan irgendjemanden kennen gelernt hat, der ohne weiteres nachfragen würde, ob sich nicht irgendwo, sagen wir mal, in Samarkand, ein Quartier auftreiben ließe, um den Wissensdurst junger, kulturhungriger Jugendlicher zu stillen. Besonders die Wirtschaftsleute, die im Lande ständig unterwegs sind und ihrerseits auf ein Netzwerk angewiesen sind, in diesem Fall aus ökonomischen Gründen, sind wertvolle Tippgeber. Sie tun nicht nur den Schülerinnen und Schülern und der Schule insgesamt etwas Gutes, sondern können durch ihre Initiativen ihre Beziehungen festigen oder ausbauen.

Auf so einem Weg bin ich auf das exotische Reiseziel Samarkand gelenkt worden. Dieser Traum ist nun wegen der politischen Situation geplatzt. Zwei neue mögliche Orte rücken in den Fokus: Tallinn, wenn sich die Lage beruhigt, und Naltschik. Das sei eine Stadt irgendwo im Kaukasus, sagt man mir. Ich breite mein Kartenmaterial vor mir aus und sehe, sie ist die Hauptstadt der russischen Teilrepublik Kabardino-Balkarien, die östlich an die Teilrepublik Inguschetien grenzt. Östlich davon liegt die Teilrepublik Tschetschenien. Tallinn ist meine erste Wahl.

Sommerwege heißen die meist zweispurigen, kleineren Straßen, die, durch Grünstreifen abgetrennt, parallel zu den Boulevards verlaufen. Sie dienen den Lieferanten zum Be- und Entladen, Kunden, die kurz etwas einkaufen wollen, und vor allem den Bussen des Nahverkehrs. Sommerwege sind Einbahnstraßen.

Igor holt uns vom Sportunterricht aus der anglo-amerikanischen Schule ab. Es schneit zwar nicht, aber es herrscht immer noch tiefer Winter. Auf kleineren Straßen erschwert eine dicke Eisdecke das Fahren. Igor hat Schwierigkeiten, von der Stichstraße in den Sommerweg einzubiegen, weil ein leerer blau-weißer Stadtomnibus die Straße blockiert; da kann er rangieren, so viel er will, er kommt an dem Bus nicht vorbei. Deshalb hupt er. Igor ist ein besonnener Mensch. Natürlich weiß er , dass dies wenig Sinn macht, wenn vom Fahrer weit und breit keine Spur zu sehen ist. Auch das Hupkonzert aus der anwachsenden Fahrzeugschlange hinter uns führt nicht zur Lösung des Problems. Igor steigt aus. Wahrscheinlich sucht er den Fahrer. Wenige Minuten später tut sich was. Ruckartig vorwärts hoppelnd bewegt sich das Hindernis von der Stelle, bis es sich ungefähr zwanzig Meter vor uns am rechten Straßenrand in einen hoch aufgetürmten, vereisten Schneeberg verkeilt und zum Stand kommt. Es öffnet sich die Tür auf der Fahrerseite, und Igor steigt aus. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck nähert er sich seinem eigenen Bus. Als er zu uns einsteigt, jubelt die Menge. Igor ist bescheiden. Er nickt mit leichtem Schmunzeln in die Runde. Sein Gesicht strahlt Genugtuung aus. Als ich ihn später frage, wie er das geschafft hat, zieht er die Schultern leicht hoch und sagt: „Kein Problem.“ Mehr kann ich ihm nicht entlocken.

Auf unserem Hausflur gibt es Eingänge zu vier Wohnungen, den von Frau Bach direkt gegenüber von unserem, den von Herrn Packbier und einen weiteren Eingang zu einer Wohnung, deren Mieter wir nie zu Gesicht bekommen haben. Namensschilder sind im ganzen Land sowieso nicht üblich. Dass sie unbewohnt ist, das wissen wir definitiv seit heute. Wenn zwei leere Wohnungen auf derselben Etage liegen, dann kann es schon mal passieren, dass Handwerker aus Versehen in die Wohnung geraten, die laut Plan noch gar nicht zur Renovierung auf dem Zettel steht. Genau das ist heute geschehen. Da nach etlichen Tagen reger Aktivitäten heute Funkstille in unserer Nachbarwohnung herrscht, wir aber dennoch aus dem hinteren Trakt des Flures Geröter und Stimmen vernehmen, schleichen wir uns hinaus, um zu lokalisieren, woher diese Geräusche stammen. Sie stammen aus der besagten leeren Wohnung. Da öffnet sich die Tür, und einer unserer freundlichen Handwerker, die wir mit Wodka und Marlboro bei der Stange gehalten haben, spaziert heraus und nickt uns zu. Wir wollen ja nicht ungeduldig erscheinen, fragen aber trotzdem ein wenig provokativ, ob unsere Wohnung schon fertig sei. Die Antwort kann nur nein lauten, weil der Durchbruch noch fehlt. Das werde sich schon regeln, ist die geschäftsmäßige Antwort.

Wir rufen Herrn Ost an, den Mann unserer Schulsekretärin. Er ist der amtliche Ansprechpartner in der Botschaft für Wohnungsvergabe und Renovierung. Kann es sein, dass die gleichen Handwerker, die unsere Wohnung renovieren sollen, zwischenzeitlich die Wohnung gegenüber vorziehen müssen? Er ruft wenig später zurück. Für die Wohnung nebenan gebe es weder einen Arbeitsauftrag noch einen Schlüssel. „Ich mache Dampf beim UPDK“, stimmt er uns optimistisch. Gute Idee!

Am Samstagabend kommt über die Telefonkette der Botschaft der Rat, am Sonntag die Innenstadt unbedingt zu meiden. Wir haben gehört, dass eine Anti-Gorbatschow-Demonstration geplant sei als Reaktion auf eine Großveranstaltung, die Gorbatschow-Anhänger für den Sonntag vor dem Außenministerium angemeldet hatten, um für mehr Demokratie und schnellere Reformen zu demonstrieren. Außerdem wollen Pamjat-Anhänger vor dem Weißen Haus, dem Gebäude der russischen Föderationsregierung, auflaufen. Miliz und Militär, darunter auch bewaffnete Einsatzkräfte, befänden sich in höchster Alarmbereitschaft, sagt man uns.

Wir haben keinerlei Bedürfnis, in die Stadt zu fahren. Wir sind ziemlich angespannt. Natürlich machen wir uns Sorgen, dass die Lage eskalieren könnte.

Am Sonntagvormittag ruft Michael an. Er bringt uns auf den aktuellen Stand der Lage. Das, was er uns mitteilt, sollen wir per Rundruf weitergeben: Aus dem Umland sind Militärkolonnen unterwegs nach Moskau, der gesamte Polizeiapparat ist in Alarmbereitschaft, die Stadtkrankenhäuser sind von leichteren Fällen geräumt, Ärzte und Personal zu Notdiensten verpflichtet worden. Ich krame den bereits aussortierten Weltempfänger wieder aus der LAGER-Kiste hervor und höre um 14 Uhr die Nachrichten der Deutschen Welle. Der Sprecher bestätigt im Grunde die Informationen, die wir erhalten haben. 35 000 Menschen seien momentan in Moskau auf den Beinen, sagt der Sprecher; in anderen Großstädten des Landes seien ähnliche Demonstrationen für mehr Demokratie geplant, überall seien höchste Sicherheitsmaßnahmen ergriffen worden. Wir fragen uns, wie sich wohl die Polizei und das Militär im Falle einer Auseinandersetzung verhalten würden.

In den 20-Uhr-Nachrichten dann die Entwarnung: 500 000 Menschen haben für Reformen und die Perestroika demonstriert. Alles ist friedlich verlaufen, auch nach dem Ende der Kundgebungen. Die Sicherheitskräfte blieben im Hintergrund. Das muss gefeiert werden! Den Weltempfänger stelle ich griffbereit ins Regal auf der Diele.

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