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TÜV - unbekannt

16. Oktober – 22. Oktober 1989

Die Deutsche Schule Moskau – Friedrich-Joseph-Haass wurde 1956 gegründet, nachdem Deutschland und die Sowjetunion diplomatische Beziehungen aufgenommen hatten. Sie ist bis heute eine Botschaftsschule, die von einem privaten Schulverein getragen wird, das heißt, die Eltern, weitgehend Botschaftsangehörige, Firmenvertreter und Journalisten, zahlen für ihre Kinder Schulgeld. Ungefähr 130 Schülerinnen und Schüler von Klasse 1 bis Klasse 10 besuchen zurzeit die Schule; fast ein Drittel der Kinder kommt aus dem Ausland: aus Österreich und der Schweiz, aus Finnland, Schweden, Portugal, Italien, Jugoslawien, Griechenland und den Niederlanden. Einige der nichtdeutschen Eltern haben über ihre beruflichen Tätigkeiten einen Bezug zu Deutschland und schicken ihre Kinder deshalb zu uns, andere Eltern wiederum versuchen, ihre Kinder an einer der zahlreichen ausländischen Schulen in Moskau unterzubringen und haben schließlich bei uns Erfolg. So kommt es auch, dass bei unseren Sportveranstaltungen eigentlich immer multinationale Teams gegeneinander antreten. Die DDR betreibt auf dem Gelände ihres Compounds eine eigene Schule. Dort unterrichten nach unseren Informationen 80 Lehrkräfte die etwa 800 Schülerinnen und Schüler. Eine Begegnung hat es seit Bestehen zwischen den beiden deutschen Schulen nie gegeben. Die DDR hat ein Kontaktverbot angeordnet.

Unterrichtet wird bei uns nach den Lehrplänen Nordrhein-Westfalens, ab der Sekundarstufe I gymnasial. Russisch ist für alle Klassenstufen Pflichtfach und wird, außer von Piroschka, von zwei einheimischen Lehrerinnen, ausgewählt vom UPDK, gelehrt.

An die Schule konnte seit Jahren keine hauptamtliche Sportlehrkraft mehr vermittelt werden. So wurde über Jahre hinweg improvisiert. Außer mir gibt es noch Jurij, einen durchtrainierten, schon etwas angegrauten Russen, der stundenweise Sport unterrichtet, jedoch keine pädagogische Ausbildung besitzt. Meine Aufgabe solle es sein, wie mir Herr Knötzsch schon lange vor unserer Ankunft mitteilte, den brach liegenden Sportunterricht auf Vordermann zu bringen. Außerdem sollte ich mich von Deutschland aus so rechtzeitig um ein neues Lehrwerk für den Deutschunterricht kümmern, dass man dieses bei meinem Start schon einführen könne. Darüber hinaus müsse man als Alternative zu Religion auch Ethik als Fach einführen. Das solle ich übernehmen.

Eine Etage über uns ist übrigens eine russische Schule untergebracht. Eigentlich muss man es anders formulieren: Die Behörden haben es genehmigt, dass unsere Schule im ersten Stockwerk unterkommen konnte. Es gibt für die beiden Schulen getrennte Eingänge, keinen gemeinsamen Hof, auch keine Verbindungstüren, und erst recht keinerlei zwischenmenschliche Kontakte. Die sind strikt untersagt. Im Erdgeschoss befindet sich eine Volksküche, deren Eingang nur über den Hinterhof zu erreichen ist.

Bei schlechtem Wetter dürfen die Kinder sich auf dem engen, dielenartigen Flur aufhalten, den manche euphemistisch auch Pausenhalle nennen. Das bedeutet, dass sie praktisch das ganze Winterhalbjahr dort herumtollen und einen Höllenlärm veranstalten. Der deutsche TÜV hätte diesen Aufenthaltsraum längst mit rot-weißgestreiften Baubändchen vorübergehend abgesperrt und bei den sowjetischen Behörden einen sofortigen Remont beantragt. Wacklige Steckdosen, die teils nur noch an einem seidenen Faden hängen und andauernd wieder in die für sie vorgesehenen Wandaussparungen gedrückt werden müssen, um vorübergehend minimale Sicherheit zu schaffen, bedrohlich von der Decke sich allmählich lösende Neonröhren, einige davon seit Monaten im eingeschalteten Zustand nur noch vor sich hin zuckend, schwere Rippenheizkörper, die schon bei flüchtiger Berührung wegen ihrer losen Wandverankerungen zu vibrieren beginnen und ein Gewirr von über Putz verlegten Leitungen sind einige der Gefahrenpunkte, die man beizeiten beseitigen müsste. In den Klassenräumen kommen noch die maroden Waschbecken dazu. Und die Toiletten? Öffentliche Toiletten sind ein Problemfall für sich, und zwar im gesamten Land. Es gibt Wasserhähne, aus denen seit Jahren unaufhörlich Wasser fließt, weil sie sich keinen Deut mehr regulieren lassen. Für Klospülungen gilt Ähnliches. Sie laufen Tag und Nacht, weil die Schwimmer defekt sind. Manchmal läuft aber nicht einmal die Spülung. Es tut sich gar nichts, oft wochenlang. Und das ist noch schlimmer.

Nichts von alledem hat auch nur ansatzweise negative Auswirkungen auf das großartige Arbeitsklima und die fast familiäre Gesamtatmosphäre.

Privatschulen haben viel mehr Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten. Bei uns wurde zum Beispiel folgende Regelung eingeführt:

Bei sowjetischen Feiertagen, die auf Dienstag oder Donnerstag fallen, wird der Montags- bzw. Freitagsunterricht auf den Samstag in der Woche vor oder der Woche nach dem Feiertag verlegt. So kommt man in den Genuss eines langen Wochenendes.

In der UdSSR ist offiziell diese Regel in Kraft:

Fallen Feiertage oder Gedenktage auf einen Samstag oder Sonntag, so wird der verloren gegangene freie Tag am darauf folgenden Montag nachgeholt.

Unsere Schulsekretärin heißt übrigens Frau Ost. Wenn das Telefon im Sekretariat klingelt, meldet sie sich so: „Deutsche Schule West, Ost.“

Am 18. Oktober sind Annika und Ingmar im Nebenhaus bei Edda zur Geburtstagsfeier eingeladen. Dort kriegen sie mit, wie die Eltern telefonisch die Nachricht erhalten, dass soeben Erich Honecker zurückgetreten sei. Zum Nachfolger habe man Honeckers Kronprinz Krenz gekürt. Die Familie habe vor Freude gejubelt. Wahrscheinlich ging die Party dort erst nach Eddas Geburtstagsfest richtig los. Jetzt wird es ernst. Wie steht Egon Krenz zu Reformen, zur deutschen Frage, zur Flüchtlingsproblematik? Allein seit August haben über 30 000 Menschen die DDR verlassen.

Frau Hagedorn, deren Töchter auf unsere Schule gehen, hat uns zu ihrem Geburtstag eingeladen. Die Hagedorns wohnen im Deutschen Haus in der Nabereschnaja Tschewtschenko an der Moskwa, unweit des Hotels Ukraina. In diesem Gebäude aus der Stalinzeit wohnen nur Ausländer; es gehört aber nicht zu einem Compound. Deutsche Zwangsarbeiter mussten dieses Bauwerk errichten. Deswegen heißt es bis heute Deutsches Haus.

Als wir die siebte Etage erreicht haben, weicht das altertümliche Scherengitter des Fahrstuhls mühsam zur Seite, so dass wir den engen Käfig verlassen können. Die große Wohnung mit einer Deckenhöhe von drei bis vier Metern ist schon gerammelt voll, die Versorgungslage vorzüglich. Wie auf jedem Fest gibt es auch hier mindestens einen Gast, der seine Auslandserfahrungen ausführlich preisgibt. Diesmal erzählt jemand Geschichten aus Albanien. Die möchte man nicht missen, denn wo bekommt schon man Informationen aus erster Hand über ein derart von der Welt abgeschottetes Land wie Albanien. Er habe dort die deutsche Botschaft mit aufgebaut. Es gebe dort weder Privatautos noch Auslandsschulden, dafür aber jede Menge Stalinporträts in der Öffentlichkeit. Eine Konsumhaltung wie im Westen sei dort, wer hätte das gedacht, gänzlich unbekannt. Man habe das Gefühl, das Land befinde sich noch im Stadium des Mittelalters trotz eines staatlich gesicherten, wenn auch niedrigen Lebensstandards. Dann berichtet er von zwei rekordsüchtigen jungen Franzosen, die über die Adria nach Albanien geschnorchelt seien. Als sie vor der albanischen Küste auftauchten, hätten die Grenzer sie erschossen. Aber die Gastfreundschaft: unübertroffen!

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